Grundlegung

               
 
zur
 
 

Metaphysik der Sitten

 
 
von
 
 

Immanuel Kant.

 

 

 

   Kant's Schriften. Werke. IV.

 

Inhaltsverzeichnis

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Vorrede · 1903 Preussische Akademie Auflage
 

Vorrede.

 
     Die alte griechische Philosophie theilte sich in drei Wissenschaften ab: 
Die Physik, die Ethik und die Logik. Diese Eintheilung ist der Natur 
der Sache vollkommen angemessen, und man hat an ihr nichts zu ver- 
 [5]  bessern, als etwa nur das Princip derselben hinzu zu thun, um sich auf 
solche Art theils ihrer Vollständigkeit zu versichern, theils die nothwen- 
digen Unterabtheilungen richtig bestimmen zu können. 
     Alle Vernunfterkenntniß ist entweder material und betrachtet irgend 
ein Object; oder formal und beschäftigt sich bloß mit der Form des Ver- 
 [10]  standes und der Vernunft selbst und den allgemeinen Regeln des Denkens 
überhaupt ohne Unterschied der Objecte. Die formale Philosophie heißt 
Logik, die materiale aber, welche es mit bestimmten Gegenständen und 
den Gesetzen zu thun hat, denen sie unterworfen sind, ist wiederum zwie- 
fach. Denn diese Gesetze sind entweder Gesetze der Natur, oder der Frei- 
 [15]  heit. Die Wissenschaft von der ersten heißt Physik, die der andern ist 
Ethik; jene wird auch Naturlehre, diese Sittenlehre genannt. 
     Die Logik kann keinen empirischen Theil haben, d. i. einen solchen, 
da die allgemeinen und nothwendigen Gesetze des Denkens auf Gründen 
beruhten, die von der Erfahrung hergenommen wären; denn sonst wäre 
 [20]  sie nicht Logik, d. i. ein Kanon für den Verstand oder die Vernunft, der 
bei allem Denken gilt und demonstrirt werden muß. Dagegen können so- 
wohl die natürliche, als sittliche Weltweisheit jede ihren empirischen Theil 
haben, weil jene der Natur als einem Gegenstande der Erfahrung, diese 
aber dem Willen des Menschen, so fern er durch die Natur afficirt wird, 
 [25]  ihre Gesetze bestimmen muß, die erstern zwar als Gesetze, nach denen alles 
 
 
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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Vorrede · 1903 Preussische Akademie Auflage
 
geschieht, die zweiten als solche, nach denen alles geschehen soll, aber doch 
auch mit Erwägung der Bedingungen, unter denen es öfters nicht ge- 
schieht. 
     Man kann alle Philosophie, so fern sie sich auf Gründe der Erfah- 
 [5]  rung fußt, empirische, die aber, so lediglich aus Principien a priori ihre 
Lehren vorträgt, reine Philosophie nennen. Die letztere, wenn sie bloß 
formal ist, heißt Logik; ist sie aber auf bestimmte Gegenstände des Ver- 
standes eingeschränkt, so heißt sie Metaphysik. 
     Auf solche Weise entspringt die Idee einer zwiefachen Metaphysik, 
 [10]  einer Metaphysik der Natur und einer Metaphysik der Sitten. 
Die Physik wird also ihren empirischen, aber auch einen rationalen Theil 
haben; die Ethik gleichfalls, wiewohl hier der empirische Theil besonders 
praktische Anthropologie, der rationale aber eigentlich Moral heißen 
könnte. 
 [15]       Alle Gewerbe, Handwerke und Künste haben durch die Vertheilung 
der Arbeiten gewonnen, da nämlich nicht einer alles macht, sondern jeder 
sich auf gewisse Arbeit, die sich ihrer Behandlungsweise nach von andern 
merklich unterscheidet, einschränkt, um sie in der größten Vollkommenheit 
und mit mehrerer Leichtigkeit leisten zu können. Wo die Arbeiten so nicht 
 [20]  unterschieden und vertheilt werden, wo jeder ein Tausendkünstler ist, da 
liegen die Gewerbe noch in der größten Barbarei. Aber ob dieses zwar 
für sich ein der Erwägung nicht unwürdiges Object wäre, zu fragen: ob 
die reine Philosophie in allen ihren Theilen nicht ihren besondern Mann 
erheische, und es um das Ganze des gelehrten Gewerbes nicht besser stehen 
 [25]  würde, wenn die, so das Empirische mit dem Rationalen dem Geschmacke 
des Publicums gemäß nach allerlei ihnen selbst unbekannten Verhältnissen 
gemischt zu verkaufen gewohnt sind, die sich Selbstdenker, andere aber, die 
den bloß rationalen Theil zubereiten, Grübler nennen, gewarnt würden, 
nicht zwei Geschäfte zugleich zu treiben, die in der Art, sie zu behandeln, 
 [30]  gar sehr verschieden sind, zu deren jedem vielleicht ein besonderes Talent 
erfordert wird, und deren Verbindung in einer Person nur Stümper her- 
vorbringt: so frage ich hier doch nur, ob nicht die Natur der Wissenschaft 
es erfordere, den empirischen von dem rationalen Theil jederzeit sorgfältig 
abzusondern und vor der eigentlichen (empirischen) Physik eine Metaphysik 
 [35]  der Natur, vor der praktischen Anthropologie aber eine Metaphysik der 
Sitten voranzuschicken, die von allem Empirischen sorgfältig gesäubert 
sein müßten, um zu wissen, wie viel reine Vernunft in beiden Fällen leisten 
 
 
388 [iv-vii]
         

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könne, und aus welchen Quellen sie selbst diese ihre Belehrung a priori 
schöpfe, es mag übrigens das letztere Geschäfte von allen Sittenlehrern 
(deren Namen Legion heißt) oder nur von einigen, die Beruf dazu fühlen, 
getrieben werden. 
 [5]       Da meine Absicht hier eigentlich auf die sittliche Weltweisheit ge- 
richtet ist, so schränke ich die vorgelegte Frage nur darauf ein: ob man 
nicht meine, daß es von der äußersten Nothwendigkeit sei, einmal eine 
reine Moralphilosophie zu bearbeiten, die von allem, was nur empirisch 
sein mag und zur Anthropologie gehört, völlig gesäubert wäre; denn daß 
 [10]  es eine solche geben müsse, leuchtet von selbst aus der gemeinen Idee der 
Pflicht und der sittlichen Gesetze ein. Jedermann muß eingestehen, daß 
ein Gesetz, wenn es moralisch, d. i. als Grund einer Verbindlichkeit, gelten 
soll, absolute Nothwendigkeit bei sich führen müsse; daß das Gebot: du 
sollst nicht lügen, nicht etwa bloß für Menschen gelte, andere vernünftige 
 [15]  Wesen sich aber daran nicht zu kehren hätten, und so alle übrige eigentliche 
Sittengesetze; daß mithin der Grund der Verbindlichkeit hier nicht in der 
Natur des Menschen, oder den Umständen in der Welt, darin er gesetzt ist, 
gesucht werden müsse, sondern a priori lediglich in Begriffen der reinen 
Vernunft, und daß jede andere Vorschrift, die sich auf Principien der 
 [20]  bloßen Erfahrung gründet, und sogar eine in gewissem Betracht allge- 
meine Vorschrift, so fern sie sich dem mindesten Theile, vielleicht nur einem 
Bewegungsgrunde nach auf empirische Gründe stützt, zwar eine praktische 
Regel, niemals aber ein moralisches Gesetz heißen kann. 
     Also unterscheiden sich die moralischen Gesetze sammt ihren Principien 
 [25]  unter allem praktischen Erkenntnisse von allem übrigen, darin irgend etwas 
Empirisches ist, nicht allein wesentlich, sondern alle Moralphilosophie be- 
ruht gänzlich auf ihrem reinen Theil, und auf den Menschen angewandt, 
entlehnt sie nicht das mindeste von der Kenntniß desselben (Anthropolo- 
gie), sondern giebt ihm, als vernünftigem Wesen, Gesetze a priori, die frei- 
 [30]  lich noch durch Erfahrung geschärfte Urtheilskraft erfordern, um theils zu 
unterscheiden, in welchen Fällen sie ihre Anwendung haben, theils ihnen 
Eingang in den Willen des Menschen und Nachdruck zur Ausübung zu 
verschaffen, da dieser, als selbst mit so viel Neigungen afficirt, der Idee 
einer praktischen reinen Vernunft zwar fähig, aber nicht so leicht vermö- 
 [35]  gend ist, sie in seinem Lebenswandel in concreto wirksam zu machen. 
     Eine Metaphysik der Sitten ist also unentbehrlich nothwendig, nicht 
bloß aus einem Bewegungsgrunde der Speculation, um die Quelle der a 
 
 
389 [vii-ix]
         

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priori in unserer Vernunft liegenden praktischen Grundsätze zu erforschen, 
sondern weil die Sitten selber allerlei Verderbniß unterworfen bleiben, so 
lange jener Leitfaden und oberste Norm ihrer richtigen Beurtheilung fehlt. 
Denn bei dem, was moralisch gut sein soll, ist es nicht genug, daß es dem 
 [5]  sittlichen Gesetze gemäß sei, sondern es muß auch um desselben willen 
geschehen; widrigenfalls ist jene Gemäßheit nur sehr zufällig und mißlich, 
weil der unsittliche Grund zwar dann und wann gesetzmäßige, mehrmals 
aber gesetzwidrige Handlungen hervorbringen wird. Nun ist aber das sitt- 
liche Gesetz in seiner Reinigkeit und Ächtheit (woran eben im Praktischen 
 [10]  am meisten gelegen ist) nirgend anders, als in einer reinen Philosophie 
zu suchen, also muß diese (Metaphysik) vorangehen, und ohne sie kann es 
überall keine Moralphilosophie geben; selbst verdient diejenige, welche jene 
reine Principien unter die empirischen mischt, den Namen einer Philoso- 
phie nicht (denn dadurch unterscheidet diese sich eben von der gemeinen 
 [15]  Vernunfterkenntniß, daß sie, was diese nur vermengt begreift, in abgeson- 
derter Wissenschaft vorträgt), viel weniger einer Moralphilosophie, weil 
sie eben durch diese Vermengung sogar der Reinigkeit der Sitten selbst 
Abbruch thut und ihrem eigenen Zwecke zuwider verfährt. 
     Man denke doch ja nicht, daß man das, was hier gefordert wird, schon 
 [20]  an der Propädeutik des berühmten Wolff vor seiner Moralphilosophie, 
nämlich der von ihm so genannten allgemeinen praktischen Welt- 
weisheit, habe, und hier also nicht eben ein ganz neues Feld einzuschla- 
gen sei. Eben darum, weil sie eine allgemeine praktische Weltweisheit sein 
sollte, hat sie keinen Willen von irgend einer besondern Art, etwa einen 
 [25]  solchen, der ohne alle empirische Bewegungsgründe, völlig aus Principien 
a priori bestimmt werde, und den man einen reinen Willen nennen könnte, 
sondern das Wollen überhaupt in Betrachtung gezogen mit allen Hand- 
lungen und Bedingungen, die ihm in dieser allgemeinen Bedeutung zu- 
kommen, und dadurch unterscheidet sie sich von einer Metaphysik der Sitten, 
 [30]  eben so wie die allgemeine Logik von der Transscendentalphilosophie, von 
denen die erstere die Handlungen und Regeln des Denkens überhaupt, 
diese aber bloß die besondern Handlungen und Regeln des reinen Den- 
kens, d. i. desjenigen, wodurch Gegenstände völlig a priori erkannt werden, 
vorträgt. Denn die Metaphysik der Sitten soll die Idee und die Princi- 
 [35]  pien eines möglichen reinen Willens untersuchen und nicht die Handlun- 
gen und Bedingungen des menschlichen Wollens überhaupt, welche größ- 
tentheils aus der Psychologie geschöpft werden. Daß in der allgemeinen 
 
 
390 [ix-xii]
         

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praktischen Weltweisheit (wiewohl wider alle Befugniß) auch von mora- 
lischen Gesetzen und Pflicht geredet wird, macht keinen Einwurf wider 
meine Behauptung aus. Denn die Verfasser jener Wissenschaft bleiben 
ihrer Idee von derselben auch hierin treu; sie unterscheiden nicht die Be- 
 [5]  wegungsgründe, die als solche völlig a priori bloß durch Vernunft vorge- 
stellt werden und eigentlich moralisch sind, von den empirischen, die der 
Verstand bloß durch Vergleichung der Erfahrungen zu allgemeinen Be- 
griffen erhebt, sondern betrachten sie, ohne auf den Unterschied ihrer Quel- 
len zu achten, nur nach der größeren oder kleineren Summe derselben (in- 
 [10]  dem sie alle als gleichartig angesehen werden) und machen sich dadurch 
ihren Begriff von Verbindlichkeit, der freilich nichts weniger als mo- 
ralisch, aber doch so beschaffen ist, als es in einer Philosophie, die über 
den Ursprung aller möglichen praktischen Begriffe, ob sie auch a priori 
oder bloß a posteriori stattfinden, gar nicht urtheilt, nur verlangt werden 
 [15]  kann. 
     Im Vorsatze nun, eine Metaphysik der Sitten dereinst zu liefern, 
lasse ich diese Grundlegung vorangehen. Zwar giebt es eigentlich keine 
andere Grundlage derselben, als die Kritik einer reinen praktischen 
Vernunft, so wie zur Metaphysik die schon gelieferte Kritik der reinen 
 [20]  speculativen Vernunft. Allein theils ist jene nicht von so äußerster Noth- 
wendigkeit als diese, weil die menschliche Vernunft im Moralischen selbst 
beim gemeinsten Verstande leicht zu großer Richtigkeit und Ausführlich- 
keit gebracht werden kann, da sie hingegen im theoretischen, aber reinen 
Gebrauch ganz und gar dialektisch ist: theils erfordere ich zur Kritik einer 
 [25]  reinen praktischen Vernunft, daß, wenn sie vollendet sein soll, ihre Einheit 
mit der speculativen in einem gemeinschaftlichen Princip zugleich müsse 
dargestellt werden können, weil es doch am Ende nur eine und dieselbe 
Vernunft sein kann, die bloß in der Anwendung unterschieden sein muß. 
Zu einer solchen Vollständigkeit konnte ich es aber hier noch nicht bringen, 
 [30]  ohne Betrachtungen von ganz anderer Art herbeizuziehen und den Leser 
zu verwirren. Um deswillen habe ich mich statt der Benennung einer 
Kritik der reinen praktischen Vernunft der von einer Grundle- 
gung zur Metaphysik der Sitten bedient. 
     Weil aber drittens auch eine Metaphysik der Sitten ungeachtet des 
 [35]  abschreckenden Titels dennoch eines großen Grades der Popularität und 
Angemessenheit zum gemeinen Verstande fähig ist, so finde ich für nütz- 
lich, diese Vorarbeitung der Grundlage davon abzusondern, um das Sub- 
 
 
391 [xii-xiv]
         

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tile, was darin unvermeidlich ist, künftig nicht faßlichern Lehren beifügen 
zu dürfen. 
     Gegenwärtige Grundlegung ist aber nichts mehr, als die Aufsuchung 
und Festsetzung des obersten Princips der Moralität, welche allein 
 [5]  ein in seiner Absicht ganzes und von aller anderen sittlichen Untersuchung 
abzusonderndes Geschäfte ausmacht. Zwar würden meine Behauptungen 
über diese wichtige und bisher bei weitem noch nicht zur Gnugthuung er- 
örterte Hauptfrage durch Anwendung desselben Princips auf das ganze 
System viel Licht und durch die Zulänglichkeit, die es allenthalben blicken 
 [10]  läßt, große Bestätigung erhalten: allein ich mußte mich dieses Vortheils 
begeben, der auch im Grunde mehr eigenliebig, als gemeinnützig sein 
würde, weil die Leichtigkeit im Gebrauche und die scheinbare Zulänglich- 
keit eines Princips keinen ganz sicheren Beweis von der Richtigkeit des- 
selben abgiebt, vielmehr eine gewisse Parteilichkeit erweckt, es nicht für 
 [15]  sich selbst, ohne alle Rücksicht auf die Folge, nach aller Strenge zu unter- 
suchen und zu wägen. 
     Ich habe meine Methode in dieser Schrift so genommen, wie ich 
glaube, daß sie die schicklichste sei, wenn man vom gemeinen Erkenntnisse 
zur Bestimmung des obersten Princips desselben analytisch und wiederum 
 [20]  zurück von der Prüfung dieses Princips und den Quellen desselben zur 
gemeinen Erkenntniß, darin sein Gebrauch angetroffen wird, synthetisch 
den Weg nehmen will. Die Eintheilung ist daher so ausgefallen: 
     1. Erster Abschnitt: Übergang von der gemeinen sittlichen Ver- 
        nunfterkenntniß zur philosophischen. 
 [25]       2. Zweiter Abschnitt: Übergang von der populären Moralphilo- 
        sophie zur Metaphysik der Sitten. 
     3. Dritter Abschnitt: Letzter Schritt von der Metaphysik der Sit- 
        ten zur Kritik der reinen praktischen Vernunft. 
 
 

  
 
 
392 [xiv-xvi]
         

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Erster Abschnitt.

 
Übergang 
von der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntniß 
zur philosophischen.

 
 [5]       Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben 
zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten wer- 
den, als allein ein guter Wille. Verstand, Witz, Urtheilskraft und wie 
die Talente des Geistes sonst heißen mögen, oder Muth, Entschlossen- 
heit, Beharrlichkeit im Vorsatze als Eigenschaften des Temperaments 
 [10]  sind ohne Zweifel in mancher Absicht gut und wünschenswerth; aber sie 
können auch äußerst böse und schädlich werden, wenn der Wille, der von 
diesen Naturgaben Gebrauch machen soll und dessen eigenthümliche Be- 
schaffenheit darum Charakter heißt, nicht gut ist. Mit den Glücksga- 
ben ist es eben so bewandt. Macht, Reichthum, Ehre, selbst Gesundheit 
 [15]  und das ganze Wohlbefinden und Zufriedenheit mit seinem Zustande un- 
ter dem Namen der Glückseligkeit machen Muth und hiedurch öfters 
auch Übermuth, wo nicht ein guter Wille da ist, der den Einfluß derselben 
aufs Gemüth und hiemit auch das ganze Princip zu handeln berichtige 
und allgemein-zweckmäßig mache; ohne zu erwähnen, daß ein vernünfti- 
 [20]  ger unparteiischer Zuschauer sogar am Anblicke eines ununterbrochenen 
Wohlergehens eines Wesens, das kein Zug eines reinen und guten Wil- 
lens ziert, nimmermehr ein Wohlgefallen haben kann, und so der gute 
Wille die unerlaßliche Bedingung selbst der Würdigkeit glücklich zu sein 
auszumachen scheint. 
 [25]       Einige Eigenschaften sind sogar diesem guten Willen selbst beförder- 
lich und können sein Werk sehr erleichtern, haben aber dem ungeachtet kei- 
 
 
393 [1-2]
         

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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Erster Abschnitt · 1903 Preussische Akademie Auflage
 
nen innern unbedingten Werth, sondern setzen immer noch einen guten 
Willen voraus, der die Hochschätzung, die man übrigens mit Recht für sie 
trägt, einschränkt und es nicht erlaubt, sie für schlechthin gut zu halten. 
Mäßigung in Affecten und Leidenschaften, Selbstbeherrschung und nüch- 
 [5]  terne Überlegung sind nicht allein in vielerlei Absicht gut, sondern scheinen 
sogar einen Theil vom innern Werthe der Person auszumachen; allein 
es fehlt viel daran, um sie ohne Einschränkung für gut zu erklären (so un- 
bedingt sie auch von den Alten gepriesen worden). Denn ohne Grundsätze 
eines guten Willens können sie höchst böse werden, und das kalte Blut 
 [10]  eines Bösewichts macht ihn nicht allein weit gefährlicher, sondern auch un- 
mittelbar in unsern Augen noch verabscheuungswürdiger, als er ohne die- 
ses dafür würde gehalten werden. 
     Der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt oder ausrichtet, 
nicht durch seine Tauglichkeit zu Erreichung irgend eines vorgesetzten 
 [15]  Zweckes, sondern allein durch das Wollen, d. i. an sich, gut und, für sich 
selbst betrachtet, ohne Vergleich weit höher zu schätzen als alles, was durch 
ihn zu Gunsten irgend einer Neigung, ja wenn man will, der Summe 
aller Neigungen nur immer zu Stande gebracht werden könnte. Wenn 
gleich durch eine besondere Ungunst des Schicksals, oder durch kärgliche 
 [20]  Ausstattung einer stiefmütterlichen Natur es diesem Willen gänzlich an 
Vermögen fehlte, seine Absicht durchzusetzen; wenn bei seiner größten Be- 
strebung dennoch nichts von ihm ausgerichtet würde, und nur der gute 
Wille (freilich nicht etwa als ein bloßer Wunsch, sondern als die Auf- 
bietung aller Mittel, so weit sie in unserer Gewalt sind) übrig bliebe: so 
 [25]  würde er wie ein Juwel doch für sich selbst glänzen, als etwas, das seinen 
vollen Werth in sich selbst hat. Die Nützlichkeit oder Fruchtlosigkeit kann 
diesem Werthe weder etwas zusetzen, noch abnehmen. Sie würde gleich- 
sam nur die Einfassung sein, um ihn im gemeinen Verkehr besser hand- 
haben zu können, oder die Aufmerksamkeit derer, die noch nicht gnug Ken- 
 [30]  ner sind, auf sich zu ziehen, nicht aber um ihn Kennern zu empfehlen und 
seinen Werth zu bestimmen. 
     Es liegt gleichwohl in dieser Idee von dem absoluten Werthe des 
bloßen Willens, ohne einigen Nutzen bei Schätzung desselben in Anschlag 
zu bringen, etwas so Befremdliches, daß unerachtet aller Einstimmung 
 [35]  selbst der gemeinen Vernunft mit derselben dennoch ein Verdacht entsprin- 
gen muß, daß vielleicht bloß hochfliegende Phantasterei ingeheim zum 
Grunde liege, und die Natur in ihrer Absicht, warum sie unserm Willen 
 
 
394 [2-4]
         

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Vernunft zur Regiererin beigelegt habe, falsch verstanden sein möge. Da- 
her wollen wir diese Idee aus diesem Gesichtspunkte auf die Prüfung 
stellen. 
     In den Naturanlagen eines organisirten, d. i. zweckmäßig zum Leben 
 [5]  eingerichteten, Wesens nehmen wir es als Grundsatz an, daß kein Werk- 
zeug zu irgend einem Zwecke in demselben angetroffen werde, als was auch 
zu demselben das schicklichste und ihm am meisten angemessen ist. Wäre 
nun an einem Wesen, das Vernunft und einen Willen hat, seine Erhal- 
tung, sein Wohlergehen, mit einem Worte seine Glückseligkeit, der 
 [10]  eigentliche Zweck der Natur, so hätte sie ihre Veranstaltung dazu sehr 
schlecht getroffen, sich die Vernunft des Geschöpfs zur Ausrichterin dieser 
ihrer Absicht zu ersehen. Denn alle Handlungen, die es in dieser Absicht 
auszuüben hat, und die ganze Regel seines Verhaltens würden ihm weit 
genauer durch Instinct vorgezeichnet und jener Zweck weit sicherer dadurch 
 [15]  haben erhalten werden können, als es jemals durch Vernunft geschehen 
kann, und sollte diese ja obenein dem begünstigten Geschöpf ertheilt wor- 
den sein, so würde sie ihm nur dazu haben dienen müssen, um über die 
glückliche Anlage seiner Natur Betrachtungen anzustellen, sie zu bewun- 
dern, sich ihrer zu erfreuen und der wohlthätigen Ursache dafür dankbar 
 [20]  zu sein; nicht aber, um sein Begehrungsvermögen jener schwachen und 
trüglichen Leitung zu unterwerfen und in der Naturabsicht zu pfuschen; 
mit einem Worte, sie würde verhütet haben, daß Vernunft nicht in prak- 
tischen Gebrauch ausschlüge und die Vermessenheit hätte, mit ihren 
schwachen Einsichten ihr selbst den Entwurf der Glückseligkeit und der 
 [25]  Mittel dazu zu gelangen auszudenken; die Natur würde nicht allein die 
Wahl der Zwecke, sondern auch der Mittel selbst übernommen und beide 
mit weiser Vorsorge lediglich dem Instincte anvertraut haben. 
     In der That finden wir auch, daß, je mehr eine cultivirte Vernunft 
sich mit der Absicht auf den Genuß des Lebens und der Glückseligkeit ab- 
 [30]  giebt, desto weiter der Mensch von der wahren Zufriedenheit abkomme, 
woraus bei vielen und zwar den Versuchtesten im Gebrauche derselben, 
wenn sie nur aufrichtig genug sind, es zu gestehen, ein gewisser Grad von 
Misologie, d. i. Haß der Vernunft, entspringt, weil sie nach dem Über- 
schlage alles Vortheils, den sie, ich will nicht sagen von der Erfindung 
 [35]  aller Künste des gemeinen Luxus, sondern sogar von den Wissenschaften 
(die ihnen am Ende auch ein Luxus des Verstandes zu sein scheinen) zie- 
hen, dennoch finden, daß sie sich in der That nur mehr Mühseligkeit auf 
 
 
395 [4-6]
         

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den Hals gezogen, als an Glückseligkeit gewonnen haben und darüber 
endlich den gemeinern Schlag der Menschen, welcher der Leitung des blo- 
ßen Naturinstincts näher ist, und der seiner Vernunft nicht viel Einfluß 
auf sein Thun und Lassen verstattet, eher beneiden als geringschätzen. Und 
 [5]  so weit muß man gestehen, daß das Urtheil derer, die die ruhmredige Hoch- 
preisungen der Vortheile, die uns die Vernunft in Ansehung der Glück- 
seligkeit und Zufriedenheit des Lebens verschaffen sollte, sehr mäßigen und 
sogar unter Null herabsetzen, keinesweges grämisch, oder gegen die Güte 
der Weltregierung undankbar sei, sondern daß diesen Urtheilen ingeheim 
 [10]  die Idee von einer andern und viel würdigern Absicht ihrer Existenz zum 
Grunde liege, zu welcher und nicht der Glückseligkeit die Vernunft ganz 
eigentlich bestimmt sei, und welcher darum als oberster Bedingung die 
Privatabsicht des Menschen größtentheils nachstehen muß. 
     Denn da die Vernunft dazu nicht tauglich genug ist, um den Willen 
 [15]  in Ansehung der Gegenstände desselben und der Befriedigung aller unserer 
Bedürfnisse (die sie zum Theil selbst vervielfältigt) sicher zu leiten, als zu 
welchem Zwecke ein eingepflanzter Naturinstinct viel gewisser geführt ha- 
ben würde, gleichwohl aber uns Vernunft als praktisches Vermögen, d. i. 
als ein solches, das Einfluß auf den Willen haben soll, dennoch zuge- 
 [20]  theilt ist: so muß die wahre Bestimmung derselben sein, einen nicht etwa 
in anderer Absicht als Mittel, sondern an sich selbst guten Willen 
hervorzubringen, wozu schlechterdings Vernunft nöthig war, wo anders 
die Natur überall in Austheilung ihrer Anlagen zweckmäßig zu Werke ge- 
gangen ist. Dieser Wille darf also zwar nicht das einzige und das ganze, 
 [25]  aber er muß doch das höchste Gut und zu allem Übrigen, selbst allem Ver- 
langen nach Glückseligkeit die Bedingung sein, in welchem Falle es sich 
mit der Weisheit der Natur gar wohl vereinigen läßt, wenn man wahr- 
nimmt, daß die Cultur der Vernunft, die zur erstern und unbedingten Ab- 
sicht erforderlich ist, die Erreichung der zweiten, die jederzeit bedingt ist, 
 [30]  nämlich der Glückseligkeit, wenigstens in diesem Leben auf mancherlei 
Weise einschränke, ja sie selbst unter Nichts herabbringen könne, ohne daß 
die Natur darin unzweckmäßig verfahre, weil die Vernunft, die ihre höchste 
praktische Bestimmung in der Gründung eines guten Willens erkennt, bei 
Erreichung dieser Absicht nur einer Zufriedenheit nach ihrer eigenen Art, 
 [35]  nämlich aus der Erfüllung eines Zwecks, den wiederum nur Vernunft be- 
stimmt, fähig ist, sollte dieses auch mit manchem Abbruch, der den Zwek- 
ken der Neigung geschieht, verbunden sein. 
 
 
396 [6-8]
         

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     Um aber den Begriff eines an sich selbst hochzuschätzenden und ohne 
weitere Absicht guten Willens, so wie er schon dem natürlichen gesunden 
Verstande beiwohnt und nicht sowohl gelehrt als vielmehr nur aufgeklärt 
zu werden bedarf, diesen Begriff, der in der Schätzung des ganzen Werths 
 [5]  unserer Handlungen immer obenan steht und die Bedingung alles übri- 
gen ausmacht, zu entwickeln: wollen wir den Begriff der Pflicht vor uns 
nehmen, der den eines guten Willens, obzwar unter gewissen subjectiven 
Einschränkungen und Hindernissen, enthält, die aber doch, weit gefehlt daß 
sie ihn verstecken und unkenntlich machen sollten, ihn vielmehr durch Ab- 
 [10]  stechung heben und desto heller hervorscheinen lassen. 
     Ich übergehe hier alle Handlungen, die schon als pflichtwidrig er- 
kannt werden, ob sie gleich in dieser oder jener Absicht nützlich sein mögen; 
denn bei denen ist gar nicht einmal die Frage, ob sie aus Pflicht gesche- 
hen sein mögen, da sie dieser sogar widerstreiten. Ich setze auch die Hand- 
 [15]  lungen bei Seite, die wirklich pflichtmäßig sind, zu denen aber Menschen 
unmittelbar keine Neigung haben, sie aber dennoch ausüben, weil sie 
durch eine andere Neigung dazu getrieben werden. Denn da läßt sich leicht 
unterscheiden, ob die pflichtmäßige Handlung aus Pflicht oder aus selbst- 
süchtiger Absicht geschehen sei. Weit schwerer ist dieser Unterschied zu be- 
 [20]  merken, wo die Handlung pflichtmäßig ist und das Subject noch überdem 
unmittelbare Neigung zu ihr hat. Z. B. es ist allerdings pflichtmäßig, 
daß der Krämer seinen unerfahrnen Käufer nicht übertheure, und, wo viel 
Verkehr ist, thut dieses auch der kluge Kaufmann nicht, sondern hält einen 
festgesetzten allgemeinen Preis für jedermann, so daß ein Kind eben so 
 [25]  gut bei ihm kauft, als jeder andere. Man wird also ehrlich bedient; all- 
ein das ist lange nicht genug, um deswegen zu glauben, der Kaufmann 
habe aus Pflicht und Grundsätzen der Ehrlichkeit so verfahren; sein Vor- 
theil erforderte es; daß er aber überdem noch eine unmittelbare Neigung 
zu den Käufern haben sollte, um gleichsam aus Liebe keinem vor dem an- 
 [30]  dern im Preise den Vorzug zu geben, läßt sich hier nicht annehmen. Also 
war die Handlung weder aus Pflicht, noch aus unmittelbarer Neigung, 
sondern bloß in eigennütziger Absicht geschehen. 
     Dagegen sein Leben zu erhalten, ist Pflicht, und überdem hat jeder- 
mann dazu noch eine unmittelbare Neigung. Aber um deswillen hat die 
 [35]  oft ängstliche Sorgfalt, die der größte Theil der Menschen dafür trägt, 
doch keinen innern Werth und die Maxime derselben keinen moralischen 
 
 
397 [8-9]
         

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Gehalt. Sie bewahren ihr Leben zwar pflichtmäßig, aber nicht aus 
Pflicht. Dagegen wenn Widerwärtigkeiten und hoffnungsloser Gram 
den Geschmack am Leben gänzlich weggenommen haben; wenn der Un- 
glückliche, stark an Seele, über sein Schicksal mehr entrüstet als kleinmü- 
 [5]  thig oder niedergeschlagen, den Tod wünscht und sein Leben doch erhält, 
ohne es zu lieben, nicht aus Neigung oder Furcht, sondern aus Pflicht: 
alsdann hat seine Maxime einen moralischen Gehalt. 
     Wohlthätig sein, wo man kann, ist Pflicht, und überdem giebt es 
manche so theilnehmend gestimmte Seelen, daß sie auch ohne einen andern 
 [10]  Bewegungsgrund der Eitelkeit oder des Eigennutzes ein inneres Vergnü- 
gen daran finden, Freude um sich zu verbreiten, und die sich an der Zu- 
friedenheit anderer, so fern sie ihr Werk ist, ergötzen können. Aber ich be- 
haupte, daß in solchem Falle dergleichen Handlung, so pflichtmäßig, so 
liebenswürdig sie auch ist, dennoch keinen wahren sittlichen Werth habe, 
 [15]  sondern mit andern Neigungen zu gleichen Paaren gehe, z. E. der Neigung 
nach Ehre, die, wenn sie glücklicherweise auf das trifft, was in der That 
gemeinnützig und pflichtmäßig, mithin ehrenwerth ist, Lob und Aufmun- 
terung, aber nicht Hochschätzung verdient; denn der Maxime fehlt der sitt- 
liche Gehalt, nämlich solche Handlungen nicht aus Neigung, sondern aus 
 [20]  Pflicht zu thun. Gesetzt also, das Gemüth jenes Menschenfreundes wäre 
vom eigenen Gram umwölkt, der alle Theilnehmung an anderer Schicksal 
auslöscht, er hätte immer noch Vermögen, andern Nothleidenden wohlzu- 
thun, aber fremde Noth rührte ihn nicht, weil er mit seiner eigenen gnug 
beschäftigt ist, und nun, da keine Neigung ihn mehr dazu anreizt, risse er 
 [25]  sich doch aus dieser tödtlichen Unempfindlichkeit heraus und thäte die 
Handlung ohne alle Neigung, lediglich aus Pflicht, alsdann hat sie aller- 
erst ihren ächten moralischen Werth. Noch mehr: wenn die Natur diesem 
oder jenem überhaupt wenig Sympathie ins Herz gelegt hätte, wenn er 
(übrigens ein ehrlicher Mann) von Temperament kalt und gleichgültig 
 [30]  gegen die Leiden anderer wäre, vielleicht weil er, selbst gegen seine eigene 
mit der besondern Gabe der Geduld und aushaltenden Stärke versehen, 
dergleichen bei jedem andern auch voraussetzt, oder gar fordert; wenn die 
Natur einen solchen Mann (welcher wahrlich nicht ihr schlechtestes Pro- 
duct sein würde) nicht eigentlich zum Menschenfreunde gebildet hätte, wür- 
 [35]  de er denn nicht noch in sich einen Quell finden, sich selbst einen weit hö- 
hern Werth zu geben, als der eines gutartigen Temperaments sein mag? 
Allerdings! gerade da hebt der Werth des Charakters an, der moralisch 
 
 
398 [9-11]
         

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und ohne alle Vergleichung der höchste ist, nämlich daß er wohlthue, nicht 
aus Neigung, sondern aus Pflicht. 
     Seine eigene Glückseligkeit sichern, ist Pflicht (wenigstens indirect), 
denn der Mangel der Zufriedenheit mit seinem Zustande in einem Ge- 
 [5]  dränge von vielen Sorgen und mitten unter unbefriedigten Bedürfnissen 
könnte leicht eine große Versuchung zu Übertretung der Pflichten 
werden. Aber auch ohne hier auf Pflicht zu sehen, haben alle Menschen 
schon von selbst die mächtigste und innigste Neigung zur Glückseligkeit, 
weil sich gerade in dieser Idee alle Neigungen zu einer Summe vereini- 
 [10]  gen. Nur ist die Vorschrift der Glückseligkeit mehrentheils so beschaffen, 
daß sie einigen Neigungen großen Abbruch thut und doch der Mensch sich 
von der Summe der Befriedigung aller unter dem Namen der Glückselig- 
keit keinen bestimmten und sichern Begriff machen kann; daher nicht zu 
verwundern ist, wie eine einzige in Ansehung dessen, was sie verheißt, und 
 [15]  der Zeit, worin ihre Befriedigung erhalten werden kann, bestimmte Nei- 
gung eine schwankende Idee überwiegen könne, und der Mensch, z. B. ein 
Podagrist, wählen könne, zu genießen, was ihm schmeckt, und zu leiden, 
was er kann, weil er nach seinem Überschlage hier wenigstens sich nicht 
durch vielleicht grundlose Erwartungen eines Glücks, das in der Gesund- 
 [20]  heit stecken soll, um den Genuß des gegenwärtigen Augenblicks gebracht 
hat. Aber auch in diesem Falle, wenn die allgemeine Neigung zur Glück- 
seligkeit seinen Willen nicht bestimmte, wenn Gesundheit für ihn wenig- 
stens nicht so nothwendig in diesen Überschlag gehörte, so bleibt noch hier 
wie in allen andern Fällen ein Gesetz übrig, nämlich seine Glückseligkeit 
 [25]  zu befördern, nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht, und da hat sein 
Verhalten allererst den eigentlichen moralischen Werth. 
     So sind ohne Zweifel auch die Schriftstellen zu verstehen, darin ge- 
boten wird, seinen Nächsten, selbst unsern Feind zu lieben. Denn Liebe 
als Neigung kann nicht geboten werden, aber Wohlthun aus Pflicht selbst, 
 [30]  wenn dazu gleich gar keine Neigung treibt, ja gar natürliche und unbe- 
zwingliche Abneigung widersteht, ist praktische und nicht pathologi- 
sche Liebe, die im Willen liegt und nicht im Hange der Empfindung, in 
Grundsätzen der Handlung und nicht schmelzender Theilnehmung; jene 
aber allein kann geboten werden. 
 [35]       Der zweite Satz ist: eine Handlung aus Pflicht hat ihren morali- 
schen Werth nicht in der Absicht, welche dadurch erreicht werden soll, 
sondern in der Maxime, nach der sie beschlossen wird, hängt also nicht von 
 
 
399 [11-13]
         

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der Wirklichkeit des Gegenstandes der Handlung ab, sondern blos von dem 
Princip des Wollens, nach welchem die Handlung unangesehen aller 
Gegenstände des Begehrungsvermögens geschehen ist. Daß die Absichten, 
die wir bei Handlungen haben mögen, und ihre Wirkungen, als Zwecke 
 [5]  und Triebfedern des Willens, den Handlungen keinen unbedingten und 
moralischen Werth ertheilen können, ist aus dem vorigen klar. Worin 
kann also dieser Werth liegen, wenn er nicht im Willen in Beziehung auf 
deren verhoffte Wirkung bestehen soll? Er kann nirgend anders liegen, 
als im Princip des Willens unangesehen der Zwecke, die durch solche 
 [10]  Handlung bewirkt werden können; denn der Wille ist mitten inne zwischen 
seinem Princip a priori, welches formell ist, und zwischen seiner Triebfeder 
a posteriori, welche materiell ist, gleichsam auf einem Scheidewege, und 
da er doch irgend wodurch muß bestimmt werden, so wird er durch das 
formelle Princip des Wollens überhaupt bestimmt werden müssen, wenn 
 [15]  eine Handlung aus Pflicht geschieht, da ihm alles materielle Princip ent- 
zogen worden. 
     Den dritten Satz als Folgerung aus beiden vorigen würde ich so 
ausdrücken: Pflicht ist die Nothwendigkeit einer Handlung aus 
Achtung fürs Gesetz. Zum Objecte als Wirkung meiner vorhabenden 
 [20]  Handlung kann ich zwar Neigung haben, aber niemals Achtung, eben 
darum, weil sie bloß eine Wirkung und nicht Thätigkeit eines Willens ist. 
Eben so kann ich für Neigung überhaupt, sie mag nun meine oder eines 
andern seine sein, nicht Achtung haben, ich kann sie höchstens im ersten 
Falle billigen, im zweiten bisweilen selbst lieben, d. i. sie als meinem ei- 
 [25]  genen Vortheile günstig ansehen. Nur das, was bloß als Grund, niemals 
aber als Wirkung mit meinem Willen verknüpft ist, was nicht meiner 
Neigung dient, sondern sie überwiegt, wenigstens diese von deren Über- 
schlage bei der Wahl ganz ausschließt, mithin das bloße Gesetz für sich 
kann ein Gegenstand der Achtung und hiemit ein Gebot sein. Nun soll 
 [30]  eine Handlung aus Pflicht den Einfluß der Neigung und mit ihr jeden 
Gegenstand des Willens ganz absondern, also bleibt nichts für den Willen 
übrig, was ihn bestimmen könne, als objectiv das Gesetz und subjectiv 
reine Achtung für dieses praktische Gesetz, mithin die Maxime*), einem 
 
 
      *) Maxime ist das subjective Princip des Wollens; das objective Princip 
 [35]  (d. i. dasjenige, was allen vernünftigen Wesen auch subjectiv zum praktischen Princip 
 dienen würde, wenn Vernunft volle Gewalt über das Begehrungsvermögen hätte) ist 
 das praktische Gesetz. 
 
 
400 [13-15]
         

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solchen Gesetze selbst mit Abbruch aller meiner Neigungen Folge zu 
leisten. 
     Es liegt also der moralische Werth der Handlung nicht in der Wir- 
kung, die daraus erwartet wird, also auch nicht in irgend einem Princip 
 [5]  der Handlung, welches seinen Bewegungsgrund von dieser erwarteten 
Wirkung zu entlehnen bedarf. Denn alle diese Wirkungen (Annehmlich- 
keit seines Zustandes, ja gar Beförderung fremder Glückseligkeit) konnten 
auch durch andere Ursachen zu Stande gebracht werden, und es brauchte 
also dazu nicht des Willens eines vernünftigen Wesens, worin gleichwohl 
 [10]  das höchste und unbedingte Gute allein angetroffen werden kann. Es 
kann daher nichts anders als die Vorstellung des Gesetzes an sich 
selbst, die freilich nur im vernünftigen Wesen stattfindet, so fern 
sie, nicht aber die verhoffte Wirkung der Bestimmungsgrund des Willens 
ist, das so vorzügliche Gute, welches wir sittlich nennen, ausmachen, wel- 
 [15]  ches in der Person selbst schon gegenwärtig ist, die darnach handelt, nicht 
aber allererst aus der Wirkung erwartet werden darf*). 
 
 
      *) Man könnte mir vorwerfen, als suchte ich hinter dem Worte Achtung nur 
 Zuflucht in einem dunkelen Gefühle, anstatt durch einen Begriff der Vernunft in der 
 Frage deutliche Auskunft zu geben. Allein wenn Achtung gleich ein Gefühl ist, so ist 
 [20]  es doch kein durch Einfluß empfangenes, sondern durch einen Vernunftbegriff 
 selbstgewirktes Gefühl und daher von allen Gefühlen der ersteren Art, die sich auf 
 Neigung oder Furcht bringen lassen, specifisch unterschieden. Was ich unmittelbar als 
 Gesetz für mich erkenne, erkenne ich mit Achtung, welche bloß das Bewußtsein der 
 Unterordnung meines Willens unter einem Gesetze ohne Vermittelung anderer 
 [25]  Einflüsse auf meinen Sinn bedeutet. Die unmittelbare Bestimmung des Willens 
 durchs Gesetz und das Bewußtsein derselben heißt Achtung, so daß diese als 
 Wirkung des Gesetzes aufs Subject und nicht als Ursache desselben angesehen 
 wird. Eigentlich ist Achtung die Vorstellung von einem Werthe, der meiner Selbst- 
 liebe Abbruch thut. Also ist es etwas, was weder als Gegenstand der Neigung, noch 
 [30]  der Furcht betrachtet wird, obgleich es mit beiden zugleich etwas Analogisches hat. 
 Der Gegenstand der Achtung ist also lediglich das Gesetz und zwar dasjenige, das 
 wir uns selbst und doch als an sich nothwendig auferlegen. Als Gesetz sind wir ihm 
 unterworfen, ohne die Selbstliebe zu befragen; als uns von uns selbst auferlegt, ist 
 es doch eine Folge unsers Willens und hat in der ersten Rücksicht Analogie mit 
 [35]  Furcht, in der zweiten mit Neigung. Alle Achtung für eine Person ist eigentlich nur 
 Achtung fürs Gesetz (der Rechtschaffenheit etc.), wovon jene uns das Beispiel giebt. 
 Weil wir Erweiterung unserer Talente auch als Pflicht ansehen, so stellen wir uns 
 an einer Person von Talenten auch gleichsam das Beispiel eines Gesetzes vor 
 (ihr durch Übung hierin ähnlich zu werden), und das macht unsere Achtung aus. 
 [40]  Alles moralische so genannte Interesse besteht lediglich in der Achtung fürs Gesetz. 
 
 
401 [15-17]
         

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     Was kann das aber wohl für ein Gesetz sein, dessen Vorstellung, auch 
ohne auf die daraus erwartete Wirkung Rücksicht zu nehmen, den Willen 
bestimmen muß, damit dieser schlechterdings und ohne Einschränkung gut 
heißen könne? Da ich den Willen aller Antriebe beraubt habe, die ihm 
 [5]  aus der Befolgung irgend eines Gesetzes entspringen könnten, so bleibt 
nichts als die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Handlungen überhaupt üb- 
rig, welche allein dem Willen zum Princip dienen soll, d. i. ich soll nie- 
mals anders verfahren als so, daß ich auch wollen könne, meine 
Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden. Hier ist nun die 
 [10]  bloße Gesetzmäßigkeit überhaupt (ohne irgend ein auf gewisse Handlungen 
bestimmtes Gesetz zum Grunde zu legen) das, was dem Willen zum Prin- 
cip dient und ihm auch dazu dienen muß, wenn Pflicht nicht überall ein 
leerer Wahn und chimärischer Begriff sein soll; hiemit stimmt die gemeine 
Menschenvernunft in ihrer praktischen Beurtheilung auch vollkommen über- 
 [15]  ein und hat das gedachte Princip jederzeit vor Augen. 
     Die Frage sei z. B.: darf ich, wenn ich im Gedränge bin, nicht ein 
Versprechen thun, in der Absicht, es nicht zu halten? Ich mache hier leicht 
den Unterschied, den die Bedeutung der Frage haben kann, ob es klüglich, 
oder ob es pflichtmäßig sei, ein falsches Versprechen zu thun. Das erstere 
 [20]  kann ohne Zweifel öfters stattfinden. Zwar sehe ich wohl, daß es nicht 
gnug sei, mich vermittelst dieser Ausflucht aus einer gegenwärtigen Ver- 
legenheit zu ziehen, sondern wohl überlegt werden müsse, ob mir aus die- 
ser Lüge nicht hinterher viel größere Ungelegenheit entspringen könne, als 
die sind, von denen ich mich jetzt befreie, und, da die Folgen bei aller 
 [25]  meiner vermeinten Schlauigkeit nicht so leicht vorauszusehen sind, daß 
nicht ein einmal verlornes Zutrauen mir weit nachtheiliger werden könnte 
als alles Übel, das ich jetzt zu vermeiden gedenke, ob es nicht klüglicher 
gehandelt sei, hiebei nach einer allgemeinen Maxime zu verfahren und es 
sich zur Gewohnheit zu machen, nichts zu versprechen als in der Absicht, 
 [30]  es zu halten. Allein es leuchtet mir hier bald ein, daß eine solche Maxime 
doch immer nur die besorglichen Folgen zum Grunde habe. Nun ist es 
doch etwas ganz anderes, aus Pflicht wahrhaft zu sein, als aus Besorgniß 
der nachtheiligen Folgen: indem im ersten Falle der Begriff der Handlung 
an sich selbst schon ein Gesetz für mich enthält, im zweiten ich mich aller- 
 [35]  erst anderwärtsher umsehen muß, welche Wirkungen für mich wohl damit 
verbunden sein möchten. Denn wenn ich von dem Princip der Pflicht ab- 
weiche, so ist es ganz gewiß böse; werde ich aber meiner Maxime der 
 
 
402 [17-19]
         

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Klugheit abtrünnig, so kann das mir doch manchmal sehr vortheilhaft sein, 
wiewohl es freilich sicherer ist, bei ihr zu bleiben. Um indessen mich in 
Ansehung der Beantwortung dieser Aufgabe, ob ein lügenhaftes Ver- 
sprechen pflichtmäßig sei, auf die allerkürzeste und doch untrügliche Art zu 
 [5]  belehren, so frage ich mich selbst: würde ich wohl damit zufrieden sein, daß 
meine Maxime (mich durch ein unwahres Versprechen aus Verlegenheit 
zu ziehen) als ein allgemeines Gesetz (sowohl für mich als andere) gelten 
solle, und würde ich wohl zu mir sagen können: es mag jedermann ein un- 
wahres Versprechen thun, wenn er sich in Verlegenheit befindet, daraus 
 [10]  er sich auf andere Art nicht ziehen kann? So werde ich bald inne, daß ich 
zwar die Lüge, aber ein allgemeines Gesetz zu lügen gar nicht wollen könne; 
denn nach einem solchen würde es eigentlich gar kein Versprechen geben, 
weil es vergeblich wäre, meinen Willen in Ansehung meiner künftigen 
Handlungen andern vorzugeben, die diesem Vorgeben doch nicht glauben, 
 [15]  oder, wenn sie es übereilter Weise thäten, mich doch mit gleicher Münze 
bezahlen würden, mithin meine Maxime, so bald sie zum allgemeinen Ge- 
setze gemacht würde, sich selbst zerstören müsse. 
     Was ich also zu thun habe, damit mein Wollen sittlich gut sei, dazu 
brauche ich gar keine weit ausholende Scharfsinnigkeit. Unerfahren in 
 [20]  Ansehung des Weltlaufs, unfähig auf alle sich eräugnende Vorfälle des- 
selben gefaßt zu sein, frage ich mich nur: kannst du auch wollen, daß 
deine Maxime ein allgemeines Gesetz werde? Wo nicht, so ist sie verwerf- 
lich und das zwar nicht um eines dir oder auch anderen daraus bevor- 
stehenden Nachtheils willen, sondern weil sie nicht als Princip in eine 
 [25]  mögliche allgemeine Gesetzgebung passen kann; für diese aber zwingt mir 
die Vernunft unmittelbare Achtung ab, von der ich zwar jetzt noch nicht 
einsehe, worauf sie sich gründe (welches der Philosoph untersuchen mag), 
wenigstens aber doch so viel verstehe: daß es eine Schätzung des Werthes 
sei, welcher allen Werth dessen, was durch Neigung angepriesen wird, weit 
 [30]  überwiegt, und daß die Nothwendigkeit meiner Handlungen aus reiner 
Achtung fürs praktische Gesetz dasjenige sei, was die Pflicht ausmacht, der 
jeder andere Bewegungsgrund weichen muß, weil sie die Bedingung eines 
an sich guten Willens ist, dessen Werth über alles geht. 
     So sind wir denn in der moralischen Erkenntniß der gemeinen Men- 
 [35]  schenvernunft bis zu ihrem Princip gelangt, welches sie sich zwar freilich 
nicht so in einer allgemeinen Form abgesondert denkt, aber doch jederzeit 
wirklich vor Augen hat und zum Richtmaße ihrer Beurtheilung braucht. 
 
 
403 [19-20]
         

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Es wäre hier leicht zu zeigen, wie sie mit diesem Compasse in der Hand 
in allen vorkommenden Fällen sehr gut Bescheid wisse, zu unterscheiden, 
was gut, was böse, pflichtmäßig, oder pflichtwidrig sei, wenn man, ohne 
sie im mindesten etwas Neues zu lehren, sie nur, wie Sokrates that, auf 
 [5]  ihr eigenes Princip aufmerksam macht, und daß es also keiner Wissenschaft 
und Philosophie bedürfe, um zu wissen, was man zu thun habe, um ehr- 
lich und gut, ja sogar um weise und tugendhaft zu sein. Das ließe sich 
auch wohl schon zum voraus vermuthen, daß die Kenntniß dessen, was zu 
thun, mithin auch zu wissen jedem Menschen obliegt, auch jedes, selbst des 
 [10]  gemeinsten Menschen Sache sein werde. Hier kann man es doch nicht ohne 
Bewunderung ansehen, wie das praktische Beurtheilungsvermögen vor 
dem theoretischen im gemeinen Menschenverstande so gar viel voraus habe. 
In dem letzteren, wenn die gemeine Vernunft es wagt, von den Erfah- 
rungsgesetzen und den Wahrnehmungen der Sinne abzugehen, geräth sie 
 [15]  in lauter Unbegreiflichkeiten und Widersprüche mit sich selbst, wenigstens 
in ein Chaos von Ungewißheit, Dunkelheit und Unbestand. Im praktischen 
aber fängt die Beurtheilungskraft dann eben allererst an, sich recht vor- 
theilhaft zu zeigen, wenn der gemeine Verstand alle sinnliche Triebfedern 
von praktischen Gesetzen ausschließt. Er wird alsdann sogar subtil, es 
 [20]  mag sein, daß er mit seinem Gewissen oder anderen Ansprüchen in Be- 
ziehung auf das, was Recht heißen soll, chicaniren, oder auch den Werth 
der Handlungen zu seiner eigenen Belehrung aufrichtig bestimmen will, 
und was das meiste ist, er kann im letzteren Falle sich eben so gut Hoff- 
nung machen, es recht zu treffen, als es sich immer ein Philosoph ver- 
 [25]  sprechen mag, ja ist beinahe noch sicherer hierin, als selbst der letztere, weil 
dieser doch kein anderes Princip als jener haben, sein Urtheil aber durch 
eine Menge fremder, nicht zur Sache gehöriger Erwägungen leicht ver- 
wirren und von der geraden Richtung abweichend machen kann. Wäre es 
demnach nicht rathsamer, es in moralischen Dingen bei dem gemeinen 
 [30]  Vernunfturtheil bewenden zu lassen und höchstens nur Philosophie anzu- 
bringen, um das System der Sitten desto vollständiger und faßlicher, im- 
gleichen die Regeln derselben zum Gebrauche (noch mehr aber zum Dis- 
putiren) bequemer darzustellen, nicht aber um selbst in praktischer Absicht 
den gemeinen Menschenverstand von seiner glücklichen Einfalt abzubringen 
 [35]  und ihn durch Philosophie auf einen neuen Weg der Untersuchung und 
Belehrung zu bringen? 
     Es ist eine herrliche Sache um die Unschuld, nur es ist auch wiederum 
 
 
404 [20-22]
         

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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Erster Abschnitt · 1903 Preussische Akademie Auflage
 
sehr schlimm, daß sie sich nicht wohl bewahren läßt und leicht verführt 
wird. Deswegen bedarf selbst die Weisheit — die sonst wohl mehr im 
Thun und Lassen, als im Wissen besteht — doch auch der Wissenschaft, 
nicht um von ihr zu lernen, sondern ihrer Vorschrift Eingang und Dauer- 
 [5]  haftigkeit zu verschaffen. Der Mensch fühlt in sich selbst ein mächtiges Ge- 
gengewicht gegen alle Gebote der Pflicht, die ihm die Vernunft so hoch- 
achtungswürdig vorstellt, an seinen Bedürfnissen und Neigungen, deren 
ganze Befriedigung er unter dem Namen der Glückseligkeit zusammenfaßt. 
Nun gebietet die Vernunft, ohne doch dabei den Neigungen etwas zu ver- 
 [10]  heißen, unnachlaßlich, mithin gleichsam mit Zurücksetzung und Nicht- 
achtung jener so ungestümen und dabei so billig scheinenden Ansprüche 
(die sich durch kein Gebot wollen aufheben lassen) ihre Vorschriften. Hier- 
aus entspringt aber eine natürliche Dialektik, d. i. ein Hang, wider 
jene strenge Gesetze der Pflicht zu vernünfteln und ihre Gültigkeit, wenig- 
 [15]  stens ihre Reinigkeit und Strenge in Zweifel zu ziehen und sie wo mög- 
lich unsern Wünschen und Neigungen angemessener zu machen, d. i. sie 
im Grunde zu verderben und um ihre ganze Würde zu bringen, welches 
denn doch selbst die gemeine praktische Vernunft am Ende nicht gut heißen 
kann. 
 [20]       So wird also die gemeine Menschenvernunft nicht durch irgend 
ein Bedürfniß der Speculation (welches ihr, so lange sie sich genügt, bloße 
gesunde Vernunft zu sein, niemals anwandelt), sondern selbst aus prak- 
tischen Gründen angetrieben, aus ihrem Kreise zu gehen und einen Schritt 
ins Feld einer praktischen Philosophie zu thun, um daselbst wegen der 
 [25]  Quelle ihres Princips und richtigen Bestimmung desselben in Gegenhal- 
tung mit den Maximen, die sich auf Bedürfniß und Neigung fußen, Er- 
kundigung und deutliche Anweisung zu bekommen, damit sie aus der Ver- 
legenheit wegen beiderseitiger Ansprüche herauskomme und nicht Gefahr 
laufe, durch die Zweideutigkeit, in die sie leicht geräth, um alle ächte sitt- 
 [30]  liche Grundsätze gebracht zu werden. Also entspinnt sich eben sowohl in der 
praktischen gemeinen Vernunft, wenn sie sich cultivirt, unvermerkt eine 
Dialektik, welche sie nöthigt, in der Philosophie Hülfe zu suchen, als es 
ihr im theoretischen Gebrauche widerfährt, und die erstere wird daher wohl 
eben so wenig als die andere irgendwo sonst, als in einer vollständigen 
 [35]  Kritik unserer Vernunft Ruhe finden. 
 
 

  
 
 
405 [22-24]
         

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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Zweiter Abschnitt · 1903 Preussische Akademie Auflage
 

Zweiter Abschnitt.

 
Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit 
zur 
Metaphysik der Sitten.

 
 [5]       Wenn wir unsern bisherigen Begriff der Pflicht aus dem gemeinen 
Gebrauche unserer praktischen Vernunft gezogen haben, so ist daraus kei- 
nesweges zu schließen, als hätten wir ihn als einen Erfahrungsbegriff 
behandelt. Vielmehr, wenn wir auf die Erfahrung vom Thun und Lassen 
der Menschen Acht haben, treffen wir häufige und, wie wir selbst einräu- 
 [10]  men, gerechte Klagen an, daß man von der Gesinnung, aus reiner Pflicht 
zu handeln, so gar keine sichere Beispiele anführen könne, daß, wenn gleich 
manches dem, was Pflicht gebietet, gemäß geschehen mag, dennoch es 
immer noch zweifelhaft sei, ob es eigentlich aus Pflicht geschehe und also 
einen moralischen Werth habe. Daher es zu aller Zeit Philosophen ge- 
 [15]  geben hat, welche die Wirklichkeit dieser Gesinnung in den menschlichen 
Handlungen schlechterdings abgeleugnet und alles der mehr oder weniger 
verfeinerten Selbstliebe zugeschrieben haben, ohne doch deswegen die Rich- 
tigkeit des Begriffs von Sittlichkeit in Zweifel zu ziehen, vielmehr mit 
inniglichem Bedauren der Gebrechlichkeit und Unlauterkeit der mensch- 
 [20]  lichen Natur Erwähnung thaten, die zwar edel gnug sei, sich eine so ach- 
tungswürdige Idee zu ihrer Vorschrift zu machen, aber zugleich zu schwach, 
um sie zu befolgen, und die Vernunft, die ihr zur Gesetzgebung dienen 
sollte, nur dazu braucht, um das Interesse der Neigungen, es sei einzeln 
oder, wenn es hoch kommt, in ihrer größten Verträglichkeit unter einander, 
 [25]  zu besorgen. 
 
 
406 [25-26]
         

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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Zweiter Abschnitt · 1903 Preussische Akademie Auflage
 
     In der That ist es schlechterdings unmöglich, durch Erfahrung einen 
einzigen Fall mit völliger Gewißheit auszumachen, da die Maxime einer 
sonst pflichtmäßigen Handlung lediglich auf moralischen Gründen und auf 
der Vorstellung seiner Pflicht beruht habe. Denn es ist zwar bisweilen 
 [5]  der Fall, daß wir bei der schärfsten Selbstprüfung gar nichts antreffen, 
was außer dem moralischen Grunde der Pflicht mächtig genug hätte sein 
können, uns zu dieser oder jener guten Handlung und so großer Aufopfe- 
rung zu bewegen; es kann aber daraus gar nicht mit Sicherheit geschlossen 
werden, daß wirklich gar kein geheimer Antrieb der Selbstliebe unter der 
 [10]  bloßen Vorspiegelung jener Idee die eigentliche bestimmende Ursache des 
Willens gewesen sei, dafür wir denn gerne uns mit einem uns fälschlich 
angemaßten edlern Bewegungsgrunde schmeicheln, in der That aber selbst 
durch die angestrengteste Prüfung hinter die geheimen Triebfedern nie- 
mals völlig kommen können, weil, wenn vom moralischen Werthe die Rede 
 [15]  ist, es nicht auf die Handlungen ankommt, die man sieht, sondern auf jene 
innere Principien derselben, die man nicht sieht. 
     Man kann auch denen, die alle Sittlichkeit als bloßes Hirngespinst 
einer durch Eigendünkel sich selbst übersteigenden menschlichen Einbildung 
verlachen, keinen gewünschteren Dienst thun, als ihnen einzuräumen, daß 
 [20]  die Begriffe der Pflicht (so wie man sich auch aus Gemächlichkeit gerne 
überredet, daß es auch mit allen übrigen Begriffen bewandt sei) lediglich 
aus der Erfahrung gezogen werden mußten; denn da bereitet man jenen 
einen sichern Triumph. Ich will aus Menschenliebe einräumen, daß noch 
die meisten unserer Handlungen pflichtmäßig seien; sieht man aber ihr 
 [25]  Tichten und Trachten näher an, so stößt man allenthalben auf das liebe 
Selbst, was immer hervorsticht, worauf und nicht auf das strenge Gebot 
der Pflicht, welches mehrmals Selbstverleugnung erfordern würde, sich 
ihre Absicht stützt. Man braucht auch eben kein Feind der Tugend, sondern 
nur ein kaltblütiger Beobachter zu sein, der den lebhaftesten Wunsch für 
 [30]  das Gute nicht sofort für dessen Wirklichkeit hält, um (vornehmlich mit 
zunehmenden Jahren und einer durch Erfahrung theils gewitzigten, theils 
zum Beobachten geschärften Urtheilskraft) in gewissen Augenblicken zwei- 
felhaft zu werden, ob auch wirklich in der Welt irgend wahre Tugend an- 
getroffen werde. Und hier kann uns nun nichts vor dem gänzlichen Ab- 
 [35]  fall von unseren Ideen der Pflicht bewahren und gegründete Achtung ge- 
gen ihr Gesetz in der Seele erhalten, als die klare Überzeugung, daß, wenn 
es auch niemals Handlungen gegeben habe, die aus solchen reinen Quellen 
 
 
407 [26-28]
         

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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Zweiter Abschnitt · 1903 Preussische Akademie Auflage
 
entsprungen wären, dennoch hier auch davon gar nicht die Rede sei, ob 
dies oder jenes geschehe, sondern die Vernunft für sich selbst und unab- 
hängig von allen Erscheinungen gebiete, was geschehen soll, mithin Hand- 
lungen, von denen die Welt vielleicht bisher noch gar kein Beispiel gege- 
 [5]  ben hat, an deren Thunlichkeit sogar der, so alles auf Erfahrung gründet, 
sehr zweifeln möchte, dennoch durch Vernunft unnachlaßlich geboten seien, 
und daß z. B. reine Redlichkeit in der Freundschaft um nichts weniger 
von jedem Menschen gefordert werden könne, wenn es gleich bis jetzt gar 
keinen redlichen Freund gegeben haben möchte, weil diese Pflicht als Pflicht 
 [10]  überhaupt vor aller Erfahrung in der Idee einer den Willen durch Grün- 
de a priori bestimmenden Vernunft liegt. 
     Setzt man hinzu, daß, wenn man dem Begriffe von Sittlichkeit nicht 
gar alle Wahrheit und Beziehung auf irgend ein mögliches Object bestrei- 
ten will, man nicht in Abrede ziehen könne, daß sein Gesetz von so aus- 
 [15]  gebreiteter Bedeutung sei, daß es nicht bloß für Menschen, sondern alle 
vernünftige Wesen überhaupt, nicht bloß unter zufälligen Bedin- 
gungen und mit Ausnahmen, sondern schlechterdings nothwendig 
gelten müsse: so ist klar, daß keine Erfahrung, auch nur auf die Möglich- 
keit solcher apodiktischen Gesetze zu schließen, Anlaß geben könne. Denn 
 [20]  mit welchem Rechte können wir das, was vielleicht nur unter den zufälli- 
gen Bedingungen der Menschheit gültig ist, als allgemeine Vorschrift für 
jede vernünftige Natur in unbeschränkte Achtung bringen, und wie sollen 
Gesetze der Bestimmung unseres Willens für Gesetze der Bestimmung des 
Willens eines vernünftigen Wesens überhaupt und nur als solche auch für 
 [25]  den unsrigen gehalten werden, wenn sie bloß empirisch wären und nicht 
völlig a priori aus reiner, aber praktischer Vernunft ihren Ursprung 
nähmen? 
     Man könnte auch der Sittlichkeit nicht übler rathen, als wenn man 
sie von Beispielen entlehnen wollte. Denn jedes Beispiel, was mir davon 
 [30]  vorgestellt wird, muß selbst zuvor nach Principien der Moralität beur- 
theilt werden, ob es auch würdig sei, zum ursprünglichen Beispiele, d. i. 
zum Muster, zu dienen, keinesweges aber kann es den Begriff derselben zu 
oberst an die Hand geben. Selbst der Heilige des Evangelii muß zuvor 
mit unserm Ideal der sittlichen Vollkommenheit verglichen werden, ehe 
 [35]  man ihn dafür erkennt; auch sagt er von sich selbst: was nennt ihr mich 
(den ihr sehet) gut? niemand ist gut (das Urbild des Guten) als der einige 
Gott (den ihr nicht sehet). Woher haben wir aber den Begriff von Gott 
 
 
408 [28-29]
         

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als dem höchsten Gut? Lediglich aus der Idee, die die Vernunft a priori 
von sittlicher Vollkommenheit entwirft und mit dem Begriffe eines freien 
Willens unzertrennlich verknüpft. Nachahmung findet im Sittlichen gar 
nicht statt, und Beispiele dienen nur zur Aufmunterung, d. i. sie setzen 
 [5]  die Thunlichkeit dessen, was das Gesetz gebietet, außer Zweifel, sie machen 
das, was die praktische Regel allgemeiner ausdrückt, anschaulich, können 
aber niemals berechtigen, ihr wahres Original, das in der Vernunft liegt, 
bei Seite zu setzen und sich nach Beispielen zu richten. 
     Wenn es denn keinen ächten obersten Grundsatz der Sittlichkeit giebt, 
 [10]  der nicht unabhängig von aller Erfahrung bloß auf reiner Vernunft be- 
ruhen müßte, so glaube ich, es sei nicht nöthig, auch nur zu fragen, ob es 
gut sei, diese Begriffe, so wie sie sammt den ihnen zugehörigen Principien 
a priori feststehen, im Allgemeinen (in abstracto) vorzutragen, wofern das 
Erkenntniß sich vom gemeinen unterscheiden und philosophisch heißen soll. 
 [15]  Aber in unsern Zeiten möchte dieses wohl nöthig sein. Denn wenn man 
Stimmen sammelte, ob reine von allem Empirischen abgesonderte Ver- 
nunfterkenntniß, mithin Metaphysik der Sitten, oder populäre praktische 
Philosophie vorzuziehen sei, so erräth man bald, auf welche Seite das 
Übergewicht fallen werde. 
 [20]       Diese Herablassung zu Volksbegriffen ist allerdings sehr rühmlich, 
wenn die Erhebung zu den Principien der reinen Vernunft zuvor gesche- 
hen und zur völligen Befriedigung erreicht ist, und das würde heißen, 
die Lehre der Sitten zuvor auf Metaphysik gründen, ihr aber, wenn sie 
fest steht, nachher durch Popularität Eingang verschaffen. Es ist aber 
 [25]  äußerst ungereimt, dieser in der ersten Untersuchung, worauf alle Richtig- 
keit der Grundsätze ankommt, schon willfahren zu wollen. Nicht allein daß 
dieses Verfahren auf das höchst seltene Verdienst einer wahren philoso- 
phischen Popularität niemals Anspruch machen kann, indem es gar 
keine Kunst ist, gemeinverständlich zu sein, wenn man dabei auf alle gründ- 
 [30]  liche Einsicht Verzicht thut, so bringt es einen ekelhaften Mischmasch von 
zusammengestoppelten Beobachtungen und halbvernünftelnden Principien 
zum Vorschein, daran sich schale Köpfe laben, weil es doch etwas gar 
Brauchbares fürs alltägliche Geschwätz ist, wo Einsehende aber Verwir- 
rung fühlen und unzufrieden, ohne sich doch helfen zu können, ihre Augen 
 [35]  wegwenden, obgleich Philosophen, die das Blendwerk ganz wohl durch- 
schauen, wenig Gehör finden, wenn sie auf einige Zeit von der vorgeb- 
 
 
409 [29-31]
         

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lichen Popularität abrufen, um nur allererst nach erworbener bestimmter 
Einsicht mit Recht populär sein zu dürfen. 
     Man darf nur die Versuche über die Sittlichkeit in jenem beliebten 
Geschmacke ansehen, so wird man bald die besondere Bestimmung der 
 [5]  menschlichen Natur (mitunter aber auch die Idee von einer vernünftigen 
Natur überhaupt), bald Vollkommenheit, bald Glückseligkeit, hier mora- 
lisches Gefühl, dort Gottesfurcht, von diesem etwas, von jenem auch etwas 
in wunderbarem Gemische antreffen, ohne daß man sich einfallen läßt zu 
fragen, ob auch überall in der Kenntniß der menschlichen Natur (die wir 
 [10]  doch nur von der Erfahrung herhaben können) die Principien der Sittlich- 
keit zu suchen seien, und, wenn dieses nicht ist, wenn die letztere völlig a 
priori, frei von allem Empirischen, schlechterdings in reinen Vernunftbe- 
griffen und nirgend anders auch nicht dem mindesten Theile nach anzu- 
treffen sind, den Anschlag zu fassen, diese Untersuchung als reine praktische 
 [15]  Weltweisheit, oder (wenn man einen so Verschrieenen Namen nennen darf) 
als Metaphysik*) der Sitten lieber ganz abzusondern, sie für sich allein 
zu ihrer ganzen Vollständigkeit zu bringen und das Publicum, das Popularität 
verlangt, bis zum Ausgange dieses Unternehmens zu vertrösten. 
     Es ist aber eine solche völlig isolirte Metaphysik der Sitten, die mit 
 [20]  keiner Anthropologie, mit keiner Theologie, mit keiner Physik oder Hyper- 
physik, noch weniger mit verborgenen Qualitäten (die man hypophysisch 
nennen könnte) vermischt ist, nicht allein ein unentbehrliches Substrat 
aller theoretischen, sicher bestimmten Erkenntniß der Pflichten, sondern zu- 
gleich ein Desiderat von der höchsten Wichtigkeit zur wirklichen Vollziehung 
 [25]  ihrer Vorschriften. Denn die reine und mit keinem fremden Zusatze von 
empirischen Anreizen vermischte Vorstellung der Pflicht und überhaupt 
des sittlichen Gesetzes hat auf das menschliche Herz durch den Weg der 
Vernunft allein (die hiebei zuerst inne wird, daß sie für sich selbst auch 
praktisch sein kann) einen so viel mächtigern Einfluß, als alle andere Trieb- 
 
 
 [30]       *) Man kann, wenn man will, (so wie die reine Mathematik von der ange- 
 wandten, die reine Logik von der angewandten unterschieden wird, also) die reine 
 Philosophie der Sitten (Metaphysik) von der angewandten (nämlich auf die mensch- 
 liche Natur) unterscheiden. Durch diese Benennung wird man auch sofort erinnert, 
 daß die sittlichen Principien nicht auf die Eigenheiten der menschlichen Natur ge- 
 [35]  gründet, sondern für sich a priori bestehend sein müssen, aus solchen aber, wie für 
 jede vernünftige Natur, also auch für die menschliche praktische Regeln müssen ab- 
 geleitet werden können. 
 
 
410 [31-33]
         

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federn*), die man aus dem empirischen Felde aufbieten mag, daß sie im 
Bewußtsein ihrer Würde die letzteren verachtet und nach und nach ihr 
Meister werden kann; an dessen Statt eine vermischte Sittenlehre, die aus 
Triebfedern von Gefühlen und Neigungen und zugleich aus Vernunftbe- 
 [5]  griffen zusammengesetzt ist, das Gemüth zwischen Bewegursachen, die sich 
unter kein Princip bringen lassen, die nur sehr zufällig zum Guten, öfters 
aber auch zum Bösen leiten können, schwankend machen muß. 
     Aus dem Angeführten erhellt: daß alle sittliche Begriffe völlig a priori 
in der Vernunft ihren Sitz und Ursprung haben und dieses zwar in der 
 [10]  gemeinsten Menschenvernunft eben sowohl, als der im höchsten Maße spe- 
culativen; daß sie von keinem empirischen und darum bloß zufälligen Er- 
kenntnisse abstrahirt werden können; daß in dieser Reinigkeit ihres Ur- 
sprungs eben ihre Würde liege, um uns zu obersten praktischen Principien 
zu dienen; daß man jedesmal so viel, als man Empirisches hinzu thut, 
 [15]  so viel auch ihrem ächten Einflusse und dem uneingeschränkten Werthe der 
Handlungen entziehe; daß es nicht allein die größte Nothwendigkeit in 
theoretischer Absicht, wenn es bloß auf Speculation ankommt, erfordere, 
sondern auch von der größten praktischen Wichtigkeit sei, ihre Begriffe und 
Gesetze aus reiner Vernunft zu schöpfen, rein und unvermengt vorzutra- 
 [20]  gen, ja den Umfang dieses ganzen praktischen oder reinen Vernunfter- 
kenntnisses, d. i. das ganze Vermögen der reinen praktischen Vernunft, zu 
bestimmen, hierin aber nicht, wie es wohl die speculative Philosophie er- 
laubt, ja gar bisweilen nothwendig findet, die Principien von der beson- 
 
 
      *) Ich habe einen Brief vom sel. vortrefflichen Sulzer, worin er mich frägt: 
 [25]  was doch die Ursache sein möge, warum die Lehren der Tugend, so viel Überzeu- 
 gendes sie auch für die Vernunft haben, doch so wenig ausrichten. Meine Antwort 
 wurde durch die Zurüstung dazu, um sie vollständig zu geben, verspätet. Allein es 
 ist keine andere, als daß die Lehrer selbst ihre Begriffe nicht ins Reine gebracht 
 haben, und indem sie es zu gut machen wollen, dadurch, daß sie allerwärts Beweg- 
 [30]  ursachen zum Sittlichguten auftreiben, um die Arznei recht kräftig zu machen, sie 
 sie verderben. Denn die gemeinste Beobachtung zeigt, daß, wenn man eine Hand- 
 lung der Rechtschaffenheit vorstellt, wie sie von aller Absicht auf irgend einen Vor- 
 theil in dieser oder einer andern Welt abgesondert selbst unter den größten Ver- 
 suchungen der Noth oder der Anlockung mit standhafter Seele ausgeübt worden, 
 [35]  sie jede ähnliche Handlung, die nur im mindesten durch eine fremde Triebfeder affi- 
 cirt war, weit hinter sich lasse und verdunkle, die Seele erhebe und den Wunsch er- 
 rege, auch so handeln zu können. Selbst Kinder von mittlerem Alter fühlen diesen 
 Eindruck, und ihnen sollte man Pflichten auch niemals anders vorstellen. 
 
 
411 [33-35]
         

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dern Natur der menschlichen Vernunft abhängig zu machen, sondern 
darum, weil moralische Gesetze für jedes vernünftige Wesen überhaupt 
gelten sollen, sie schon aus dem allgemeinen Begriffe eines vernünftigen 
Wesens überhaupt abzuleiten und auf solche Weise alle Moral, die zu ihrer 
 [5]  Anwendung auf Menschen der Anthropologie bedarf, zuerst unabhängig 
von dieser als reine Philosophie, d. i. als Metaphysik, vollständig (welches 
sich in dieser Art ganz abgesonderter Erkenntnisse wohl thun läßt) vorzu- 
tragen, wohl bewußt, daß es, ohne im Besitze derselben zu sein, vergeblich 
sei, ich will nicht sagen, das Moralische der Pflicht in allem, was pflicht- 
 [10]  mäßig ist, genau für die speculative Beurtheilung zu bestimmen, sondern 
sogar im bloß gemeinen und praktischen Gebrauche, vornehmlich der mo- 
ralischen Unterweisung, unmöglich sei, die Sitten auf ihre ächte Principien 
zu gründen und dadurch reine moralische Gesinnungen zu bewirken und 
zum höchsten Weltbesten den Gemüthern einzupfropfen. 
 [15]       Um aber in dieser Bearbeitung nicht bloß von der gemeinen sittlichen 
Beurtheilung (die hier sehr achtungswürdig ist) zur philosophischen, wie 
sonst geschehen ist, sondern von einer populären Philosophie, die nicht 
weiter geht, als sie durch Tappen vermittelst der Beispiele kommen kann, 
bis zur Metaphysik (die sich durch nichts Empirisches weiter zurückhalten 
 [20]  läßt und, indem sie den ganzen Inbegriff der Vernunfterkenntniß dieser 
Art ausmessen muß, allenfalls bis zu Ideen geht, wo selbst die Beispiele 
uns verlassen) durch die natürlichen Stufen fortzuschreiten, müssen wir 
das praktische Vernunftvermögen von seinen allgemeinen Bestimmungs- 
regeln an bis dahin, wo aus ihm der Begriff der Pflicht entspringt, ver- 
 [25]  folgen und deutlich darstellen. 
     Ein jedes Ding der Natur wirkt nach Gesetzen. Nur ein vernünftiges 
Wesen hat das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach 
Principien, zu handeln, oder einen Willen. Da zur Ableitung der Hand- 
lungen von Gesetzen Vernunft erfordert wird, so ist der Wille nichts 
 [30]  anders als praktische Vernunft. Wenn die Vernunft den Willen unaus- 
bleiblich bestimmt, so sind die Handlungen eines solchen Wesens, die als 
objectiv nothwendig erkannt werden, auch subjectiv nothwendig, d. i. der 
Wille ist ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft 
unabhängig von der Neigung als praktisch nothwendig, d. i. als gut, er- 
 [35]  kennt. Bestimmt aber die Vernunft für sich allein den Willen nicht hin- 
länglich, ist dieser noch subjectiven Bedingungen (gewissen Triebfedern) 
unterworfen, die nicht immer mit den objectiven übereinstimmen; mit 
 
 
412 [35-37]
         

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einem Worte, ist der Wille nicht an sich völlig der Vernunft gemäß (wie 
es bei Menschen wirklich ist): so sind die Handlungen, die objectiv als 
nothwendig erkannt werden, subjectiv zufällig, und die Bestimmung eines 
solchen Willens objectiven Gesetzen gemäß ist Nöthigung; d. i. das Ver- 
 [5]  hältniß der objectiven Gesetze zu einem nicht durchaus guten Willen wird 
vorgestellt als die Bestimmung des Willens eines vernünftigen Wesens 
zwar durch Gründe der Vernunft, denen aber dieser Wille seiner Natur 
nach nicht nothwendig folgsam ist. 
     Die Vorstellung eines objectiven Princips, sofern es für einen Willen 
 [10]  nöthigend ist, heißt ein Gebot (der Vernunft), und die Formel des Ge- 
bots heißt Imperativ. 
     Alle Imperativen werden durch ein Sollen ausgedrückt und zeigen 
dadurch das Verhältniß eines objectiven Gesetzes der Vernunft zu einem 
Willen an, der seiner subjectiven Beschaffenheit nach dadurch nicht noth- 
 [15]  wendig bestimmt wird (eine Nöthigung). Sie sagen, daß etwas zu thun 
oder zu unterlassen gut sein würde, allein sie sagen es einem Willen, der 
nicht immer darum etwas thut, weil ihm vorgestellt wird, daß es zu thun 
gut sei. Praktisch gut ist aber, was vermittelst der Vorstellungen der Ver- 
nunft, mithin nicht aus subjectiven Ursachen, sondern objectiv, d. i. aus 
 [20]  Gründen, die für jedes vernünftige Wesen als ein solches gültig sind, den 
Willen bestimmt. Es wird vom Angenehmen unterschieden als dem- 
jenigen, was nur vermittelst der Empfindung aus bloß subjectiven Ur- 
sachen, die nur für dieses oder jenes seinen Sinn gelten, und nicht als 
Princip der Vernunft, das für jedermann gilt, auf den Willen Einfluß 
 [25]  hat*). 
 
 
      *) Die Abhängigkeit des Begehrungsvermögens von Empfindungen heißt 
 Neigung, und diese beweiset also jederzeit ein Bedürfniß. Die Abhängigkeit eines 
 zufällig bestimmbaren Willens aber von Principien der Vernunft heißt ein Inter- 
 esse. Dieses findet also nur bei einem abhängigen Willen statt, der nicht von selbst 
 [30]  jederzeit der Vernunft gemäß ist; beim göttlichen Willen kann man sich kein Inter- 
 esse gedenken. Aber auch der menschliche Wille kann woran ein Interesse nehmen, 
 ohne darum aus Interesse zu handeln. Das erste bedeutet das praktische 
 Interesse an der Handlung, das zweite das pathologische Interesse am Gegen- 
 stande der Handlung. Das erste zeigt nur Abhängigkeit des Willens von Principien 
 [35]  der Vernunft an sich selbst, das zweite von den Principien derselben zum Behuf 
 der Neigung an, da nämlich die Vernunft nur die praktische Regel angiebt, wie 
 dem Bedürfnisse der Neigung abgeholfen werde. Im ersten Falle interessirt mich 
 die Handlung, im zweiten der Gegenstand der Handlung (so fern er mir angenehm 
 
 
413 [37-38]
         

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     Ein vollkommen guter Wille würde also eben sowohl unter objectiven 
Gesetzen (des Guten) stehen, aber nicht dadurch als zu gesetzmäßigen 
Handlungen genöthigt vorgestellt werden können, weil er von selbst nach 
seiner subjectiven Beschaffenheit nur durch die Vorstellung des Guten be- 
 [5]  stimmt werden kann. Daher gelten für den göttlichen und überhaupt 
für einen heiligen Willen keine Imperativen; das Sollen ist hier am 
unrechten Orte, weil das Wollen schon von selbst mit dem Gesetz noth- 
wendig einstimmig ist. Daher sind Imperativen nur Formeln, das Ver- 
hältniß objectiver Gesetze des Wollens überhaupt zu der subjectiven Un- 
 [10]  vollkommenheit des Willens dieses oder jenes vernünftigen Wesens, z. B. 
des menschlichen Willens, auszudrücken. 
     Alle Imperativen nun gebieten entweder hypothetisch, oder 
kategorisch. Jene stellen die praktische Nothwendigkeit einer möglichen 
Handlung als Mittel zu etwas anderem, was man will (oder doch mög- 
 [15]  lich ist, daß man es wolle), zu gelangen vor. Der kategorische Imperativ 
würde der sein, welcher eine Handlung als für sich selbst, ohne Beziehung 
auf einen andern Zweck, als objectiv-nothwendig vorstellte. 
     Weil jedes praktische Gesetz eine mögliche Handlung als gut und 
darum für ein durch Vernunft praktisch bestimmbares Subject als noth- 
 [20]  wendig vorstellt, so sind alle Imperativen Formeln der Bestimmung der 
Handlung, die nach dem Princip eines in irgend einer Art guten Willens 
nothwendig ist. Wenn nun die Handlung bloß wozu anders als Mittel 
gut sein würde, so ist der Imperativ hypothetisch; wird sie als an sich 
gut vorgestellt, mithin als nothwendig in einem an sich der Vernunft ge- 
 [25]  mäßen Willen, als Princip desselben, so ist er kategorisch. 
     Der Imperativ sagt also, welche durch mich mögliche Handlung gut 
wäre, und stellt die praktische Regel in Verhältniß auf einen Willen vor, 
der darum nicht sofort eine Handlung thut, weil sie gut ist, theils weil das 
Subject nicht immer weiß, daß sie gut sei, theils weil, wenn es dieses auch 
 [30]  wüßte, die Maximen desselben doch den objectiven Principien einer prak- 
tischen Vernunft zuwider sein könnten. 
     Der hypothetische Imperativ sagt also nur, daß die Handlung zu 
irgend einer möglichen oder wirklichen Absicht gut sei. Im erstern 
 
 
 ist). Wir haben im ersten Abschnitte gesehen: daß bei einer Handlung aus Pflicht 
 [35]  nicht auf das Interesse am Gegenstande, sondern bloß an der Handlung selbst und 
 ihrem Princip in der Vernunft (dem Gesetz) gesehen werden müsse. 
 
 
414 [38-40]
         

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Falle ist er ein problematisch-, im zweiten assertorisch-praktisches Prin- 
cip. Der kategorische Imperativ, der die Handlung ohne Beziehung auf 
irgend eine Absicht, d. i. auch ohne irgend einen andern Zweck, für sich 
als objectiv nothwendig erklärt, gilt als ein apodiktisch-praktisches 
 [5]  Princip. 
     Man kann sich das, was nur durch Kräfte irgend eines vernünftigen 
Wesens möglich ist, auch für irgend einen Willen als mögliche Absicht den- 
ken, und daher sind der Principien der Handlung, so fern diese als noth- 
wendig vorgestellt wird, um irgend eine dadurch zu bewirkende mögliche 
 [10]  Absicht zu erreichen, in der That unendlich viel. Alle Wissenschaften haben 
irgend einen praktischen Theil, der aus Aufgaben besteht, daß irgend ein 
Zweck für uns möglich sei, und aus Imperativen, wie er erreicht werden 
könne. Diese können daher überhaupt Imperativen der Geschicklichkeit 
heißen. Ob der Zweck vernünftig und gut sei, davon ist hier gar nicht die 
 [15]  Frage, sondern nur was man thun müsse, um ihn zu erreichen. Die Vor- 
schriften für den Arzt, um seinen Mann auf gründliche Art gesund zu ma- 
chen, und für einen Giftmischer, um ihn sicher zu tödten, sind in so fern 
von gleichem Werth, als eine jede dazu dient, ihre Absicht vollkommen zu 
bewirken. Weil man in der frühen Jugend nicht weiß, welche Zwecke uns 
 [20]  im Leben aufstoßen dürften, so suchen Eltern vornehmlich ihre Kinder recht 
vielerlei lernen zu lassen und sorgen für die Geschicklichkeit im Ge- 
brauch der Mittel zu allerlei beliebigen Zwecken, von deren keinem sie 
bestimmen können, ob er etwa wirklich künftig eine Absicht ihres Zög- 
lings werden könne, wovon es indessen doch möglich ist, daß er sie 
 [25]  einmal haben möchte, und diese Sorgfalt ist so groß, daß sie darüber ge- 
meiniglich verabsäumen, ihnen das Urtheil über den Werth der Dinge, 
die sie sich etwa zu Zwecken machen möchten, zu bilden und zu berichtigen. 
     Es ist gleichwohl ein Zweck, den man bei allen vernünftigen Wesen 
(so fern Imperative auf sie, nämlich als abhängige Wesen, passen) als 
 [30]  wirklich voraussetzen kann, und also eine Absicht, die sie nicht etwa bloß 
haben können, sondern von der man sicher voraussetzen kann, daß sie 
solche insgesammt nach einer Naturnothwendigkeit haben, und das ist die 
Absicht auf Glückseligkeit. Der hypothetische Imperativ, der die prak- 
tische Nothwendigkeit der Handlung als Mittel zur Beförderung der Glück- 
 [35]  seligkeit vorstellt, ist assertorisch. Man darf ihn nicht bloß als nothwen- 
dig zu einer ungewissen, bloß möglichen Absicht vortragen, sondern zu einer 
Absicht, die man sicher und a priori bei jedem Menschen voraussetzen kann, 
 
 
415 [40-42]
         

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weil sie zu seinem Wesen gehört. Nun kann man die Geschicklichkeit in der 
Wahl der Mittel zu seinem eigenen größten Wohlsein Klugheit*) im 
engsten Verstande nennen. Also ist der Imperativ, der sich auf die Wahl 
der Mittel zur eigenen Glückseligkeit bezieht, d. i. die Vorschrift der Klug- 
 [5]  heit, noch immer hypothetisch; die Handlung wird nicht schlechthin, son- 
dern nur als Mittel zu einer anderen Absicht geboten. 
     Endlich giebt es einen Imperativ, der, ohne irgend eine andere durch 
ein gewisses Verhalten zu erreichende Absicht als Bedingung zum Grunde 
zu legen, dieses Verhalten unmittelbar gebietet. Dieser Imperativ ist 
 [10]  kategorisch. Er betrifft nicht die Materie der Handlung und das, was 
aus ihr erfolgen soll, sondern die Form und das Princip, woraus sie selbst 
folgt, und das Wesentlich-Gute derselben besteht in der Gesinnung, der 
Erfolg mag sein, welcher er wolle. Dieser Imperativ mag der der Sitt- 
lichkeit heißen. 
 [15]       Das Wollen nach diesen dreierlei Principien wird auch durch die 
Ungleichheit der Nöthigung des Willens deutlich unterschieden. Um 
diese nun auch merklich zu machen, glaube ich, daß man sie in ihrer Ord- 
nung am angemessensten so benennen würde, wenn man sagte: sie wären 
entweder Regeln der Geschicklichkeit, oder Rathschläge der Klugheit, 
 [20]  oder Gebote (Gesetze) der Sittlichkeit. Denn nur das Gesetz führt 
den Begriff einer unbedingten und zwar objectiven und mithin allge- 
mein gültigen Nothwendigkeit bei sich, und Gebote sind Gesetze, denen 
gehorcht, d. i. auch wider Neigung Folge geleistet, werden muß. Die 
Rathgebung enthält zwar Nothwendigkeit, die aber bloß unter subjec- 
 [25]  tiver zufälliger Bedingung, ob dieser oder jener Mensch dieses oder jenes 
zu seiner Glückseligkeit zähle, gelten kann; dagegen der kategorische Im- 
perativ durch keine Bedingung eingeschränkt wird und als absolut-, ob- 
gleich praktisch-nothwendig ganz eigentlich ein Gebot heißen kann. Man 
könnte die ersteren Imperative auch technisch (zur Kunst gehörig), die 
 
 
 [30]       *) Das Wort Klugheit wird in zwiefachem Sinn genommen, einmal kann es 
 den Namen Weltklugheit, im zweiten den der Privatklugheit führen. Die erste ist die 
 Geschicklichkeit eines Menschen, auf andere Einfluß zu haben, um sie zu seinen Ab- 
 sichten zu gebrauchen. Die zweite die Einsicht, alle diese Absichten zu seinem eigenen 
 daurenden Vortheil zu vereinigen. Die letztere ist eigentlich diejenige, worauf selbst 
 [35]  der Werth der erstern zurückgeführt wird, und wer in der erstern Art klug ist, nicht 
 aber in der zweiten, von dem könnte man besser sagen: er ist gescheut und verschlagen, 
 im Ganzen aber doch unklug. 
 
 
416 [42-44]
         

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zweiten pragmatisch*) (zur Wohlfahrt), die dritten moralisch (zum 
freien Verhalten überhaupt, d. i. zu den Sitten gehörig) nennen. 
     Nun entsteht die Frage: wie sind alle diese Imperative möglich? 
Diese Frage verlangt nicht zu wissen, wie die Vollziehung der Handlung, 
 [5]  welche der Imperativ gebietet, sondern wie bloß die Nöthigung des Wil- 
lens, die der Imperativ in der Aufgabe ausdrückt, gedacht werden könne. 
Wie ein Imperativ der Geschicklichkeit möglich sei, bedarf wohl keiner be- 
sondern Erörterung. Wer den Zweck will, will (so fern die Vernunft auf 
seine Handlungen entscheidenden Einfluß hat) auch das dazu unentbehr- 
 [10]  lich nothwendige Mittel, das in seiner Gewalt ist. Dieser Satz ist, was 
das Wollen betrifft, analytisch; denn in dem Wollen eines Objects als 
meiner Wirkung wird schon meine Causalität als handelnde Ursache, d. i. 
der Gebrauch der Mittel, gedacht, und der Imperativ zieht den Begriff 
nothwendiger Handlungen zu diesem Zwecke schon aus dem Begriff eines 
 [15]  Wollens dieses Zwecks heraus (die Mittel selbst zu einer vorgesetzten Ab- 
sicht zu bestimmen, dazu gehören allerdings synthetische Sätze, die aber 
nicht den Grund betreffen, den Actus des Willens, sondern das Object 
wirklich zu machen). Daß, um eine Linie nach einem sichern Princip in 
zwei gleiche Theile zu theilen, ich aus den Enden derselben zwei Kreuz- 
 [20]  bogen machen müsse, das lehrt die Mathematik freilich nur durch synthe- 
tische Sätze; aber daß, wenn ich weiß, durch solche Handlung allein könne 
die gedachte Wirkung geschehen, ich, wenn ich die Wirkung vollständig will, 
auch die Handlung wolle, die dazu erforderlich ist, ist ein analytischer Satz; 
denn etwas als eine auf gewisse Art durch mich mögliche Wirkung und 
 [25]  mich in Ansehung ihrer auf dieselbe Art handelnd vorstellen, ist ganz ei- 
nerlei. 
     Die Imperativen der Klugheit würden, wenn es nur so leicht wäre, 
einen bestimmten Begriff von Glückseligkeit zu geben, mit denen der Ge- 
schicklichkeit ganz und gar übereinkommen und eben sowohl analytisch sein. 
 [30]  Denn es würde eben sowohl hier als dort heißen: wer den Zweck will, will 
auch (der Vernunft gemäß nothwendig) die einzigen Mittel, die dazu in 
 
 
      *) Mich deucht, die eigentliche Bedeutung des Worts pragmatisch könne so 
 am genauesten bestimmt werden. Denn pragmatisch werden die Sanctionen ge- 
 nannt, welche eigentlich nicht aus dem Rechte der Staaten als nothwendige Gesetze, 
 [35]  sondern aus der Vorsorge für die allgemeine Wohlfahrt fließen. Pragmatisch ist 
 eine Geschichte abgefaßt, wenn sie klug macht, d. i. die Welt belehrt, wie sie ihren 
 Vortheil besser, oder wenigstens eben so gut als die Vorwelt besorgen könne. 
 
 
417 [44-46]
         

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seiner Gewalt sind. Allein es ist ein Unglück, daß der Begriff der Glück- 
seligkeit ein so unbestimmter Begriff ist, daß, obgleich jeder Mensch zu die- 
ser zu gelangen wünscht, er doch niemals bestimmt und mit sich selbst ein- 
stimmig sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle. Die Ursache 
 [5]  davon ist: daß alle Elemente, die zum Begriff der Glückseligkeit gehören, 
insgesammt empirisch sind, d. i. aus der Erfahrung müssen entlehnt wer- 
den, daß gleichwohl zur Idee der Glückseligkeit ein absolutes Ganze, ein 
Maximum des Wohlbefindens, in meinem gegenwärtigen und jedem zu- 
künftigen Zustande erforderlich ist. Nun ists unmöglich, daß das ein- 
 [10]  sehendste und zugleich allervermögendste, aber doch endliche Wesen sich ei- 
nen bestimmten Begriff von dem mache, was er hier eigentlich wolle. Will 
er Reichthum, wie viel Sorge, Neid und Nachstellung könnte er sich da- 
durch nicht auf den Hals ziehen! Will er viel Erkenntniß und Einsicht, 
vielleicht könnte das ein nur um desto schärferes Auge werden, um die 
 [15]  Übel, die sich für ihn jetzt noch verbergen und doch nicht vermieden werden 
können, ihm nur um desto schrecklicher zu zeigen, oder seinen Begierden, 
die ihm schon genug zu schaffen machen, noch mehr Bedürfnisse aufzubür- 
den. Will er ein langes Leben, wer steht ihm dafür, daß es nicht ein lan- 
ges Elend sein würde? Will er wenigstens Gesundheit, wie oft hat noch 
 [20]  Ungemächlichkeit des Körpers von Ausschweifung abgehalten, darein un- 
beschränkte Gesundheit würde haben fallen lassen, u. s. w. Kurz, er ist 
nicht vermögend, nach irgend einem Grundsatze mit völliger Gewißheit zu 
bestimmen, was ihn wahrhaftig glücklich machen werde, darum weil hiezu 
Allwissenheit erforderlich sein würde. Man kann also nicht nach bestimm- 
 [25]  ten Principien handeln, um glücklich zu sein, sondern nur nach empirischen 
Rathschlägen, z. B. der Diät, der Sparsamkeit, der Höflichkeit, der Zu- 
rückhaltung u. s. w., von welchen die Erfahrung lehrt, daß sie das Wohl- 
befinden im Durchschnitt am meisten befördern. Hieraus folgt, daß die 
Imperativen der Klugheit, genau zu reden, gar nicht gebieten, d. i. Hand- 
 [30]  lungen objectiv als praktisch-nothwendig darstellen, können, daß sie eher 
für Anrathungen (consilia) als Gebote (praecepta) der Vernunft zu hal- 
ten sind, daß die Aufgabe: sicher und allgemein zu bestimmen, welche 
Handlung die Glückseligkeit eines vernünftigen Wesens befördern werde, 
völlig unauflöslich, mithin kein Imperativ in Ansehung derselben möglich 
 [35]  sei, der im strengen Verstande geböte, das zu thun, was glücklich macht, 
weil Glückseligkeit nicht ein Ideal der Vernunft, sondern der Einbildungs- 
kraft ist, was bloß auf empirischen Gründen beruht, von denen man ver- 
 
 
418 [46-47]
         

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geblich erwartet, daß sie eine Handlung bestimmen sollten, dadurch die To- 
talität einer in der That unendlichen Reihe von Folgen erreicht würde. 
Dieser Imperativ der Klugheit würde indessen, wenn man annimmt, die 
Mittel zur Glückseligkeit ließen sich sicher angeben, ein analytisch-prakti- 
 [5]  scher Satz sein; denn er ist von dem Imperativ der Geschicklichkeit nur 
darin unterschieden, daß bei diesem der Zweck bloß möglich, bei jenem aber 
gegeben ist; da beide aber bloß die Mittel zu demjenigen gebieten, von dem 
man voraussetzt, daß man es als Zweck wollte: so ist der Imperativ, der 
das Wollen der Mittel für den, der den Zweck will, gebietet, in beiden 
 [10]  Fällen analytisch. Es ist also in Ansehung der Möglichkeit eines solchen 
Imperativs auch keine Schwierigkeit. 
     Dagegen, wie der Imperativ der Sittlichkeit möglich sei, ist ohne 
Zweifel die einzige einer Auflösung bedürftige Frage, da er gar nicht 
hypothetisch ist und also die objectiv-vorgestellte Nothwendigkeit sich auf 
 [15]  keine Voraussetzung stützen kann, wie bei den hypothetischen Imperativen. 
Nur ist immer hiebei nicht aus der Acht zu lassen, daß es durch kein 
Beispiel, mithin empirisch, auszumachen sei, ob es überall irgend einen 
dergleichen Imperativ gebe, sondern zu besorgen, daß alle, die kategorisch 
scheinen, doch versteckter Weise hypothetisch sein mögen. Z. B. wenn es 
 [20]  heißt: du sollt nichts betrüglich versprechen, und man nimmt an, daß die 
Nothwendigkeit dieser Unterlassung nicht etwa bloße Rathgebung zu Ver- 
meidung irgend eines andern Übels sei, so daß es etwa hieße: du sollt nicht 
lügenhaft versprechen, damit du nicht, wenn es offenbar wird, dich um den 
Credit bringest; sondern eine Handlung dieser Art müsse für sich selbst als 
 [25]  böse betrachtet werden, der Imperativ des Verbots sei also kategorisch: so 
kann man doch in keinem Beispiel mit Gewißheit darthun, daß der Wille 
hier ohne andere Triebfeder, bloß durchs Gesetz, bestimmt werde, ob es 
gleich so scheint; denn es ist immer möglich, daß ingeheim Furcht vor Be- 
schämung, vielleicht auch dunkle Besorgniß anderer Gefahren Einfluß auf 
 [30]  den Willen haben möge. Wer kann das Nichtsein einer Ursache durch Er- 
fahrung beweisen, da diese nichts weiter lehrt, als daß wir jene nicht wahr- 
nehmen? Auf solchen Fall aber würde der sogenannte moralische Im- 
perativ der als ein solcher kategorisch und unbedingt erscheint, in der 
That nur eine pragmatische Vorschrift sein, die uns auf unsern Vortheil 
 [35]  aufmerksam macht und uns bloß lehrt, diesen in Acht zu nehmen. 
     Wir werden also die Möglichkeit eines kategorischen Imperativs 
gänzlich a priori zu untersuchen haben, da uns hier der Vortheil nicht zu 
 
 
419 [47-49]
         

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statten kommt, daß die Wirklichkeit desselben in der Erfahrung gegeben 
und also die Möglichkeit nicht zur Festsetzung, sondern bloß zur Erklärung 
nöthig wäre. So viel ist indessen vorläufig einzusehen: daß der kategorische 
Imperativ allein als ein praktisches Gesetz laute, die übrigen insgesammt 
 [5]  zwar Principien des Willens, aber nicht Gesetze heißen können: weil, 
was bloß zur Erreichung einer beliebigen Absicht zu thun nothwendig ist, 
an sich als zufällig betrachtet werden kann, und wir von der Vorschrift 
jederzeit los sein können, wenn wir die Absicht aufgeben, dahingegen das 
unbedingte Gebot dem Willen kein Belieben in Ansehung des Gegentheils 
 [10]  frei läßt, mithin allein diejenige Nothwendigkeit bei sich führt, welche wir 
zum Gesetze verlangen. 
     Zweitens ist bei diesem kategorischen Imperativ oder Gesetze der Sitt- 
lichkeit der Grund der Schwierigkeit (die Möglichkeit desselben einzusehen) 
auch sehr groß. Er ist ein synthetisch-praktischer Satz*) a priori, und da 
 [15]  die Möglichkeit der Sätze dieser Art einzusehen so viel Schwierigkeit im 
theoretischen Erkenntnisse hat, so läßt sich leicht abnehmen, daß sie im 
praktischen nicht weniger haben werde. 
     Bei dieser Aufgabe wollen wir zuerst versuchen, ob nicht vielleicht der 
bloße Begriff eines kategorischen Imperativs auch die Formel desselben 
 [20]  an die Hand gebe, die den Satz enthält, der allein ein kategorischer Impe- 
rativ sein kann; denn wie ein solches absolutes Gebot möglich sei, wenn 
wir auch gleich wissen, wie es lautet, wird noch besondere und schwere Be- 
mühung erfordern, die wir aber zum letzten Abschnitte aussetzen. 
     Wenn ich mir einen hypothetischen Imperativ überhaupt denke, 
 [25]  so weiß ich nicht zum voraus, was er enthalten werde: bis mir die Be- 
dingung gegeben ist. Denke ich mir aber einen kategorischen Impera- 
tiv, so weiß ich sofort, was er enthalte. Denn da der Imperativ außer 
dem Gesetze nur die Nothwendigkeit der Maxime**) enthält, diesem Gesetze 
 
 
      *) Ich verknüpfe mit dem Willen ohne vorausgesetzte Bedingung aus irgend 
 [30]  einer Neigung die That a priori, mithin nothwendig (obgleich nur objectiv, d. i. 
 unter der Idee einer Vernunft, die über alle subjective Bewegursachen völlige Ge- 
 walt hätte). Dieses ist also ein praktischer Satz, der das Wollen einer Handlung 
 nicht aus einem anderen, schon vorausgesetzten analytisch ableitet (denn wir haben 
 keinen so vollkommenen Willen), sondern mit dem Begriffe des Willens eines ver- 
 [35]  nünftigen Wesens unmittelbar als etwas, das in ihm nicht enthalten ist, verknüpft. 
      **) Maxime ist das subjective Princip zu handeln und muß vom objectiven 
 Princip, nämlich dem praktischen Gesetze, unterschieden werden. Jene enthält die 
 
 
420 [49-51]
         

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gemäß zu sein, das Gesetz aber keine Bedingung enthält, auf die es ein- 
geschränkt war, so bleibt nichts als die Allgemeinheit eines Gesetzes über- 
haupt übrig, welchem die Maxime der Handlung gemäß sein soll, und 
welche Gemäßheit allein der Imperativ eigentlich als nothwendig vor- 
 [5]  stellt. 
     Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger und zwar dieser: 
handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wol- 
len kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde. 
     Wenn nun aus diesem einigen Imperativ alle Imperativen der 
 [10]  Pflicht als aus ihrem Princip abgeleitet werden können, so werden wir, 
ob wir es gleich unausgemacht lassen, ob nicht überhaupt das, was man 
Pflicht nennt, ein leerer Begriff sei, doch wenigstens anzeigen können, was 
wir dadurch denken und was dieser Begriff sagen wolle. 
     Weil die Allgemeinheit des Gesetzes, wornach Wirkungen geschehen, 
 [15]  dasjenige ausmacht, was eigentlich Natur im allgemeinsten Verstande 
(der Form nach), d. i. das Dasein der Dinge, heißt, so fern es nach all- 
gemeinen Gesetzen bestimmt ist, so könnte der allgemeine Imperativ der 
Pflicht auch so lauten: handle so, als ob die Maxime deiner Hand- 
lung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden 
 [20]  sollte. 
     Nun wollen wir einige Pflichten herzählen nach der gewöhnlichen 
Eintheilung derselben in Pflichten gegen uns selbst und gegen andere 
Menschen, in vollkommene und unvollkommene Pflichten.*) 
     1) Einer, der durch eine Reihe von Übeln, die bis zur Hoffnungs- 
 [25]  losigkeit angewachsen ist, einen Überdruß am Leben empfindet, ist noch 
 
 
 praktische Regel, die die Vernunft den Bedingungen des Subjects gemäß (öfters der 
 Unwissenheit oder auch den Neigungen desselben) bestimmt, und ist also der Grund- 
 satz, nach welchem das Subject handelt; das Gesetz aber ist das objective Princip, 
 gültig für jedes vernünftige Wesen, und der Grundsatz, nach dem es handeln soll, 
 [30]  d. i. ein Imperativ. 
      *) Man muß hier wohl merken, daß ich die Eintheilung der Pflichten für eine 
 künftige Metaphysik der Sitten mir gänzlich vorbehalte, diese hier also nur als 
 beliebig (um meine Beispiele zu ordnen) dastehe. Übrigens verstehe ich hier unter 
 einer vollkommenen Pflicht diejenige, die keine Ausnahme zum Vortheil der Neigung 
 [35]  verstattet, und da habe ich nicht bloß äußere, sondern auch innere vollkommene 
 Pflichten, welches dem in Schulen angenommenen Wortgebrauch zuwider läuft, ich 
 aber hier nicht zu verantworten gemeint bin, weil es zu meiner Absicht einerlei ist, 
 ob man es mir einräumt, oder nicht. 
 
 
421 [51-53]
         

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so weit im Besitze seiner Vernunft, daß er sich selbst fragen kann, ob es 
auch nicht etwa der Pflicht gegen sich selbst zuwider sei, sich das Leben zu 
nehmen. Nun versucht er: ob die Maxime seiner Handlung wohl ein all- 
gemeines Naturgesetz werden könne. Seine Maxime aber ist: ich mache 
 [5]  es mir aus Selbstliebe zum Princip, wenn das Leben bei seiner längern 
Frist mehr Übel droht, als es Annehmlichkeit verspricht, es mir abzu- 
kürzen. Es frägt sich nur noch, ob dieses Princip der Selbstliebe ein all- 
gemeines Naturgesetz werden könne. Da sieht man aber bald, daß eine 
Natur, deren Gesetz es wäre, durch dieselbe Empfindung, deren Bestim- 
 [10]  mung es ist, zur Beförderung des Lebens anzutreiben, das Leben selbst 
zu zerstören, ihr selbst widersprechen und also nicht als Natur bestehen 
würde, mithin jene Maxime unmöglich als allgemeines Naturgesetz statt- 
finden könne und folglich dem obersten Princip aller Pflicht gänzlich wider- 
streite. 
 [15]       2) Ein anderer sieht sich durch Noth gedrungen, Geld zu borgen. Er 
weiß wohl, daß er nicht wird bezahlen können, sieht aber auch, daß ihm 
nichts geliehen werden wird, wenn er nicht festiglich verspricht, es zu einer 
bestimmten Zeit zu bezahlen. Er hat Lust, ein solches Versprechen zu 
thun; noch aber hat er so viel Gewissen, sich zu fragen: ist es nicht uner- 
 [20]  laubt und pflichtwidrig, sich auf solche Art aus Noth zu helfen? Gesetzt, 
er beschlösse es doch, so würde seine Maxime der Handlung so lauten: 
wenn ich mich in Geldnoth zu sein glaube, so will ich Geld borgen und 
versprechen es zu bezahlen, ob ich gleich weiß, es werde niemals geschehen. 
Nun ist dieses Princip der Selbstliebe oder der eigenen Zuträglichkeit 
 [25]  mit meinem ganzen künftigen Wohlbefinden vielleicht wohl zu vereini- 
gen, allein jetzt ist die Frage: ob es recht sei. Ich verwandle also die 
Zumuthung der Selbstliebe in ein allgemeines Gesetz und richte die Frage 
so ein: wie es dann stehen würde, wenn meine Maxime ein allgemeines 
Gesetz würde. Da sehe ich nun sogleich, daß sie niemals als allgemeines 
 [30]  Naturgesetz gelten und mit sich selbst zusammenstimmen könne, sondern 
sich nothwendig widersprechen müsse. Denn die Allgemeinheit eines Ge- 
setzes, daß jeder, nachdem er in Noth zu sein glaubt, versprechen könne, 
was ihm einfällt, mit dem Vorsatz, es nicht zu halten, würde das Ver- 
sprechen und den Zweck, den man damit haben mag, selbst unmöglich 
 [35]  machen, indem niemand glauben würde, daß ihm was versprochen sei, 
sondern über alle solche Äußerung als eitles Vorgeben lachen würde. 
     3) Ein dritter findet in sich ein Talent, welches vermittelst einiger 
 
 
422 [53-55]
         

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Cultur ihn zu einem in allerlei Absicht brauchbaren Menschen machen 
könnte. Er sieht sich aber in bequemen Umständen und zieht vor, lieber 
dem Vergnügen nachzuhängen, als sich mit Erweiterung und Verbesserung 
seiner glücklichen Naturanlagen zu bemühen. Noch frägt er aber: ob außer 
 [5]  der Übereinstimmung, die seine Maxime der Verwahrlosung seiner Natur- 
gaben mit seinem Hange zur Ergötzlichkeit an sich hat, sie auch mit dem, 
was man Pflicht nennt, übereinstimme. Da sieht er nun, daß zwar eine 
Natur nach einem solchen allgemeinen Gesetze immer noch bestehen könne, 
obgleich der Mensch (so wie die Südsee-Einwohner) sein Talent rosten 
 [10]  ließe und sein Leben bloß auf Müßiggang, Ergötzlichkeit, Fortpflanzung, 
mit einem Wort auf Genuß zu verwenden bedacht wäre; allein er kann un- 
möglich wollen, daß dieses ein allgemeines Naturgesetz werde, oder als 
ein solches in uns durch Naturinstinct gelegt sei. Denn als ein vernünf- 
tiges Wesen will er nothwendig, daß alle Vermögen in ihm entwickelt 
 [15]  werden, weil sie ihm doch zu allerlei möglichen Absichten dienlich und ge- 
geben sind. 
     Noch denkt ein vierter, dem es wohl geht, indessen er sieht, daß an- 
dere mit großen Mühseligkeiten zu kämpfen haben (denen er auch wohl 
helfen könnte): was gehts mich an? mag doch ein jeder so glücklich sein, 
 [20]  als es der Himmel will, oder er sich selbst machen kann, ich werde ihm 
nichts entziehen, ja nicht einmal beneiden; nur zu seinem Wohlbefinden 
oder seinem Beistande in der Noth habe ich nicht Lust etwas beizutragen! 
Nun könnte allerdings, wenn eine solche Denkungsart ein allgemeines 
Naturgesetz würde, das menschliche Geschlecht gar wohl bestehen und ohne 
 [25]  Zweifel noch besser, als wenn jedermann von Theilnehmung und Wohl- 
wollen schwatzt, auch sich beeifert, gelegentlich dergleichen auszuüben, da- 
gegen aber auch, wo er nur kann, betrügt, das Recht der Menschen ver- 
kauft, oder ihm sonst Abbruch thut. Aber obgleich es möglich ist, daß 
nach jener Maxime ein allgemeines Naturgesetz wohl bestehen könnte: so 
 [30]  ist es doch unmöglich, zu wollen, daß ein solches Princip als Naturgesetz 
allenthalben gelte. Denn ein Wille, der dieses beschlösse, würde sich selbst 
widerstreiten, indem der Fälle sich doch manche eräugnen können, wo er 
anderer Liebe und Theilnehmung bedarf, und wo er durch ein solches aus 
seinem eigenen Willen entsprungenes Naturgesetz sich selbst alle Hoffnung 
 [35]  des Beistandes, den er sich wünscht, rauben würde. 
     Dieses sind nun einige von den vielen wirklichen oder wenigstens von 
uns dafür gehaltenen Pflichten, deren Abtheilung aus dem einigen ange- 
 
 
423 [55-57]
         

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führten Princip klar in die Augen fällt. Man muß wollen können, 
daß eine Maxime unserer Handlung ein allgemeines Gesetz werde: dies 
ist der Kanon der moralischen Beurtheilung derselben überhaupt. Einige 
Handlungen sind so beschaffen, daß ihre Maxime ohne Widerspruch nicht 
 [5]  einmal als allgemeines Naturgesetz gedacht werden kann; weit gefehlt, 
daß man noch wollen könne, es sollte ein solches werden. Bei andern 
ist zwar jene innere Unmöglichkeit nicht anzutreffen, aber es ist doch un- 
möglich, zu wollen, daß ihre Maxime zur Allgemeinheit eines Natur- 
gesetzes erhoben werde, weil ein solcher Wille sich selbst widersprechen 
 [10]  würde. Man sieht leicht: daß die erstere der strengen oder engeren (un- 
nachlaßlichen) Pflicht, die zweite nur der weiteren (verdienstlichen) Pflicht 
widerstreite, und so alle Pflichten, was die Art der Verbindlichkeit (nicht 
das Object ihrer Handlung) betrifft, durch diese Beispiele in ihrer Ab- 
hängigkeit von dem einigen Princip vollständig aufgestellt worden. 
 [15]       Wenn wir nun auf uns selbst bei jeder Übertretung einer Pflicht Acht 
haben, so finden wir, daß wir wirklich nicht wollen, es solle unsere Maxime 
ein allgemeines Gesetz werden, denn das ist uns unmöglich, sondern das 
Gegentheil derselben soll vielmehr allgemein ein Gesetz bleiben; nur neh- 
men wir uns die Freiheit, für uns oder (auch nur für diesesmal) zum 
 [20]  Vortheil unserer Neigung davon eine Ausnahme zu machen. Folglich 
wenn wir alles aus einem und demselben Gesichtspunkte, nämlich der 
Vernunft, erwögen, so würden wir einen Widerspruch in unserm eigenen 
Willen antreffen, nämlich daß ein gewisses Princip objectiv als allge- 
meines Gesetz nothwendig sei und doch subjectiv nicht allgemein gelten, 
 [25]  sondern Ausnahmen verstatten sollte. Da wir aber einmal unsere Hand- 
lung aus dem Gesichtspunkte eines ganz der Vernunft gemäßen, dann 
aber auch eben dieselbe Handlung aus dem Gesichtspunkte eines durch 
Neigung afficirten Willens betrachten, so ist wirklich hier kein Wider- 
spruch, wohl aber ein Widerstand der Neigung gegen die Vorschrift der 
 [30]  Vernunft (antagonismus), wodurch die Allgemeinheit des Princips (uni- 
versalitas) in eine bloße Gemeingültigkeit (generalitas) verwandelt wird, 
dadurch das praktische Vernunftprincip mit der Maxime auf dem halben 
Wege zusammenkommen soll. Ob nun dieses gleich in unserm eigenen 
unparteiisch angestellten Urtheile nicht gerechtfertigt werden kann, so be- 
 [35]  weiset es doch, daß wir die Gültigkeit des kategorischen Imperativs wirk- 
lich anerkennen und uns (mit aller Achtung für denselben) nur einige, wie 
es uns scheint, unerhebliche und uns abgedrungene Ausnahmen erlauben. 
 
 
424 [57-59]
         

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     Wir haben so viel also wenigstens dargethan, daß, wenn Pflicht ein 
Begriff ist, der Bedeutung und wirkliche Gesetzgebung für unsere Hand- 
lungen enthalten soll, diese nur in kategorischen Imperativen, keinesweges 
aber in hypothetischen ausgedrückt werden könne; imgleichen haben wir, 
 [5]  welches schon viel ist, den Inhalt des kategorischen Imperativs, der das 
Princip aller Pflicht (wenn es überhaupt dergleichen gäbe) enthalten 
müßte, deutlich und zu jedem Gebrauche bestimmt dargestellt. Noch sind 
wir aber nicht so weit, a priori zu beweisen, daß dergleichen Imperativ 
wirklich stattfinde, daß es ein praktisches Gesetz gebe, welches schlechter- 
 [10]  dings und ohne alle Triebfedern für sich gebietet, und daß die Befolgung 
dieses Gesetzes Pflicht sei. 
     Bei der Absicht, dazu zu gelangen, ist es von der äußersten Wichtig- 
keit, sich dieses zur Warnung dienen zu lassen, daß man es sich ja nicht in 
den Sinn kommen lasse, die Realität dieses Princips aus der besondern 
 [15]  Eigenschaft der menschlichen Natur ableiten zu wollen. Denn 
Pflicht soll praktisch-unbedingte Nothwendigkeit der Handlung sein; sie 
muß also für alle vernünftige Wesen (auf die nur überall ein Imperativ 
treffen kann) gelten und allein darum auch für allen menschlichen Wil- 
len ein Gesetz sein. Was dagegen aus der besondern Naturanlage der 
 [20]  Menschheit, was aus gewissen Gefühlen und Hange, ja sogar wo möglich 
aus einer besonderen Richtung, die der menschlichen Vernunft eigen wäre 
und nicht nothwendig für den Willen eines jeden vernünftigen Wesens 
gelten müßte, abgeleitet wird, das kann zwar eine Maxime für uns, aber 
kein Gesetz abgeben, ein subjectiv Princip, nach welchem wir handeln zu 
 [25]  dürfen Hang und Neigung haben, aber nicht ein objectives, nach welchem 
wir angewiesen wären zu handeln, wenn gleich aller unser Hang, Nei- 
gung und Natureinrichtung dawider wäre, sogar, daß es um desto mehr 
die Erhabenheit und innere Würde des Gebots in einer Pflicht beweiset, 
je weniger die subjectiven Ursachen dafür, je mehr sie dagegen sind, ohne 
 [30]  doch deswegen die Nöthigung durchs Gesetz nur im mindesten zu schwächen 
und seiner Gültigkeit etwas zu benehmen. 
     Hier sehen wir nun die Philosophie in der That auf einen mißlichen 
Standpunkt gestellt, der fest sein soll, unerachtet er weder im Himmel, noch 
auf der Erde an etwas gehängt oder woran gestützt wird. Hier soll sie ihre 
 [35]  Lauterkeit beweisen als Selbsthalterin ihrer Gesetze, nicht als Herold derje- 
nigen, welche ihr ein eingepflanzter Sinn, oder wer weiß welche vormund- 
schaftliche Natur einflüstert, die insgesammt, sie mögen immer besser sein 
 
 
425 [59-60]
         

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als gar nichts, doch niemals Grundsätze abgeben können, die die Vernunft 
dictirt, und die durchaus völlig a priori ihren Quell und hiemit zu- 
gleich ihr gebietendes Ansehen haben müssen: nichts von der Neigung des 
Menschen, sondern alles von der Obergewalt des Gesetzes und der schul- 
 [5]  digen Achtung für dasselbe zu erwarten, oder den Menschen widrigenfalls 
zur Selbstverachtung und innern Abscheu zu verurtheilen. 
     Alles also, was empirisch ist, ist als Zuthat zum Princip der Sitt- 
lichkeit nicht allein dazu ganz untauglich, sondern der Lauterkeit der Sitten 
selbst höchst nachtheilig, an welchen der eigentliche und über allen Preis 
 [10]  erhabene Werth eines schlechterdings guten Willens eben darin besteht, 
daß das Princip der Handlung von allen Einflüssen zufälliger Gründe, 
die nur Erfahrung an die Hand geben kann, frei sei. Wider diese Nach- 
lässigkeit oder gar niedrige Denkungsart in Aufsuchung des Princips unter 
empirischen Bewegursachen und Gesetzen kann man auch nicht zu viel und 
 [15]  zu oft Warnungen ergehen lassen, indem die menschliche Vernunft in ihrer 
Ermüdung gern auf diesem Polster ausruht und in dem Traume süßer 
Vorspiegelungen (die sie doch statt der Juno eine Wolke umarmen lassen) 
der Sittlichkeit einen aus Gliedern ganz verschiedener Abstammung zu- 
sammengeflickten Bastard unterschiebt, der allem ähnlich sieht, was man 
 [20]  daran sehen will, nur der Tugend nicht für den, der sie einmal in ihrer 
wahren Gestalt erblickt hat.*) 
     Die Frage ist also diese: ist es ein nothwendiges Gesetz für alle 
vernünftige Wesen, ihre Handlungen jederzeit nach solchen Maximen 
zu beurtheilen, von denen sie selbst wollen können, daß sie zu allgemeinen 
 [25]  Gesetzen dienen sollen? Wenn es ein solches ist, so muß es (völlig a pri- 
ori) schon mit dem Begriffe des Willens eines vernünftigen Wesens über- 
haupt verbunden sein. Um aber diese Verknüpfung zu entdecken, muß man, 
so sehr man sich auch sträubt, einen Schritt hinaus thun, nämlich zur Me- 
taphysik, obgleich in ein Gebiet derselben, welches von dem der specula- 
 [30]  tiven Philosophie unterschieden ist, nämlich in die Metaphysik der Sitten. 
 
 
      *) Die Tugend in ihrer eigentlichen Gestalt erblicken, ist nichts anders, als 
 die Sittlichkeit von aller Beimischung des Sinnlichen und allem unächten Schmuck 
 des Lohns oder der Selbstliebe entkleidet darzustellen. Wie sehr sie alsdann alles 
 übrige, was den Neigungen reizend erscheint, verdunkele, kann jeder vermittelst des 
 [35]  mindesten Versuchs seiner nicht ganz für alle Abstraction verdorbenen Vernunft leicht 
 inne werden. 
 
 
426 [60-62]
         

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In einer praktischen Philosophie, wo es uns nicht darum zu thun ist, 
Gründe anzunehmen von dem, was geschieht, sondern Gesetze von dem, 
was geschehen soll, ob es gleich niemals geschieht, d. i. objectiv-prak- 
tische Gesetze: da haben wir nicht nöthig, über die Gründe Untersuchung 
 [5]  anzustellen, warum etwas gefällt oder mißfällt, wie das Vergnügen der 
bloßen Empfindung vom Geschmacke, und ob dieser von einem allgemeinen 
Wohlgefallen der Vernunft unterschieden sei; worauf Gefühl der Lust 
und Unlust beruhe, und wie hieraus Begierden und Neigungen, aus die- 
sen aber durch Mitwirkung der Vernunft Maximen entspringen; denn das 
 [10]  gehört alles zu einer empirischen Seelenlehre, welche den zweiten Theil 
der Naturlehre ausmachen würde, wenn man sie als Philosophie der 
Natur betrachtet, so fern sie auf empirischen Gesetzen gegründet ist. 
Hier aber ist vom objectiv-praktischen Gesetze die Rede, mithin von dem 
Verhältnisse eines Willens zu sich selbst, so fern er sich bloß durch Ver- 
 [15]  nunft bestimmt, da denn alles, was aufs Empirische Beziehung hat, von 
selbst wegfällt: weil, wenn die Vernunft für sich allein das Verhalten 
bestimmt (wovon wir die Möglichkeit jetzt eben untersuchen wollen), sie 
dieses nothwendig a priori thun muß. 
     Der Wille wird als ein Vermögen gedacht, der Vorstellung ge- 
 [20]  wisser Gesetze gemäß sich selbst zum Handeln zu bestimmen. Und ein 
solches Vermögen kann nur in vernünftigen Wesen anzutreffen sein. Nun 
ist das, was dem Willen zum objectiven Grunde seiner Selbstbestimmung 
dient, der Zweck, und dieser, wenn er durch bloße Vernunft gegeben wird, 
muß für alle vernünftige Wesen gleich gelten. Was dagegen bloß den 
 [25]  Grund der Möglichkeit der Handlung enthält, deren Wirkung Zweck ist, 
heißt das Mittel. Der subjective Grund des Begehrens ist die Trieb- 
feder, der objective des Wollens der Bewegungsgrund; daher der 
Unterschied zwischen subjectiven Zwecken, die auf Triebfedern beruhen, 
und objectiven, die auf Bewegungsgründe ankommen, welche für jedes 
 [30]  vernünftige Wesen gelten. Praktische Principien sind formal, wenn sie 
von allen subjectiven Zwecken abstrahiren; sie sind aber material, wenn 
sie diese, mithin gewisse Triebfedern zum Grunde legen. Die Zwecke, die 
sich ein vernünftiges Wesen als Wirkungen seiner Handlung nach Be- 
lieben vorsetzt, (materiale Zwecke) sind insgesammt nur relativ; denn nur 
 [35]  bloß ihr Verhältniß auf ein besonders geartetes Begehrungsvermögen des 
Subjects giebt ihnen den Werth, der daher keine allgemeine für alle ver- 
nünftige Wesen und auch nicht für jedes Wollen gültige und nothwendige 
 
 
427 [62-64]
         

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Principien, d. i. praktische Gesetze, an die Hand geben kann. Daher sind 
alle diese relative Zwecke nur der Grund von hypothetischen Imperativen. 
     Gesetzt aber, es gäbe etwas, dessen Dasein an sich selbst einen 
absoluten Werth hat, was als Zweck an sich selbst ein Grund bestimmter 
 [5]  Gesetze sein könnte, so würde in ihm und nur in ihm allein der Grund 
eines möglichen kategorischen Imperativs, d. i. praktischen Gesetzes, liegen. 
     Nun sage ich: der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen 
existirt als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen 
Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen so- 
 [10]  wohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten 
Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden. Alle Gegen- 
stände der Neigungen haben nur einen bedingten Werth; denn wenn die 
Neigungen und darauf gegründete Bedürfnisse nicht wären, so würde ihr 
Gegenstand ohne Werth sein. Die Neigungen selber aber als Quellen des 
 [15]  Bedürfnisses haben so wenig einen absoluten Werth, um sie selbst zu 
wünschen, daß vielmehr, gänzlich davon frei zu sein, der allgemeine Wunsch 
eines jeden vernünftigen Wesens sein muß. Also ist der Werth aller durch 
unsere Handlung zu erwerbenden Gegenstände jederzeit bedingt. Die 
Wesen, deren Dasein zwar nicht auf unserm Willen, sondern der Natur 
 [20]  beruht, haben dennoch, wenn sie vernunftlose Wesen sind, nur einen re- 
lativen Werth, als Mittel, und heißen daher Sachen, dagegen vernünftige 
Wesen Personen genannt werden, weil ihre Natur sie schon als Zwecke 
an sich selbst, d. i. als etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden 
darf, auszeichnet, mithin so fern alle Willkür einschränkt (und ein Gegen- 
 [25]  stand der Achtung ist). Dies sind also nicht bloß subjective Zwecke, deren 
Existenz als Wirkung unserer Handlung für uns einen Werth hat; son- 
dern objective Zwecke, d. i. Dinge, deren Dasein an sich selbst Zweck 
ist und zwar ein solcher, an dessen Statt kein anderer Zweck gesetzt wer- 
den kann, dem sie bloß als Mittel zu Diensten stehen sollten, weil ohne 
 [30]  dieses überall gar nichts von absolutem Werthe würde angetroffen 
werden; wenn aber aller Werth bedingt, mithin zufällig wäre, so könnte 
für die Vernunft überall kein oberstes praktisches Princip angetroffen 
werden. 
     Wenn es denn also ein oberstes praktisches Princip und in Ansehung 
 [35]  des menschlichen Willens einen kategorischen Imperativ geben soll, so muß 
es ein solches sein, das aus der Vorstellung dessen, was nothwendig für 
jedermann Zweck ist, weil es Zweck an sich selbst ist, ein objectives 
 
 
428 [64-66]
         

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Princip des Willens ausmacht, mithin zum allgemeinen praktischen Gesetz 
dienen kann. Der Grund dieses Princips ist: die vernünftige Natur 
existirt als Zweck an sich selbst. So stellt sich nothwendig der Mensch 
sein eignes Dasein vor; so fern ist es also ein subjectives Princip mensch- 
 [5]  licher Handlungen. So stellt sich aber auch jedes andere vernünftige Wesen 
sein Dasein zufolge eben desselben Vernunftgrundes, der auch für mich 
gilt, vor*); also ist es zugleich ein objectives Princip, woraus als einem 
obersten praktischen Grunde alle Gesetze des Willens müssen abgeleitet 
werden können. Der praktische Imperativ wird also folgender sein: 
 [10]  Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als 
in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, 
niemals bloß als Mittel brauchst. Wir wollen sehen, ob sich dieses 
bewerkstelligen lasse. 
     Um bei den vorigen Beispielen zu bleiben, so wird 
 [15]       Erstlich nach dem Begriffe der nothwendigen Pflicht gegen sich selbst 
derjenige, der mit Selbstmorde umgeht, sich fragen, ob seine Handlung 
mit der Idee der Menschheit als Zwecks an sich selbst zusammen be- 
stehen könne. Wenn er, um einem beschwerlichen Zustande zu entfliehen, 
sich selbst zerstört, so bedient er sich einer Person bloß als eines Mittels 
 [20]  zu Erhaltung eines erträglichen Zustandes bis zu Ende des Lebens. Der 
Mensch aber ist keine Sache, mithin nicht etwas, das bloß als Mittel 
gebraucht werden kann, sondern muß bei allen seinen Handlungen jederzeit 
als Zweck an sich selbst betrachtet werden. Also kann ich über den Menschen 
in meiner Person nichts disponiren, ihn zu verstümmeln, zu verderben, 
 [25]  oder zu tödten. (Die nähere Bestimmung dieses Grundsatzes zur Ver- 
meidung alles Mißverstandes, z. B. der Amputation der Glieder, um mich 
zu erhalten, der Gefahr, der ich mein Leben aussetze, um mein Leben zu 
erhalten etc., muß ich hier vorbeigehen; sie gehört zur eigentlichen Moral.) 
     Zweitens, was die nothwendige oder schuldige Pflicht gegen andere 
 [30]  betrifft, so wird der, so ein lügenhaftes Versprechen gegen andere zu thun 
im Sinne hat, sofort einsehen, daß er sich eines andern Menschen bloß 
als Mittels bedienen will, ohne daß dieser zugleich den Zweck in sich 
enthalte. Denn der, den ich durch ein solches Versprechen zu meinen Ab- 
sichten brauchen will, kann unmöglich in meine Art, gegen ihn zu ver- 
 
 
 [35]       *) Diesen Satz stelle ich hier als Postulat auf. Im letzten Abschnitte wird 
 man die Gründe dazu finden. 
 
 
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fahren, einstimmen und also selbst den Zweck dieser Handlung enthalten. 
Deutlicher fällt dieser Widerstreit gegen das Princip anderer Menschen 
in die Augen, wenn man Beispiele von Angriffen auf Freiheit und Eigen- 
thum anderer herbeizieht. Denn da leuchtet klar ein, daß der Übertreter 
 [5]  der Rechte der Menschen, sich der Person anderer bloß als Mittel zu be- 
dienen, gesonnen sei, ohne in Betracht zu ziehen, daß sie als vernünftige 
Wesen jederzeit zugleich als Zwecke, d. i. nur als solche, die von eben der- 
selben Handlung auch in sich den Zweck müssen enthalten können, geschätzt 
werden sollen*). 
 [10]       Drittens, in Ansehung der zufälligen (verdienstlichen) Pflicht gegen 
sich selbst ists nicht genug, daß die Handlung nicht der Menschheit in un- 
serer Person als Zweck an sich selbst widerstreite, sie muß auch dazu zu- 
sammenstimmen. Nun sind in der Menschheit Anlagen zu größerer 
Vollkommenheit, die zum Zwecke der Natur in Ansehung der Menschheit 
 [15]  in unserem Subject gehören; diese zu vernachlässigen, würde allenfalls 
wohl mit der Erhaltung der Menschheit als Zwecks an sich selbst, aber 
nicht der Beförderung dieses Zwecks bestehen können. 
     Viertens, in Betreff der verdienstlichen Pflicht gegen andere ist der 
Naturzweck, den alle Menschen haben, ihre eigene Glückseligkeit. Nun 
 [20]  würde zwar die Menschheit bestehen können, wenn niemand zu des andern 
Glückseligkeit was beitrüge, dabei aber ihr nichts vorsetzlich entzöge; allein 
es ist dieses doch nur eine negative und nicht positive Übereinstimmung zur 
Menschheit als Zweck an sich selbst, wenn jedermann auch nicht die 
Zwecke anderer, so viel an ihm ist, zu befördern trachtete. Denn das Sub- 
 [25]  ject, welches Zweck an sich selbst ist, dessen Zwecke müssen, wenn jene Vor- 
stellung bei mir alle Wirkung thun soll, auch, so viel möglich, meine 
Zwecke sein. 
     Dieses Princip der Menschheit und jeder vernünftigen Natur über- 
haupt, als Zwecks an sich selbst, (welche die oberste einschränkende 
 
 
 [30]       *) Man denke ja nicht, daß hier das triviale: quod tibi non vis fieri etc. 
 zur Richtschnur oder Princip dienen könne. Denn es ist, obzwar mit verschiedenen 
 Einschränkungen, nur aus jenem abgeleitet; es kann kein allgemeines Gesetz sein, 
 denn es enthält nicht den Grund der Pflichten gegen sich selbst, nicht der Liebes- 
 pflichten gegen andere (denn mancher würde es gerne eingehen, daß andere ihm 
 [35]  nicht wohlthun sollen, wenn er es nur überhoben sein dürfte, ihnen Wohlthat zu 
 erzeigen), endlich nicht der schuldigen Pflichten gegen einander; denn der Verbrecher 
 würde aus diesem Grunde gegen seine strafenden Richter argumentiren, u. s. w. 
 
 
430 [68-69]
         

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Bedingung der Freiheit der Handlungen eines jeden Menschen ist) ist nicht 
aus der Erfahrung entlehnt: erstlich wegen seiner Allgemeinheit, da es 
auf alle vernünftige Wesen überhaupt geht, worüber etwas zu bestimmen 
keine Erfahrung zureicht; zweitens weil darin die Menschheit nicht als 
 [5]  Zweck der Menschen (subjectiv), d. i. als Gegenstand, den man sich von 
selbst wirklich zum Zwecke macht, sondern als objectiver Zweck, der, wir 
mögen Zwecke haben, welche wir wollen, als Gesetz die oberste einschrän- 
kende Bedingung aller subjectiven Zwecke ausmachen soll, vorgestellt wird, 
mithin es aus reiner Vernunft entspringen muß. Es liegt nämlich der 
 [10]  Grund aller praktischen Gesetzgebung objectiv in der Regel und der 
Form der Allgemeinheit, die sie ein Gesetz (allenfalls Naturgesetz) zu sein 
fähig macht (nach dem ersten Princip), subjectiv aber im Zwecke; das 
Subject aller Zwecke aber ist jedes vernünftige Wesen, als Zweck an sich 
selbst (nach dem zweiten Princip): hieraus folgt nun das dritte praktische 
 [15]  Princip des Willens, als oberste Bedingung der Zusammenstimmung des- 
selben mit der allgemeinen praktischen Vernunft, die Idee des Willens 
jedes vernünftigen Wesens als eines allgemein gesetzgebenden 
Willens. 
     Alle Maximen werden nach diesem Princip verworfen, die mit der 
 [20]  eigenen allgemeinen Gesetzgebung des Willens nicht zusammen bestehen 
können. Der Wille wird also nicht lediglich dem Gesetze unterworfen, 
sondern so unterworfen, daß er auch als selbstgesetzgebend und eben 
um deswillen allererst dem Gesetze (davon er selbst sich als Urheber be- 
trachten kann) unterworfen angesehen werden muß. 
 [25]       Die Imperativen nach der vorigen Vorstellungsart, nämlich der all- 
gemein einer Naturordnung ähnlichen Gesetzmäßigkeit der Handlungen, 
oder des allgemeinen Zwecksvorzuges vernünftiger Wesen an sich selbst, 
schlossen zwar von ihrem gebietenden Ansehen alle Beimischung irgend 
eines Interesse als Triebfeder aus, eben dadurch daß sie als kategorisch 
 [30]  vorgestellt wurden; sie wurden aber nur als kategorisch angenommen, 
weil man dergleichen annehmen mußte, wenn man den Begriff von Pflicht 
erklären wollte. Daß es aber praktische Sätze gäbe, die kategorisch gebö- 
ten, könnte für sich nicht bewiesen werden, so wenig wie es überhaupt in 
diesem Abschnitte auch hier noch nicht geschehen kann; allein eines hätte 
 [35]  doch geschehen können, nämlich: daß die Lossagung von allem Interesse 
beim Wollen aus Pflicht, als das specifische Unterscheidungszeichen des 
kategorischen vom hypothetischen Imperativ, in dem Imperativ selbst durch 
 
 
431 [69-71]
         

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irgend eine Bestimmung, die er enthielte, mit angedeutet würde, und 
dieses geschieht in gegenwärtiger dritten Formel des Princips, nämlich 
der Idee des Willens eines jeden vernünftigen Wesens als allgemein- 
gesetzgebenden Willens. 
 [5]       Denn wenn wir einen solchen denken, so kann, obgleich ein Wille, der 
unter Gesetzen steht, noch vermittelst eines Interesse an dieses Gesetz 
gebunden sein mag, dennoch ein Wille, der selbst zu oberst gesetzgebend ist, 
unmöglich so fern von irgend einem Interesse abhängen; denn ein solcher 
abhängender Wille würde selbst noch eines andern Gesetzes bedürfen, wel- 
 [10]  ches das Interesse seiner Selbstliebe auf die Bedingung einer Gültigkeit 
zum allgemeinen Gesetz einschränkte. 
     Also würde das Princip eines jeden menschlichen Willens, als 
eines durch alle seine Maximen allgemein gesetzgebenden Wil- 
lens*), wenn es sonst mit ihm nur seine Richtigkeit hätte, sich zum kate- 
 [15]  gorischen Imperativ darin gar wohl schicken, daß es eben um der Idee 
der allgemeinen Gesetzgebung willen sich auf kein Interesse gründet 
und also unter allen möglichen Imperativen allein unbedingt sein kann; 
oder noch besser, indem wir den Satz umkehren: wenn es einen kategori- 
schen Imperativ giebt (d. i. ein Gesetz für jeden Willen eines vernünftigen 
 [20]  Wesens), so kann er nur gebieten, alles aus der Maxime seines Willens 
als eines solchen zu thun, der zugleich sich selbst als allgemein gesetzgebend 
zum Gegenstande haben könnte; denn alsdann nur ist das praktische Prin- 
cip und der Imperativ, dem er gehorcht, unbedingt, weil er gar kein Inter- 
esse zum Grunde haben kann. 
 [25]       Es ist nun kein Wunder, wenn wir auf alle bisherige Bemühungen, 
die jemals unternommen worden, um das Princip der Sittlichkeit aus- 
findig zu machen, zurücksehen, warum sie insgesammt haben fehlschlagen 
müssen. Man sah den Menschen durch seine Pflicht an Gesetze gebunden, 
man ließ es sich aber nicht einfallen, daß er nur seiner eigenen und 
 [30]  dennoch allgemeinen Gesetzgebung unterworfen sei, und daß er nur 
verbunden sei, seinem eigenen, dem Naturzwecke nach aber allgemein ge- 
setzgebenden Willen gemäß zu handeln. Denn wenn man sich ihn nur als 
einem Gesetz (welches es auch sei) unterworfen dachte: so mußte dieses ir- 
 
 
      *) Ich kann hier, Beispiele zur Erläuterung dieses Princips anzuführen, über- 
 [35]  hoben sein, denn die, so zuerst den kategorischen Imperativ und seine Formel er- 
 läuterten, können hier alle zu eben dem Zwecke dienen. 
 
 
432 [71-73]
         

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gend ein Interesse als Reiz oder Zwang bei sich führen, weil es nicht als 
Gesetz aus seinem Willen entsprang, sondern dieser gesetzmäßig von et- 
was anderm genöthigt wurde, auf gewisse Weise zu handeln. Durch 
diese ganz nothwendige Folgerung aber war alle Arbeit, einen obersten 
 [5]  Grund der Pflicht zu finden, unwiederbringlich verloren. Denn man be- 
kam niemals Pflicht, sondern Nothwendigkeit der Handlung aus einem 
gewissen Interesse heraus. Dieses mochte nun ein eigenes oder fremdes 
Interesse sein. Aber alsdann mußte der Imperativ jederzeit bedingt aus- 
fallen und konnte zum moralischen Gebote gar nicht taugen. Ich will also 
 [10]  diesen Grundsatz das Princip der Autonomie des Willens im Gegensatz 
mit jedem andern, das ich deshalb zur Heteronomie zähle, nennen. 
     Der Begriff eines jeden vernünftigen Wesens, das sich durch alle 
Maximen seines Willens als allgemein gesetzgebend betrachten muß, um 
aus diesem Gesichtspunkte sich selbst und seine Handlungen zu beurtheilen, 
 [15]  führt auf einen ihm anhängenden sehr fruchtbaren Begriff, nämlich den 
eines Reichs der Zwecke. 
     Ich verstehe aber unter einem Reiche die systematische Verbindung 
verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze. Weil 
nun Gesetze die Zwecke ihrer allgemeinen Gültigkeit nach bestimmen, so 
 [20]  wird, wenn man von dem persönlichen Unterschiede vernünftiger Wesen, 
imgleichen allem Inhalte ihrer Privatzwecke abstrahirt, ein Ganzes aller 
Zwecke (sowohl der vernünftigen Wesen als Zwecke an sich, als auch der 
eigenen Zwecke, die ein jedes sich selbst setzen mag) in systematischer Ver- 
knüpfung, d. i. ein Reich der Zwecke, gedacht werden können, welches nach 
 [25]  obigen Principien möglich ist. 
     Denn vernünftige Wesen stehen alle unter dem Gesetz, daß jedes 
derselben sich selbst und alle andere niemals bloß als Mittel, sondern 
jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst behandeln solle. Hiedurch 
aber entspringt eine systematische Verbindung vernünftiger Wesen durch 
 [30]  gemeinschaftliche objective Gesetze, d. i. ein Reich, welches, weil diese Ge- 
setze eben die Beziehung dieser Wesen auf einander als Zwecke und Mittel 
zur Absicht haben, ein Reich der Zwecke (freilich nur ein Ideal) heißen 
kann. 
     Es gehört aber ein vernünftiges Wesen als Glied zum Reiche der 
 [35]  Zwecke, wenn es darin zwar allgemein gesetzgebend, aber auch diesen Ge- 
setzen selbst unterworfen ist. Es gehört dazu als Oberhaupt, wenn es 
als gesetzgebend keinem Willen eines andern unterworfen ist. 
 
 
433 [73-75]
         

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     Das vernünftige Wesen muß sich jederzeit als gesetzgebend in einem 
durch Freiheit des Willens möglichen Reiche der Zwecke betrachten, es mag 
nun sein als Glied, oder als Oberhaupt. Den Platz des letztern kann es 
aber nicht bloß durch die Maxime seines Willens, sondern nur alsdann, 
 [5]  wenn es ein völlig unabhängiges Wesen ohne Bedürfniß und Einschrän- 
kung seines dem Willen adäquaten Vermögens ist, behaupten. 
     Moralität besteht also in der Beziehung aller Handlung auf die Ge- 
setzgebung, dadurch allein ein Reich der Zwecke möglich ist. Diese Gesetz- 
gebung muß aber in jedem vernünftigen Wesen selbst angetroffen werden 
 [10]  und aus seinem Willen entspringen können, dessen Princip also ist: keine 
Handlung nach einer andern Maxime zu thun, als so, daß es auch mit ihr 
bestehen könne, daß sie ein allgemeines Gesetz sei, und also nur so, daß 
der Wille durch seine Maxime sich selbst zugleich als allgemein 
gesetzgebend betrachten könne. Sind nun die Maximen mit diesem 
 [15]  objectiven Princip der vernünftigen Wesen, als allgemein gesetzgebend, 
nicht durch ihre Natur schon nothwendig einstimmig, so heißt die Noth- 
wendigkeit der Handlung nach jenem Princip praktische Nöthigung, d. i. 
Pflicht. Pflicht kommt nicht dem Oberhaupte im Reiche der Zwecke, wohl 
aber jedem Gliede und zwar allen in gleichem Maße zu. 
 [20]       Die praktische Nothwendigkeit nach diesem Princip zu handeln, d. i. 
die Pflicht, beruht gar nicht auf Gefühlen, Antrieben und Neigungen, 
sondern bloß auf dem Verhältnisse vernünftiger Wesen zu einander, in 
welchem der Wille eines vernünftigen Wesens jederzeit zugleich als gesetz- 
gebend betrachtet werden muß, weil es sie sonst nicht als Zweck an sich 
 [25]  selbst denken könnte. Die Vernunft bezieht also jede Maxime des Wil- 
lens als allgemein gesetzgebend auf jeden anderen Willen und auch auf 
jede Handlung gegen sich selbst und dies zwar nicht um irgend eines an- 
dern praktischen Bewegungsgrundes oder künftigen Vortheils willen, son- 
dern aus der Idee der Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem 
 [30]  Gesetze gehorcht als dem, das es zugleich selbst giebt. 
     Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine 
Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes 
als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben 
ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde. 
 [35]       Was sich auf die allgemeinen menschlichen Neigungen und Bedürf- 
nisse bezieht, hat einen Marktpreis; das, was, auch ohne ein Bedürfniß 
vorauszusetzen, einem gewissen Geschmacke, d. i. einem Wohlgefallen am 
 
 
434 [75-77]
         

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bloßen zwecklosen Spiel unserer Gemüthskräfte, gemäß ist, einen Affec- 
tionspreis; das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein 
etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Werth, 
d. i. einen Preis, sondern einen innern Werth, d. i. Würde. 
 [5]       Nun ist Moralität die Bedingung, unter der allein ein vernünftiges 
Wesen Zweck an sich selbst sein kann, weil nur durch sie es möglich ist, ein 
gesetzgebend Glied im Reiche der Zwecke zu sein. Also ist Sittlichkeit und 
die Menschheit, so fern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würde 
hat. Geschicklichkeit und Fleiß im Arbeiten haben einen Marktpreis; Witz, 
 [10]  lebhafte Einbildungskraft und Launen einen Affectionspreis; dagegen 
Treue im Versprechen, Wohlwollen aus Grundsätzen (nicht aus Instinct) 
haben einen innern Werth. Die Natur sowohl als Kunst enthalten nichts, 
was sie in Ermangelung derselben an ihre Stelle setzen könnten; denn ihr 
Werth besteht nicht in den Wirkungen, die daraus entspringen, im Vor- 
 [15]  theil und Nutzen, den sie schaffen, sondern in den Gesinnungen, d. i. den 
Maximen des Willens, die sich auf diese Art in Handlungen zu offenbaren 
bereit sind, obgleich auch der Erfolg sie nicht begünstigte. Diese Hand- 
lungen bedürfen auch keiner Empfehlung von irgend einer subjectiven Dis- 
position oder Geschmack, sie mit unmittelbarer Gunst und Wohlgefallen 
 [20]  anzusehen, keines unmittelbaren Hanges oder Gefühles für dieselbe: sie 
stellen den Willen, der sie ausübt, als Gegenstand einer unmittelbaren 
Achtung dar, dazu nichts als Vernunft gefordert wird, um sie dem Willen 
aufzuerlegen, nicht von ihm zu erschmeicheln, welches letztere bei 
Pflichten ohnedem ein Widerspruch wäre. Diese Schätzung giebt also den 
 [25]  Werth einer solchen Denkungsart als Würde zu erkennen und setzt sie über 
allen Preis unendlich weg, mit dem sie gar nicht in Anschlag und Ver- 
gleichung gebracht werden kann, ohne sich gleichsam an der Heiligkeit der- 
selben zu vergreifen. 
     Und was ist es denn nun, was die sittlich gute Gesinnung oder die 
 [30]  Tugend berechtigt, so hohe Ansprüche zu machen? Es ist nichts Geringeres 
als der Antheil, den sie dem vernünftigen Wesen an der allgemei- 
nen Gesetzgebung verschafft und es hiedurch zum Gliede in einem mög- 
lichen Reiche der Zwecke tauglich macht, wozu es durch seine eigene Natur 
schon bestimmt war, als Zweck an sich selbst und eben darum als gesetz- 
 [35]  gebend im Reiche der Zwecke, in Ansehung aller Naturgesetze als frei, nur 
denjenigen allein gehorchend, die es selbst giebt und nach welchen seine 
Maximen zu einer allgemeinen Gesetzgebung (der es sich zugleich selbst 
 
 
435 [77-79]
         

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unterwirft) gehören können. Denn es hat nichts einen Werth als den, 
welchen ihm das Gesetz bestimmt. Die Gesetzgebung selbst aber, die allen 
Werth bestimmt, muß eben darum eine Würde, d. i. unbedingten, unver- 
gleichbaren Werth, haben, für welchen das Wort Achtung allein den ge- 
 [5]  ziemenden Ausdruck der Schätzung abgiebt, die ein vernünftiges Wesen 
über sie anzustellen hat. Autonomie ist also der Grund der Würde der 
menschlichen und jeder vernünftigen Natur. 
     Die angeführten drei Arten, das Princip der Sittlichkeit vorzustellen, 
sind aber im Grunde nur so viele Formeln eben desselben Gesetzes, deren 
 [10]  die eine die anderen zwei von selbst in sich vereinigt. Indessen ist doch eine 
Verschiedenheit in ihnen, die zwar eher subjectiv als objectiv-praktisch ist, näm- 
lich um eine Idee der Vernunft der Anschauung (nach einer gewissen Ana- 
logie) und dadurch dem Gefühle näher zu bringen. Alle Maximen haben 
nämlich 
 [15]       1) eine Form, welche in der Allgemeinheit besteht, und da ist die 
Formel des sittlichen Imperativs so ausgedrückt: daß die Maximen so 
müssen gewählt werden, als ob sie wie allgemeine Naturgesetze gelten 
sollten; 
     2) eine Materie, nämlich einen Zweck, und da sagt die Formel: daß 
 [20]  das vernünftige Wesen als Zweck seiner Natur nach, mithin als Zweck an 
sich selbst jeder Maxime zur einschränkenden Bedingung aller bloß rela- 
tiven und willkürlichen Zwecke dienen müsse; 
     3) eine vollständige Bestimmung aller Maximen durch jene For- 
mel, nämlich: daß alle Maximen aus eigener Gesetzgebung zu einem mög- 
 [25]  lichen Reiche der Zwecke, als einem Reiche der Natur*), zusammenstimmen 
sollen. Der Fortgang geschieht hier wie durch die Kategorien der Ein- 
heit der Form des Willens (der Allgemeinheit desselben), der Vielheit 
der Materie (der Objecte, d. i. der Zwecke) und der Allheit oder Totalität 
des Systems derselben. Man thut aber besser, wenn man in der sittlichen 
 [30]  Beurtheilung immer nach der strengen Methode verfährt und die all- 
gemeine Formel des kategorischen Imperativs zum Grunde legt: handle 
nach der Maxime, die sich selbst zugleich zum allgemeinen Ge- 
 
 
      *) Die Teleologie erwägt die Natur als ein Reich der Zwecke, die Moral 
 ein mögliches Reich der Zwecke als ein Reich der Natur. Dort ist das Reich der 
 [35]  Zwecke eine theoretische Idee zu Erklärung dessen, was da ist. Hier ist es eine 
 praktische Idee, um das, was nicht da ist, aber durch unser Thun und Lassen wirk- 
 lich werden kann, und zwar eben dieser Idee gemäß zu Stande zu bringen. 
 
 
436 [79-81]
         

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setze machen kann. Will man aber dem sittlichen Gesetze zugleich Ein- 
gang verschaffen: so ist sehr nützlich, ein und eben dieselbe Handlung durch 
benannte drei Begriffe zu führen und sie dadurch, so viel sich thun läßt, 
der Anschauung zu nähern. 
 [5]       Wir können nunmehr da endigen, von wo wir im Anfange aus- 
gingen, nämlich dem Begriffe eines unbedingt guten Willens. Der Wille 
ist schlechterdings gut, der nicht böse sein, mithin dessen Maxime, wenn 
sie zu einem allgemeinen Gesetze gemacht wird, sich selbst niemals wider- 
streiten kann. Dieses Princip ist also auch sein oberstes Gesetz: handle 
 [10]  jederzeit nach derjenigen Maxime, deren Allgemeinheit als Gesetzes du zu- 
gleich wollen kannst; dieses ist die einzige Bedingung, unter der ein Wille 
niemals mit sich selbst im Widerstreite sein kann, und ein solcher Im- 
perativ ist kategorisch. Weil die Gültigkeit des Willens als eines all- 
gemeinen Gesetzes für mögliche Handlungen mit der allgemeinen Ver- 
 [15]  knüpfung des Daseins der Dinge nach allgemeinen Gesetzen, die das For- 
male der Natur überhaupt ist, Analogie hat, so kann der kategorische Im- 
perativ auch so ausgedrückt werden: Handle nach Maximen, die sich 
selbst zugleich als allgemeine Naturgesetze zum Gegenstande 
haben können. So ist also die Formel eines schlechterdings guten Wil- 
 [20]  lens beschaffen. 
     Die vernünftige Natur nimmt sich dadurch vor den übrigen aus, daß 
sie ihr selbst einen Zweck setzt. Dieser würde die Materie eines jeden guten 
Willens sein. Da aber in der Idee eines ohne einschränkende Bedingung 
(der Erreichung dieses oder jenes Zwecks) schlechterdings guten Willens 
 [25]  durchaus von allem zu bewirkenden Zwecke abstrahirt werden muß (als 
der jeden Willen nur relativ gut machen würde), so wird der Zweck hier 
nicht als ein zu bewirkender, sondern selbstständiger Zweck, mithin 
nur negativ gedacht werden müssen, d. i. dem niemals zuwider gehandelt, 
der also niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck in 
 [30]  jedem Wollen geschätzt werden muß. Dieser kann nun nichts anders als 
das Subject aller möglichen Zwecke selbst sein, weil dieses zugleich das 
Subject eines möglichen schlechterdings guten Willens ist; denn dieser 
kann ohne Widerspruch keinem andern Gegenstande nachgesetzt werden. 
Das Princip: handle in Beziehung auf ein jedes vernünftige Wesen (auf 
 [35]  dich selbst und andere) so, daß es in deiner Maxime zugleich als Zweck 
an sich selbst gelte, ist demnach mit dem Grundsatze: handle nach einer 
Maxime, die ihre eigene allgemeine Gültigkeit für jedes vernünftige Wesen 
 
 
437 [81-82]
         

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zugleich in sich enthält, im Grunde einerlei. Denn daß ich meine Maxime 
im Gebrauche der Mittel zu jedem Zwecke auf die Bedingung ihrer All- 
gemeingültigkeit als eines Gesetzes für jedes Subject einschränken soll, 
sagt eben so viel, als: das Subject der Zwecke, d. i. das vernünftige Wesen 
 [5]  selbst, muß niemals bloß als Mittel, sondern als oberste einschränkende 
Bedingung im Gebrauche aller Mittel, d. i. jederzeit zugleich als Zweck, 
allen Maximen der Handlungen zum Grunde gelegt werden. 
     Nun folgt hieraus unstreitig: daß jedes vernünftige Wesen als Zweck 
an sich selbst sich in Ansehung aller Gesetze, denen es nur immer unter- 
 [10]  worfen sein mag, zugleich als allgemein gesetzgebend müsse ansehen können, 
weil eben diese Schicklichkeit seiner Maximen zur allgemeinen Gesetzgebung 
es als Zweck an sich selbst auszeichnet, imgleichen daß dieses seine Würde 
(Prärogativ) vor allen bloßen Naturwesen es mit sich bringe, seine Maxi- 
men jederzeit aus dem Gesichtspunkte seiner selbst, zugleich aber auch jedes 
 [15]  andern vernünftigen als gesetzgebenden Wesens (die darum auch Personen 
heißen) nehmen zu müssen. Nun ist auf solche Weise eine Welt vernünf- 
tiger Wesen (mundus intelligibilis) als ein Reich der Zwecke möglich und 
zwar durch die eigene Gesetzgebung aller Personen als Glieder. Demnach 
muß ein jedes vernünftige Wesen so handeln, als ob es durch seine Maxi- 
 [20]  men jederzeit ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reiche der Zwecke 
wäre. Das formale Princip dieser Maximen ist: handle so, als ob deine 
Maxime zugleich zum allgemeinen Gesetze (aller vernünftigen Wesen) die- 
nen sollte. Ein Reich der Zwecke ist also nur möglich nach der Analogie 
mit einem Reiche der Natur, jenes aber nur nach Maximen, d. i. sich selbst 
 [25]  auferlegten Regeln, diese nur nach Gesetzen äußerlich genöthigter wirken- 
den Ursachen. Dem unerachtet giebt man doch auch dem Naturganzen, 
ob es schon als Maschine angesehen wird, dennoch, so fern es auf ver- 
nünftige Wesen als seine Zwecke Beziehung hat, aus diesem Grunde den 
Namen eines Reichs der Natur. Ein solches Reich der Zwecke würde nun 
 [30]  durch Maximen, deren Regel der kategorische Imperativ allen vernünfti- 
gen Wesen vorschreibt, wirklich zu Stande kommen, wenn sie allge- 
mein befolgt würden. Allein obgleich das vernünftige Wesen darauf 
nicht rechnen kann, daß, wenn es auch gleich diese Maxime selbst pünkt- 
lich befolgte, darum jedes andere eben derselben treu sein würde, imglei- 
 [35]  chen daß das Reich der Natur und die zweckmäßige Anordnung desselben 
mit ihm, als einem schicklichen Gliede, zu einem durch es selbst möglichen 
Reiche der Zwecke zusammenstimmen, d. i. seine Erwartung der Glückselig- 
 
 
438 [82-84]
         

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keit begünstigen werde, so bleibt doch jenes Gesetz: handle nach Maximen 
eines allgemein gesetzgebenden Gliedes zu einem bloß möglichen Reiche 
der Zwecke, in seiner vollen Kraft, weil es kategorisch gebietend ist. Und 
hierin liegt eben das Paradoxon: daß bloß die Würde der Menschheit 
 [5]  als vernünftiger Natur ohne irgend einen andern dadurch zu erreichenden 
Zweck oder Vortheil, mithin die Achtung für eine bloße Idee dennoch zur 
unnachlaßlichen Vorschrift des Willens dienen sollte, und daß gerade in 
dieser Unabhängigkeit der Maxime von allen solchen Triebfedern die Er- 
habenheit derselben bestehe und die Würdigkeit eines jeden vernünftigen 
 [10]  Subjects, ein gesetzgebendes Glied im Reiche der Zwecke zu sein; denn 
sonst würde es nur als dem Naturgesetze seines Bedürfnisses unterworfen 
vorgestellt werden müssen. Obgleich auch das Naturreich sowohl, als das 
Reich der Zwecke als unter einem Oberhaupte vereinigt gedacht würde, 
und dadurch das letztere nicht mehr bloße Idee bliebe, sondern wahre Re- 
 [15]  alität erhielte, so würde hiedurch zwar jener der Zuwachs einer starken 
Triebfeder, niemals aber Vermehrung ihres innern Werths zu statten 
kommen; denn diesem ungeachtet müßte doch selbst dieser alleinige unum- 
schränkte Gesetzgeber immer so vorgestellt werden, wie er den Werth der 
vernünftigen Wesen nur nach ihrem uneigennützigen, bloß aus jener Idee 
 [20]  ihnen selbst vorgeschriebenen Verhalten beurtheilte. Das Wesen der Dinge 
ändert sich durch ihre äußere Verhältnisse nicht, und was, ohne an das 
letztere zu denken, den absoluten Werth des Menschen allein ausmacht, 
darnach muß er auch, von wem es auch sei, selbst vom höchsten Wesen be- 
urtheilt werden. Moralität ist also das Verhältniß der Handlungen 
 [25]  zur Autonomie des Willens, das ist zur möglichen allgemeinen Gesetzge- 
bung durch die Maximen desselben. Die Handlung, die mit der Autono- 
mie des Willens zusammen bestehen kann, ist erlaubt; die nicht damit 
stimmt, ist unerlaubt. Der Wille, dessen Maximen nothwendig mit den 
Gesetzen der Autonomie zusammenstimmen, ist ein heiliger, schlechter- 
 [30]  dings guter Wille. Die Abhängigkeit eines nicht schlechterdings guten 
Willens vom Princip der Autonomie (die moralische Nöthigung) ist Ver- 
bindlichkeit. Diese kann also auf ein heiliges Wesen nicht gezogen 
werden. Die objective Nothwendigkeit einer Handlung aus Verbindlich- 
keit heißt Pflicht. 
 [35]       Man kann aus dem kurz vorhergehenden sich es jetzt leicht erklären, 
wie es zugehe: daß, ob wir gleich unter dem Begriffe von Pflicht uns eine 
Unterwürfigkeit unter dem Gesetze denken, wir uns dadurch doch zugleich 
 
 
439 [84-86]
         

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eine gewisse Erhabenheit und Würde an derjenigen Person vorstellen, 
die alle ihre Pflichten erfüllt. Denn so fern ist zwar keine Erhabenheit 
an ihr, als sie dem moralischen Gesetze unterworfen ist, wohl aber so 
fern sie in Ansehung eben desselben zugleich gesetzgebend und nur darum 
 [5]  ihm untergeordnet ist. Auch haben wir oben gezeigt, wie weder Furcht, 
noch Neigung, sondern lediglich Achtung fürs Gesetz diejenige Triebfeder 
sei, die der Handlung einen moralischen Werth geben kann. Unser eigener 
Wille, so fern er nur unter der Bedingung einer durch seine Maximen 
möglichen allgemeinen Gesetzgebung handeln würde, dieser uns mögliche 
 [10]  Wille in der Idee ist der eigentliche Gegenstand der Achtung, und die 
Würde der Menschheit besteht eben in dieser Fähigkeit, allgemein gesetz- 
gebend, obgleich mit dem Beding, eben dieser Gesetzgebung zugleich selbst 
unterworfen zu sein. 

Die Autonomie des Willens
 
 [15]  als oberstes Princip der Sittlichkeit.

 
     Autonomie des Willens ist die Beschaffenheit des Willens, dadurch 
derselbe ihm selbst (unabhängig von aller Beschaffenheit der Gegenstände 
des Wollens) ein Gesetz ist. Das Princip der Autonomie ist also: nicht 
anders zu wählen als so, daß die Maximen seiner Wahl in demselben 
 [20]  Wollen zugleich als allgemeines Gesetz mit begriffen seien. Daß diese 
praktische Regel ein Imperativ sei, d. i. der Wille jedes vernünftigen 
Wesens an sie als Bedingung nothwendig gebunden sei, kann durch bloße 
Zergliederung der in ihm vorkommenden Begriffe nicht bewiesen werden, 
weil es ein synthetischer Satz ist; man müßte über die Erkenntniß der 
 [25]  Objecte und zu einer Kritik des Subjects, d. i. der reinen praktischen Ver- 
nunft, hinausgehen, denn völlig a priori muß dieser synthetische Satz, der 
apodiktisch gebietet, erkannt werden können, dieses Geschäft aber gehört 
nicht in gegenwärtigen Abschnitt. Allein daß gedachtes Princip der Au- 
tonomie das alleinige Princip der Moral sei, läßt sich durch bloße Zer- 
 [30]  gliederung der Begriffe der Sittlichkeit gar wohl darthun. Denn dadurch 
findet sich, daß ihr Princip ein kategorischer Imperativ sein müsse, dieser 
aber nichts mehr oder weniger als gerade diese Autonomie gebiete. 
 
 
440 [86-88]
         

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Die Heteronomie des Willens 
als der Quell aller unächten Principien der Sittlichkeit.

 
     Wenn der Wille irgend worin anders, als in der Tauglichkeit sei- 
ner Maximen zu seiner eigenen allgemeinen Gesetzgebung, mithin, wenn 
 [5]  er, indem er über sich selbst hinausgeht, in der Beschaffenheit irgend eines 
seiner Objecte das Gesetz sucht, das ihn bestimmen soll, so kommt jederzeit 
Heteronomie heraus. Der Wille giebt alsdann sich nicht selbst, sondern 
das Object durch sein Verhältniß zum Willen giebt diesem das Gesetz. 
Dies Verhältniß, es beruhe nun auf der Neigung, oder auf Vorstellungen 
 [10]  der Vernunft, läßt nur hypothetische Imperativen möglich werden: ich 
soll etwas thun darum, weil ich etwas anderes will. Dagegen sagt 
der moralische, mithin kategorische Imperativ: ich soll so oder so handeln, 
ob ich gleich nichts anderes wollte. Z. E. jener sagt: ich soll nicht lügen, 
wenn ich bei Ehren bleiben will; dieser aber: ich soll nicht lügen, ob es 
 [15]  mir gleich nicht die mindeste Schande zuzöge. Der letztere muß also von 
allem Gegenstande so fern abstrahiren, daß dieser gar keinen Einfluß 
auf den Willen habe, damit praktische Vernunft (Wille) nicht fremdes 
Interesse bloß administrire, sondern bloß ihr eigenes gebietendes Ansehen 
als oberste Gesetzgebung beweise. So soll ich z. B. fremde Glückseligkeit 
 [20]  zu befördern suchen, nicht als wenn mir an deren Existenz was gelegen 
wäre (es sei durch unmittelbare Neigung, oder irgend ein Wohlgefallen 
indirect durch Vernunft), sondern bloß deswegen, weil die Maxime, die sie 
ausschließt, nicht in einem und demselben Wollen, als allgemeinen Gesetz, 
begriffen werden kann. 

 [25]  

Eintheilung
 
aller möglichen Principien der Sittlichkeit 
aus dem 
angenommenen Grundbegriffe der Heteronomie.

 
     Die menschliche Vernunft hat hier, wie allerwärts in ihrem reinen 
 [30]  Gebrauche, so lange es ihr an Kritik fehlt, vorher alle mögliche unrechte 
Wege versucht, ehe es ihr gelingt, den einzigen wahren zu treffen. 
     Alle Principien, die man aus diesem Gesichtspunkte nehmen mag, 
sind entweder empirisch oder rational. Die ersteren, aus dem Princip 
 
 
441 [88-90]
         

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der Glückseligkeit, sind aufs physische oder moralische Gefühl, die 
zweiten aus dem Princip der Vollkommenheit, entweder auf den 
Vernunftbegriff derselben als möglicher Wirkung, oder auf den Begriff 
einer selbstständigen Vollkommenheit (den Willen Gottes) als bestimmende 
 [5]  Ursache unseres Willens gebauet. 
     Empirische Principien taugen überall nicht dazu, um moralische 
Gesetze darauf zu gründen. Denn die Allgemeinheit, mit der sie für alle 
vernünftige Wesen ohne Unterschied gelten sollen, die unbedingte praktische 
Nothwendigkeit, die ihnen dadurch auferlegt wird, fällt weg, wenn der 
 [10]  Grund derselben von der besonderen Einrichtung der menschlichen 
Natur, oder den zufälligen Umständen hergenommen wird, darin sie 
gesetzt ist. Doch ist das Princip der eigenen Glückseligkeit am meisten 
verwerflich, nicht bloß deswegen weil es falsch ist, und die Erfahrung dem 
Vorgeben, als ob das Wohlbefinden sich jederzeit nach dem Wohlverhalten 
 [15]  richte, widerspricht, auch nicht bloß weil es gar nichts zur Gründung der 
Sittlichkeit beiträgt, indem es ganz was anderes ist, einen glücklichen, als 
einen guten Menschen, und diesen klug und auf seinen Vortheil abgewitzt, 
als ihn tugendhaft zu machen: sondern weil es der Sittlichkeit Triebfedern 
unterlegt, die sie eher untergraben und ihre ganze Erhabenheit zernichten, 
 [20]  indem sie die Bewegursachen zur Tugend mit denen zum Laster in eine 
Classe stellen und nur den Calcul besser ziehen lehren, den specifischen 
Unterschied beider aber ganz und gar auslöschen; dagegen das moralische 
Gefühl, dieser vermeintliche besondere Sinn*), (so seicht auch die Berufung 
auf selbigen ist, indem diejenigen, die nicht denken können, selbst in dem, 
 [25]  was bloß auf allgemeine Gesetze ankommt, sich durchs Fühlen auszuhelfen 
glauben, so wenig auch Gefühle, die dem Grade nach von Natur unendlich 
von einander unterschieden sind, einen gleichen Maßstab des Guten und 
Bösen abgeben, auch einer durch sein Gefühl für andere gar nicht gültig 
urtheilen kann) dennoch der Sittlichkeit und ihrer Würde dadurch näher 
 [30]  bleibt, daß er der Tugend die Ehre beweist, das Wohlgefallen und die 
Hochschätzung für sie ihr unmittelbar zuzuschreiben, und ihr nicht gleich- 
 
 
      *) Ich rechne das Princip des moralischen Gefühls zu dem der Glückseligkeit, 
 weil ein jedes empirische Interesse durch die Annehmlichkeit, die etwas nur gewährt, 
 es mag nun unmittelbar und ohne Absicht auf Vortheile, oder in Rücksicht auf 
 [35]  dieselbe geschehen, einen Beitrag zum Wohlbefinden verspricht. Imgleichen muß 
 man das Princip der Theilnehmung an anderer Glückseligkeit mit Hutcheson zu 
 demselben von ihm angenommenen moralischen Sinne rechnen. 
 
 
442 [90-91]
         

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sam ins Gesicht sagt, daß es nicht ihre Schönheit, sondern nur der Vor- 
theil sei, der uns an sie knüpfe. 
     Unter den rationalen oder Vernunftgründen der Sittlichkeit ist 
doch der ontologische Begriff der Vollkommenheit (so leer, so unbe- 
 [5]  stimmt, mithin unbrauchbar er auch ist, um in dem unermeßlichen Felde 
möglicher Realität die für uns schickliche größte Summe auszufinden; so 
sehr er auch, um die Realität, von der hier die Rede ist, specifisch von jeder 
anderen zu unterscheiden, einen unvermeidlichen Hang hat, sich im Cirkel 
zu drehen, und die Sittlichkeit, die er erklären soll, ingeheim vorauszusetzen, 
 [10]  nicht vermeiden kann) dennoch besser als der theologische Begriff, sie von 
einem göttlichen, allervollkommensten Willen abzuleiten, nicht bloß des- 
wegen weil wir seine Vollkommenheit doch nicht anschauen, sondern sie von 
unseren Begriffen, unter denen der der Sittlichkeit der vornehmste ist, allein 
ableiten können, sondern weil, wenn wir dieses nicht thun (wie es denn, 
 [15]  wenn es geschähe, ein grober Cirkel im Erklären sein würde), der uns noch 
übrige Begriff seines Willens aus den Eigenschaften der Ehr- und Herrsch- 
begierde, mit den furchtbaren Vorstellungen der Macht und des Racheifers 
verbunden, zu einem System der Sitten, welches der Moralität gerade 
entgegen gesetzt wäre, die Grundlage machen müßte. 
 [20]       Wenn ich aber zwischen dem Begriff des moralischen Sinnes und 
dem der Vollkommenheit überhaupt (die beide der Sittlichkeit wenigstens 
nicht Abbruch thun, ob sie gleich dazu gar nichts taugen, sie als Grund- 
lagen zu unterstützen) wählen müßte: so würde ich mich für den letzteren 
bestimmen, weil er, da er wenigstens die Entscheidung der Frage von der 
 [25]  Sinnlichkeit ab und an den Gerichtshof der reinen Vernunft zieht, ob er 
gleich auch hier nichts entscheidet, dennoch die unbestimmte Idee (eines an 
sich guten Willens) zur nähern Bestimmung unverfälscht aufbehält. 
     Übrigens glaube ich einer weitläuftigen Widerlegung aller dieser Lehr- 
begriffe überhoben sein zu können. Sie ist so leicht, sie ist von denen selbst, 
 [30]  deren Amt es erfordert, sich doch für eine dieser Theorien zu erklären (weil 
Zuhörer den Aufschub des Urtheils nicht wohl leiden mögen), selbst ver- 
muthlich so wohl eingesehen, daß dadurch nur überflüssige Arbeit geschehen 
würde. Was uns aber hier mehr interessirt, ist, zu wissen: daß diese 
Principien überall nichts als Heteronomie des Willens zum ersten Grunde 
 [35]  der Sittlichkeit aufstellen und eben darum nothwendig ihres Zwecks ver- 
fehlen müssen. 
 
 
443 [91-93]
         

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     Allenthalben, wo ein Object des Willens zum Grunde gelegt werden 
muß, um diesem die Regel vorzuschreiben, die ihn bestimme, da ist die 
Regel nichts als Heteronomie; der Imperativ ist bedingt, nämlich: wenn 
oder weil man dieses Object will, soll man so oder so handeln; mithin 
 [5]  kann er niemals moralisch, d. i. kategorisch, gebieten. Es mag nun das 
Object vermittelst der Neigung, wie beim Princip der eigenen Glückselig- 
keit, oder vermittelst der auf Gegenstände unseres möglichen Wollens über- 
haupt gerichteten Vernunft, im Princip der Vollkommenheit, den Willen 
bestimmen, so bestimmt sich der Wille niemals unmittelbar selbst durch 
 [10]  die Vorstellung der Handlung, sondern nur durch die Triebfeder, welche 
die vorausgesehene Wirkung der Handlung auf den Willen hat; ich soll 
etwas thun, darum weil ich etwas anderes will, und hier muß 
noch ein anderes Gesetz in meinem Subject zum Grunde gelegt werden, 
nach welchem ich dieses Andere nothwendig will, welches Gesetz wiederum 
 [15]  eines Imperativs bedarf, der diese Maxime einschränke. Denn weil der 
Antrieb, den die Vorstellung eines durch unsere Kräfte möglichen Objects 
nach der Naturbeschaffenheit des Subjects auf seinen Willen ausüben soll, 
zur Natur des Subjects gehört, es sei der Sinnlichkeit (der Neigung und 
des Geschmacks) oder des Verstandes und der Vernunft, die nach der be- 
 [20]  sonderen Einrichtung ihrer Natur an einem Objecte sich mit Wohlgefallen 
üben, so gäbe eigentlich die Natur das Gesetz, welches als ein solches nicht 
allein durch Erfahrung erkannt und bewiesen werden muß, mithin an sich 
zufällig ist und zur apodiktischen praktischen Regel, dergleichen die mo- 
ralische sein muß, dadurch untauglich wird, sondern es ist immer nur 
 [25]  Heteronomie des Willens, der Wille giebt sich nicht selbst, sondern ein 
fremder Antrieb giebt ihm vermittelst einer auf die Empfänglichkeit des- 
selben gestimmten Natur des Subjects das Gesetz. 
     Der schlechterdings gute Wille, dessen Princip ein kategorischer Im- 
perativ sein muß, wird also, in Ansehung aller Objecte unbestimmt, bloß 
 [30]  die Form des Wollens überhaupt enthalten und zwar als Autonomie, 
d. i. die Tauglichkeit der Maxime eines jeden guten Willens, sich selbst 
zum allgemeinen Gesetze zu machen, ist selbst das alleinige Gesetz, das 
sich der Wille eines jeden vernünftigen Wesens selbst auferlegt, ohne irgend 
eine Triebfeder und Interesse derselben als Grund unterzulegen. 
 [35]       Wie ein solcher synthetischer praktischer Satz a priori mög- 
lich und warum er nothwendig sei, ist eine Aufgabe, deren Auflösung nicht 
mehr binnen den Grenzen der Metaphysik der Sitten liegt, auch haben wir 
 
 
444 [93-95]
         

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seine Wahrheit hier nicht behauptet, viel weniger vorgegeben, einen Beweis 
derselben in unserer Gewalt zu haben. Wir zeigten nur durch Entwickelung 
des einmal allgemein im Schwange gehenden Begriffs der Sittlichkeit: 
daß eine Autonomie des Willens demselben unvermeidlicher Weise anhänge, 
 [5]  oder vielmehr zum Grunde liege. Wer also Sittlichkeit für Etwas und 
nicht für eine chimärische Idee ohne Wahrheit hält, muß das angeführte 
Princip derselben zugleich einräumen. Dieser Abschnitt war also eben 
so, wie der erste bloß analytisch. Daß nun Sittlichkeit kein Hirngespinst 
sei, welches alsdann folgt, wenn der kategorische Imperativ und mit ihm 
 [10]  die Autonomie des Willens wahr und als ein Princip a priori schlechter- 
dings nothwendig ist, erfordert einen möglichen synthetischen Ge- 
brauch der reinen praktischen Vernunft, den wir aber nicht wagen 
dürfen, ohne eine Kritik dieses Vernunftvermögens selbst voranzuschicken, 
von welcher wir in dem letzten Abschnitte die zu unserer Absicht hinläng- 
 [15]  liche Hauptzüge darzustellen haben. 
 
 

  
 
 
445 [95-96]
         

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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Dritter Abschnitt · 1903 Preussische Akademie Auflage
 

Dritter Abschnitt.

 
Übergang 
von der Metaphysik der Sitten zur Kritik der reinen 
praktischen Vernunft.

 
 [5]  Der Begriff der Freiheit 
ist der Schlüssel zur Erklärung der Autonomie des Willens.

 
     Der Wille ist eine Art von Causalität lebender Wesen, so fern sie 
vernünftig sind, und Freiheit würde diejenige Eigenschaft dieser Causa- 
lität sein, da sie unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen 
 [10]  wirkend sein kann: so wie Naturnothwendigkeit die Eigenschaft der 
Causalität aller vernunftlosen Wesen, durch den Einfluß fremder Ursachen 
zur Thätigkeit bestimmt zu werden. 
     Die angeführte Erklärung der Freiheit ist negativ und daher, um 
ihr Wesen einzusehen, unfruchtbar; allein es fließt aus ihr ein positiver 
 [15]  Begriff derselben, der desto reichhaltiger und fruchtbarer ist. Da der Be- 
griff einer Causalität den von Gesetzen bei sich führt, nach welchen durch 
etwas, was wir Ursache nennen, etwas anderes, nämlich die Folge, ge- 
setzt werden muß: so ist die Freiheit, ob sie zwar nicht eine Eigenschaft 
des Willens nach Naturgesetzen ist, darum doch nicht gar gesetzlos, sondern 
 [20]  muß vielmehr eine Causalität nach unwandelbaren Gesetzen, aber von be- 
sonderer Art sein; denn sonst wäre ein freier Wille ein Unding. Die 
Naturnothwendigkeit war eine Heteronomie der wirkenden Ursachen; denn 
jede Wirkung war nur nach dem Gesetze möglich, daß etwas anderes die 
wirkende Ursache zur Causalität bestimmte; was kann denn wohl die Frei- 
 
 
446 [97-98]
         

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heit des Willens sonst sein als Autonomie, d. i. die Eigenschaft des Wil- 
lens, sich selbst ein Gesetz zu sein? Der Satz aber: der Wille ist in allen 
Handlungen sich selbst ein Gesetz, bezeichnet nur das Princip, nach keiner 
anderen Maxime zu handeln, als die sich selbst auch als ein allgemeines 
 [5]  Gesetz zum Gegenstande haben kann. Dies ist aber gerade die Formel des 
kategorischen Imperativs und das Princip der Sittlichkeit: also ist ein 
freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei. 
     Wenn also Freiheit des Willens vorausgesetzt wird, so folgt die Sitt- 
lichkeit sammt ihrem Princip daraus durch bloße Zergliederung ihres Be- 
 [10]  griffs. Indessen ist das letztere doch immer ein synthetischer Satz: ein 
schlechterdings guter Wille ist derjenige, dessen Maxime jederzeit sich selbst, 
als allgemeines Gesetz betrachtet, in sich enthalten kann, denn durch Zer- 
gliederung des Begriffs von einem schlechthin guten Willen kann jene 
Eigenschaft der Maxime nicht gefunden werden. Solche synthetische Sätze 
 [15]  sind aber nur dadurch möglich, daß beide Erkenntnisse durch die Verknüp- 
fung mit einem dritten, darin sie beiderseits anzutreffen sind, unter ein- 
ander verbunden werden. Der positive Begriff der Freiheit schafft dieses 
dritte, welches nicht wie bei den physischen Ursachen die Natur der Sinnen- 
welt sein kann (in deren Begriff die Begriffe von etwas als Ursache in 
 [20]  Verhältniß auf etwas anderes als Wirkung zusammenkommen). Was 
dieses dritte sei, worauf uns die Freiheit weiset, und von dem wir a priori 
eine Idee haben, läßt sich hier sofort noch nicht anzeigen und die Deduc- 
tion des Begriffs der Freiheit aus der reinen praktischen Vernunft, mit 
ihr auch die Möglichkeit eines kategorischen Imperativs begreiflich machen, 
 [25]  sondern bedarf noch einiger Vorbereitung. 

Freiheit muß als Eigenschaft des Willens aller
 
vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden.

 
     Es ist nicht genug, daß wir unserem Willen, es sei aus welchem 
Grunde, Freiheit zuschreiben, wenn wir nicht ebendieselbe auch allen ver- 
 [30]  nünftigen Wesen beizulegen hinreichenden Grund haben. Denn da Sitt- 
lichkeit für uns bloß als für vernünftige Wesen zum Gesetze dient, so 
muß sie auch für alle vernünftige Wesen gelten, und da sie lediglich aus 
der Eigenschaft der Freiheit abgeleitet werden muß, so muß auch Frei- 
heit als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen bewiesen wer- 
 [35]  den, und es ist nicht genug, sie aus gewissen vermeintlichen Erfahrungen 
 
 
447 [98-100]
         

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von der menschlichen Natur darzuthun (wiewohl dieses auch schlechterdings 
unmöglich ist und lediglich a priori dargethan werden kann), sondern man 
muß sie als zur Thätigkeit vernünftiger und mit einem Willen begabter We- 
sen überhaupt gehörig beweisen. Ich sage nun: Ein jedes Wesen, das nicht 
 [5]  anders als unter der Idee der Freiheit handeln kann, ist eben darum 
in praktischer Rücksicht wirklich frei, d. i. es gelten für dasselbe alle Gesetze, 
die mit der Freiheit unzertrennlich verbunden sind, eben so als ob sein 
Wille auch an sich selbst und in der theoretischen Philosophie gültig für 
frei erklärt würde*). Nun behaupte ich: daß wir jedem vernünftigen Wesen, 
 [10]  das einen Willen hat, nothwendig auch die Idee der Freiheit leihen müssen, 
unter der es allein handle. Denn in einem solchen Wesen denken wir uns 
eine Vernunft, die praktisch ist, d. i. Causalität in Ansehung ihrer Ob- 
jecte hat. Nun kann man sich unmöglich eine Vernunft denken, die mit 
ihrem eigenen Bewußtsein in Ansehung ihrer Urtheile anderwärts her eine 
 [15]  Lenkung empfinge, denn alsdann würde das Subject nicht seiner Vernunft, 
sondern einem Antriebe die Bestimmung der Urtheilskraft zuschreiben. 
Sie muß sich selbst als Urheberin ihrer Principien ansehen unabhängig 
von fremden Einflüssen, folglich muß sie als praktische Vernunft, oder als 
Wille eines vernünftigen Wesens von ihr selbst als frei angesehen werden; 
 [20]  d. i. der Wille desselben kann nur unter der Idee der Freiheit ein eigener 
Wille sein und muß also in praktischer Absicht allen vernünftigen Wesen 
beigelegt werden. 

Von dem Interesse, welches den Ideen der Sittlichkeit
 
anhängt.

 
 [25]       Wir haben den bestimmten Begriff der Sittlichkeit auf die Idee der 
Freiheit zuletzt zurückgeführt; diese aber konnten wir als etwas Wirkliches 
nicht einmal in uns selbst und in der menschlichen Natur beweisen; wir 
 
 
      *) Diesen Weg, die Freiheit nur als von vernünftigen Wesen bei ihren Hand- 
 lungen bloß in der Idee zum Grunde gelegt zu unserer Absicht hinreichend an- 
 [30]  zunehmen, schlage ich deswegen ein, damit ich mich nicht verbindlich machen dürfte, 
 die Freiheit auch in ihrer theoretischen Absicht zu beweisen. Denn wenn dieses 
 letztere auch unausgemacht gelassen wird, so gelten doch dieselben Gesetze für ein 
 Wesen, das nicht anders als unter der Idee seiner eigenen Freiheit handeln kann, 
 die ein Wesen, das wirklich frei wäre, verbinden würden. Wir können uns hier 
 [35]  also von der Last befreien, die die Theorie drückt. 
 
 
448 [100-101]
         

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sahen nur, daß wir sie voraussetzen müssen, wenn wir uns ein Wesen als 
vernünftig und mit Bewußtsein seiner Causalität in Ansehung der Hand- 
lungen, d. i. mit einem Willen, begabt uns denken wollen, und so finden 
wir, daß wir aus eben demselben Grunde jedem mit Vernunft und Willen 
 [5]  begabten Wesen diese Eigenschaft, sich unter der Idee seiner Freiheit zum 
Handeln zu bestimmen, beilegen müssen. 
     Es floß aber aus der Voraussetzung dieser Ideen auch das Bewußt- 
sein eines Gesetzes zu handeln: daß die subjectiven Grundsätze der Hand- 
lungen, d. i. Maximen, jederzeit so genommen werden müssen, daß sie auch 
 [10]  objectiv, d. i. allgemein als Grundsätze, gelten, mithin zu unserer eigenen 
allgemeinen Gesetzgebung dienen können. Warum aber soll ich mich denn 
diesem Princip unterwerfen und zwar als vernünftiges Wesen überhaupt, 
mithin auch dadurch alle andere mit Vernunft begabte Wesen? Ich will 
einräumen, daß mich hiezu kein Interesse treibt, denn das würde keinen 
 [15]  kategorischen Imperativ geben; aber ich muß doch hieran nothwendig ein 
Interesse nehmen und einsehen, wie das zugeht; denn dieses Sollen ist 
eigentlich ein Wollen, das unter der Bedingung für jedes vernünftige 
Wesen gilt, wenn die Vernunft bei ihm ohne Hindernisse praktisch wäre; 
für Wesen, die wie wir noch durch Sinnlichkeit als Triebfedern anderer 
 [20]  Art afficirt werden, bei denen es nicht immer geschieht, was die Vernunft 
für sich allein thun würde, heißt jene Nothwendigkeit der Handlung nur 
ein Sollen, und die subjective Nothwendigkeit wird von der objectiven unter- 
schieden. 
     Es scheint also, als setzten wir in der Idee der Freiheit eigentlich das 
 [25]  moralische Gesetz, nämlich das Princip der Autonomie des Willens selbst, 
nur voraus und könnten seine Realität und objective Nothwendigkeit nicht 
für sich beweisen, und da hätten wir zwar noch immer etwas ganz Beträcht- 
liches dadurch gewonnen, daß wir wenigstens das ächte Princip genauer, 
als wohl sonst geschehen, bestimmt hätten, in Ansehung seiner Gültigkeit 
 [30]  aber und der praktischen Nothwendigkeit, sich ihm zu unterwerfen, wären 
wir um nichts weiter gekommen; denn wir könnten dem, der uns fragte, 
warum denn die Allgemeingültigkeit unserer Maxime, als eines Gesetzes, 
die einschränkende Bedingung unserer Handlungen sein müsse, und worauf 
wir den Werth gründen, den wir dieser Art zu handeln beilegen, der so 
 [35]  groß sein soll, daß es überall kein höheres Interesse geben kann, und wie 
es zugehe, daß der Mensch dadurch allein seinen persönlichen Werth zu 
 
 
449 [101-103]
         

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fühlen glaubt, gegen den der eines angenehmen oder unangenehmen Zu- 
standes für nichts zu halten sei, keine genugthuende Antwort geben. 
     Zwar finden wir wohl, daß wir an einer persönlichen Beschaffenheit 
ein Interesse nehmen können, die gar kein Interesse des Zustandes bei sich 
 [5]  führt, wenn jene uns nur fähig macht, des letzteren theilhaftig zu werden, 
im Falle die Vernunft die Austheilung desselben bewirken sollte, d. i. daß die 
bloße Würdigkeit, glücklich zu sein, auch ohne den Bewegungsgrund, dieser 
Glückseligkeit theilhaftig zu werden, für sich interessiren könne: aber dieses 
Urtheil ist in der That nur die Wirkung von der schon vorausgesetzten 
 [10]  Wichtigkeit moralischer Gesetze (wenn wir uns durch die Idee der Freiheit 
von allem empirischen Interesse trennen); aber daß wir uns von diesem 
trennen, d. i. uns als frei im Handeln betrachten und so uns dennoch für 
gewissen Gesetzen unterworfen halten sollen, um einen Werth bloß in unserer 
Person zu finden, der uns allen Verlust dessen, was unserem Zustande 
 [15]  einen Werth verschafft, vergüten könne, und wie dieses möglich sei, mithin 
woher das moralische Gesetz verbinde, können wir auf solche Art 
noch nicht einsehen. 
     Es zeigt sich hier, man muß es frei gestehen, eine Art von Cirkel, aus 
dem, wie es scheint, nicht heraus zu kommen ist. Wir nehmen uns in der 
 [20]  Ordnung der wirkenden Ursachen als frei an, um uns in der Ordnung 
der Zwecke unter sittlichen Gesetzen zu denken, und wir denken uns nachher 
als diesen Gesetzen unterworfen, weil wir uns die Freiheit des Willens 
beigelegt haben; denn Freiheit und eigene Gesetzgebung des Willens sind 
beides Autonomie, mithin Wechselbegriffe, davon aber einer eben um des- 
 [25]  willen nicht dazu gebraucht werden kann, um den anderen zu erklären und 
von ihm Grund anzugeben, sondern höchstens nur, um in logischer Ab- 
sicht verschieden scheinende Vorstellungen von eben demselben Gegenstande 
auf einen einzigen Begriff (wie verschiedne Brüche gleiches Inhalts auf 
die kleinsten Ausdrücke) zu bringen. 
 [30]       Eine Auskunft bleibt uns aber noch übrig, nämlich zu suchen: ob 
wir, wenn wir uns durch Freiheit als a priori wirkende Ursachen denken, 
nicht einen anderen Standpunkt einnehmen, als wenn wir uns selbst nach 
unseren Handlungen als Wirkungen, die wir vor unseren Augen sehen, 
uns vorstellen. 
 [35]       Es ist eine Bemerkung, welche anzustellen eben kein subtiles Nach- 
denken erfordert wird, sondern von der man annehmen kann, daß sie wohl 
der gemeinste Verstand, obzwar nach seiner Art durch eine dunkele Unter- 
 
 
450 [103-105]
         

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scheidung der Urtheilskraft, die er Gefühl nennt, machen mag: daß alle 
Vorstellungen, die uns ohne unsere Willkür kommen (wie die der Sinne), 
uns die Gegenstände nicht anders zu erkennen geben, als sie uns afficiren, 
wobei, was sie an sich sein mögen, uns unbekannt bleibt, mithin daß, was 
 [5]  diese Art Vorstellungen betrifft, wir dadurch auch bei der angestrengtesten 
Aufmerksamkeit und Deutlichkeit, die der Verstand nur immer hinzufügen 
mag, doch bloß zur Erkenntniß der Erscheinungen, niemals der Dinge 
an sich selbst gelangen können. Sobald dieser Unterschied (allenfalls 
bloß durch die bemerkte Verschiedenheit zwischen den Vorstellungen, die 
 [10]  uns anders woher gegeben werden, und dabei wir leidend sind, von denen, 
die wir lediglich aus uns selbst hervorbringen, und dabei wir unsere Thä- 
tigkeit beweisen) einmal gemacht ist, so folgt von selbst, daß man hinter 
den Erscheinungen doch noch etwas anderes, was nicht Erscheinung ist, 
nämlich die Dinge an sich, einräumen und annehmen müsse, ob wir gleich 
 [15]  uns von selbst bescheiden, daß, da sie uns niemals bekannt werden können, 
sondern immer nur, wie sie uns afficiren, wir ihnen nicht näher treten 
und, was sie an sich sind, niemals wissen können. Dieses muß eine, ob- 
zwar rohe, Unterscheidung einer Sinnenwelt von der Verstandeswelt 
abgeben, davon die erstere nach Verschiedenheit der Sinnlichkeit in man- 
 [20]  cherlei Weltbeschauern auch sehr verschieden sein kann, indessen die zweite, 
die ihr zum Grunde liegt, immer dieselbe bleibt. Sogar sich selbst und 
zwar nach der Kenntniß, die der Mensch durch innere Empfindung von 
sich hat, darf er sich nicht anmaßen zu erkennen, wie er an sich selbst sei. 
Denn da er doch sich selbst nicht gleichsam schafft und seinen Begriff nicht 
 [25]  a priori, sondern empirisch bekommt, so ist natürlich, daß er auch von sich 
durch den innern Sinn und folglich nur durch die Erscheinung seiner 
Natur und die Art, wie sein Bewußtsein afficirt wird, Kundschaft ein- 
ziehen könne, indessen er doch nothwendiger Weise über diese aus lauter 
Erscheinungen zusammengesetzte Beschaffenheit seines eigenen Subjects 
 [30]  noch etwas anderes zum Grunde Liegendes, nämlich sein Ich, so wie es 
an sich selbst beschaffen sein mag, annehmen und sich also in Absicht auf 
die bloße Wahrnehmung und Empfänglichkeit der Empfindungen zur 
Sinnenwelt, in Ansehung dessen aber, was in ihm reine Thätigkeit sein 
mag, (dessen, was gar nicht durch Afficirung der Sinne, sondern unmittel- 
 [35]  bar zum Bewußtsein gelangt) sich zur intellectuellen Welt zählen muß, 
die er doch nicht weiter kennt. 
     Dergleichen Schluß muß der nachdenkende Mensch von allen Dingen, 
 
 
451 [105-107]
         

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die ihm vorkommen mögen, fällen; vermuthlich ist er auch im gemeinsten 
Verstande anzutreffen, der, wie bekannt, sehr geneigt ist, hinter den Gegen- 
ständen der Sinne noch immer etwas Unsichtbares, für sich selbst Thätiges 
zu erwarten, es aber wiederum dadurch verdirbt, daß er dieses Unsichtbare 
 [5]  sich bald wiederum versinnlicht, d. i. zum Gegenstande der Anschauung 
machen will, und dadurch also nicht um einen Grad klüger wird. 
     Nun findet der Mensch in sich wirklich ein Vermögen, dadurch er sich 
von allen andern Dingen, ja von sich selbst, so fern er durch Gegenstände 
afficirt wird, unterscheidet, und das ist die Vernunft. Diese, als reine 
 [10]  Selbstthätigkeit, ist sogar darin noch über den Verstand erhoben: daß, 
obgleich dieser auch Selbstthätigkeit ist und nicht wie der Sinn bloß Vor- 
stellungen enthält, die nur entspringen, wenn man von Dingen afficirt 
(mithin leidend) ist, er dennoch aus seiner Thätigkeit keine andere Be- 
griffe hervorbringen kann als die, so bloß dazu dienen, um die sinnlichen 
 [15]  Vorstellungen unter Regeln zu bringen und sie dadurch in einem 
Bewußtsein zu vereinigen, ohne welchen Gebrauch der Sinnlichkeit er gar 
nichts denken würde, da hingegen die Vernunft unter dem Namen der 
Ideen eine so reine Spontaneität zeigt, daß sie dadurch weit über alles, 
was ihr Sinnlichkeit nur liefern kann, hinausgeht und ihr vornehmstes 
 [20]  Geschäfte darin beweiset, Sinnenwelt und Verstandeswelt von einander 
zu unterscheiden, dadurch aber dem Verstande selbst seine Schranken vor- 
zuzeichnen. 
     Um deswillen muß ein vernünftiges Wesen sich selbst als Intelli- 
genz (also nicht von Seiten seiner untern Kräfte), nicht als zur Sinnen-, 
 [25]  sondern zur Verstandeswelt gehörig, ansehen; mithin hat es zwei Stand- 
punkte, daraus es sich selbst betrachten und Gesetze des Gebrauchs seiner 
Kräfte, folglich aller seiner Handlungen erkennen kann, einmal, so fern 
es zur Sinnenwelt gehört, unter Naturgesetzen (Heteronomie), zweitens, 
als zur intelligibelen Welt gehörig, unter Gesetzen, die, von der Natur un- 
 [30]  abhängig, nicht empirisch, sondern bloß in der Vernunft gegründet sind. 
     Als ein vernünftiges, mithin zur intelligibelen Welt gehöriges Wesen 
kann der Mensch die Causalität seines eigenen Willens niemals anders 
als unter der Idee der Freiheit denken; denn Unabhängigkeit von den 
bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt (dergleichen die Vernunft jederzeit 
 [35]  sich selbst beilegen muß) ist Freiheit. Mit der Idee der Freiheit ist nun 
der Begriff der Autonomie unzertrennlich verbunden, mit diesem aber 
das allgemeine Princip der Sittlichkeit, welches in der Idee allen Hand- 
 
 
452 [107-109]
         

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lungen vernünftiger Wesen eben so zum Grunde liegt, als das Natur- 
gesetz allen Erscheinungen. 
     Nun ist der Verdacht, den wir oben rege machten, gehoben, als wäre 
ein geheimer Cirkel in unserem Schlusse aus der Freiheit auf die Auto- 
 [5]  nomie und aus dieser aufs sittliche Gesetz enthalten, daß wir nämlich 
vielleicht die Idee der Freiheit nur um des sittlichen Gesetzes willen zum 
Grunde legten, um dieses nachher aus der Freiheit wiederum zu schließen, 
mithin von jenem gar keinen Grund angeben könnten, sondern es nur als 
Erbittung eines Princips, das uns gutgesinnte Seelen wohl gerne ein- 
 [10]  räumen werden, welches wir aber niemals als einen erweislichen Satz 
aufstellen könnten. Denn jetzt sehen wir, daß, wenn wir uns als frei 
denken, so versetzen wir uns als Glieder in die Verstandeswelt und er- 
kennen die Autonomie des Willens sammt ihrer Folge, der Moralität; 
denken wir uns aber als verpflichtet, so betrachten wir uns als zur Sinnen- 
 [15]  welt und doch zugleich zur Verstandeswelt gehörig. 

Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich?

 
     Das vernünftige Wesen zählt sich als Intelligenz zur Verstandes- 
welt, und bloß als eine zu dieser gehörige wirkende Ursache nennt es seine 
Causalität einen Willen. Von der anderen Seite ist es sich seiner doch 
 [20]  auch als eines Stücks der Sinnenwelt bewußt, in welcher seine Handlun- 
gen als bloße Erscheinungen jener Causalität angetroffen werden, deren 
Möglichkeit aber aus dieser, die wir nicht kennen, nicht eingesehen werden 
kann, sondern an deren Statt jene Handlungen als bestimmt durch andere 
Erscheinungen, nämlich Begierden und Neigungen, als zur Sinnenwelt 
 [25]  gehörig eingesehen werden müssen. Als bloßen Gliedes der Verstandes- 
welt würden also alle meine Handlungen dem Princip der Autonomie des 
reinen Willens vollkommen gemäß sein; als bloßen Stücks der Sinnen- 
welt würden sie gänzlich dem Naturgesetz der Begierden und Neigungen, 
mithin der Heteronomie der Natur gemäß genommen werden müssen. 
 [30]  (Die ersteren würden auf dem obersten Princip der Sittlichkeit, die zwei- 
ten der Glückseligkeit beruhen.) Weil aber die Verstandeswelt den 
Grund der Sinnenwelt, mithin auch der Gesetze derselben ent- 
hält, also in Ansehung meines Willens (der ganz zur Verstandeswelt ge- 
hört) unmittelbar gesetzgebend ist und also auch als solche gedacht werden 
 [35]  muß, so werde ich mich als Intelligenz, obgleich andererseits wie ein zur 
 
 
453 [109-111]
         

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Sinnenwelt gehöriges Wesen, dennoch dem Gesetze der ersteren, d. i. der 
Vernunft, die in der Idee der Freiheit das Gesetz derselben enthält, und 
also der Autonomie des Willens unterworfen erkennen, folglich die Gesetze 
der Verstandeswelt für mich als Imperativen und die diesem Princip ge- 
 [5]  mäße Handlungen als Pflichten ansehen müssen. 
     Und so sind kategorische Imperativen möglich, dadurch daß die Idee 
der Freiheit mich zu einem Gliede einer intelligibelen Welt macht, wo- 
durch, wenn ich solches allein wäre, alle meine Handlungen der Auto- 
nomie des Willens jederzeit gemäß sein würden, da ich mich aber zu- 
 [10]  gleich als Glied der Sinnenwelt anschaue, gemäß sein sollen, welches 
kategorische Sollen einen synthetischen Satz a priori vorstellt, dadurch 
daß über meinen durch sinnliche Begierden afficirten Willen noch die 
Idee ebendesselben, aber zur Verstandeswelt gehörigen reinen, für sich 
selbst praktischen Willens hinzukommt, welcher die oberste Bedingung des 
 [15]  ersteren nach der Vernunft enthält; ungefähr so, wie zu den Anschauungen 
der Sinnenwelt Begriffe des Verstandes, die für sich selbst nichts als ge- 
setzliche Form überhaupt bedeuten, hinzu kommen und dadurch synthetische 
Sätze a priori, auf welchen alle Erkenntniß einer Natur beruht, möglich 
machen. 
 [20]       Der praktische Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft bestätigt 
die Richtigkeit dieser Deduction. Es ist niemand, selbst der ärgste Böse- 
wicht, wenn er nur sonst Vernunft zu brauchen gewohnt ist, der nicht, 
wenn man ihm Beispiele der Redlichkeit in Absichten, der Standhaftigkeit 
in Befolgung guter Maximen, der Theilnehmung und des allgemeinen 
 [25]  Wohlwollens (und noch dazu mit großen Aufopferungen von Vortheilen 
und Gemächlichkeit verbunden) vorlegt, nicht wünsche, daß er auch so ge- 
sinnt sein möchte. Er kann es aber nur wegen seiner Neigungen und An- 
triebe nicht wohl in sich zu Stande bringen, wobei er dennoch zugleich 
wünscht, von solchen ihm selbst lästigen Neigungen frei zu sein. Er be- 
 [30]  weiset hiedurch also, daß er mit einem Willen, der von Antrieben der 
Sinnlichkeit frei ist, sich in Gedanken in eine ganz andere Ordnung der 
Dinge versetze, als die seiner Begierden im Felde der Sinnlichkeit, weil 
er von jenem Wunsche keine Vergnügung der Begierden, mithin keinen 
für irgend eine seiner wirklichen oder sonst erdenklichen Neigungen be- 
 [35]  friedigenden Zustand (denn dadurch würde selbst die Idee, welche ihm 
den Wunsch ablockt, ihre Vorzüglichkeit einbüßen), sondern nur einen 
größeren inneren Werth seiner Person erwarten kann. Diese bessere Per- 
 
 
454 [111-113]
         

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son glaubt er aber zu sein, wenn er sich in den Standpunkt eines Gliedes 
der Verstandeswelt versetzt, dazu die Idee der Freiheit, d. i. Unabhängig- 
keit von bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt, ihn unwillkürlich 
nöthigt, und in welchem er sich eines guten Willens bewußt ist, der für 
 [5]  seinen bösen Willen als Gliedes der Sinnenwelt nach seinem eigenen Ge- 
ständnisse das Gesetz ausmacht, dessen Ansehen er kennt, indem er es über- 
tritt. Das moralische Sollen ist also eigenes nothwendiges Wollen als 
Gliedes einer intelligibelen Welt und wird nur so fern von ihm als Sollen 
gedacht, als er sich zugleich wie ein Glied der Sinnenwelt betrachtet. 

 [10]  

Von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie.

 
     Alle Menschen denken sich dem Willen nach als frei. Daher kommen 
alle Urtheile über Handlungen als solche, die hätten geschehen sollen, 
ob sie gleich nicht geschehen sind. Gleichwohl ist diese Freiheit kein 
Erfahrungsbegriff und kann es auch nicht sein, weil er immer bleibt, ob- 
 [15]  gleich die Erfahrung das Gegentheil von denjenigen Forderungen zeigt, 
die unter Voraussetzung derselben als nothwendig vorgestellt werden. 
Auf der anderen Seite ist es eben so nothwendig, daß alles, was geschieht, 
nach Naturgesetzen unausbleiblich bestimmt sei, und diese Naturnoth- 
wendigkeit ist auch kein Erfahrungsbegriff, eben darum weil er den Be- 
 [20]  griff der Nothwendigkeit, mithin einer Erkenntniß a priori bei sich führt. 
Aber dieser Begriff von einer Natur wird durch Erfahrung bestätigt und 
muß selbst unvermeidlich vorausgesetzt werden, wenn Erfahrung, d. i. nach 
allgemeinen Gesetzen zusammenhängende Erkenntniß der Gegenstände der 
Sinne, möglich sein soll. Daher ist Freiheit nur eine Idee der Vernunft, 
 [25]  deren objective Realität an sich zweifelhaft ist, Natur aber ein Ver- 
standesbegriff, der seine Realität an Beispielen der Erfahrung be- 
weiset und nothwendig beweisen muß. 
     Ob nun gleich hieraus eine Dialektik der Vernunft entspringt, da in 
Ansehung des Willens die ihm beigelegte Freiheit mit der Naturnoth- 
 [30]  wendigkeit im Widerspruch zu stehen scheint, und bei dieser Wegescheidung 
die Vernunft in speculativer Absicht den Weg der Naturnothwendig- 
keit viel gebähnter und brauchbarer findet, als den der Freiheit: so ist doch 
in praktischer Absicht der Fußsteig der Freiheit der einzige, auf wel- 
chem es möglich ist, von seiner Vernunft bei unserem Thun und Lassen 
 
 
455 [113-114]
         

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Gebrauch zu machen; daher wird es der subtilsten Philosophie eben so un- 
möglich, wie der gemeinsten Menschenvernunft, die Freiheit wegzuver- 
nünfteln. Diese muß also wohl voraussetzen: daß kein wahrer Wider- 
spruch zwischen Freiheit und Naturnothwendigkeit ebenderselben mensch- 
 [5]  lichen Handlungen angetroffen werde, denn sie kann eben so wenig den 
Begriff der Natur, als den der Freiheit aufgeben. 
     Indessen muß dieser Scheinwiderspruch wenigstens auf überzeugende 
Art vertilgt werden, wenn man gleich, wie Freiheit möglich sei, niemals 
begreifen könnte. Denn wenn sogar der Gedanke von der Freiheit sich 
 [10]  selbst, oder der Natur, die eben so nothwendig ist, widerspricht, so müßte 
sie gegen die Naturnothwendigkeit durchaus aufgegeben werden. 
     Es ist aber unmöglich, diesem Widerspruch zu entgehen, wenn das 
Subject, was sich frei dünkt, sich selbst in demselben Sinne, oder in 
eben demselben Verhältnisse dächte, wenn es sich frei nennt, als wenn 
 [15]  es sich in Absicht auf die nämliche Handlung dem Naturgesetze unterworfen 
annimmt. Daher ist es eine unnachlaßliche Aufgabe der speculativen 
Philosophie: wenigstens zu zeigen, daß ihre Täuschung wegen des Wider- 
spruchs darin beruhe, daß wir den Menschen in einem anderen Sinne 
und Verhältnisse denken, wenn wir ihn frei nennen, als wenn wir ihn als 
 [20]  Stück der Natur dieser ihren Gesetzen für unterworfen halten, und daß 
beide nicht allein gar wohl beisammen stehen können, sondern auch als 
nothwendig vereinigt in demselben Subject gedacht werden müssen, 
weil sonst nicht Grund angegeben werden könnte, warum wir die Ver- 
nunft mit einer Idee belästigen sollten, die, ob sie sich gleich ohne Wider- 
 [25]  spruch mit einer anderen, genugsam bewährten vereinigen läßt, dennoch 
uns in ein Geschäfte verwickelt, wodurch die Vernunft in ihrem theoreti- 
schen Gebrauche sehr in die Enge gebracht wird. Diese Pflicht liegt aber 
bloß der speculativen Philosophie ob, damit sie der praktischen freie Bahn 
schaffe. Also ist es nicht in das Belieben des Philosophen gesetzt, ob er 
 [30]  den scheinbaren Widerstreit heben, oder ihn unangerührt lassen will; denn 
im letzteren Falle ist die Theorie hierüber bonum vacans, in dessen Be- 
sitz sich der Fatalist mit Grunde setzen und alle Moral aus ihrem ohne 
Titel besessenen vermeinten Eigenthum verjagen kann. 
     Doch kann man hier noch nicht sagen, daß die Grenze der praktischen 
 [35]  Philosophie anfange. Denn jene Beilegung der Streitigkeit gehört gar 
nicht ihr zu, sondern sie fordert nur von der speculativen Vernunft, daß 
diese die Uneinigkeit, darin sie sich in theoretischen Fragen selbst verwickelt, 
 
 
456 [114-116]
         

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zu Ende bringe, damit praktische Vernunft Ruhe und Sicherheit für äußere 
Angriffe habe, die ihr den Boden, worauf sie sich anbauen will, streitig 
machen könnten. 
     Der Rechtsanspruch aber selbst der gemeinen Menschenvernunft auf 
 [5]  Freiheit des Willens gründet sich auf das Bewußtsein und die zugestan- 
dene Voraussetzung der Unabhängigkeit der Vernunft von bloß subjectiv- 
bestimmenden Ursachen, die insgesammt das ausmachen, was bloß zur 
Empfindung, mithin unter die allgemeine Benennung der Sinnlichkeit ge- 
hört. Der Mensch, der sich auf solche Weise als Intelligenz betrachtet, setzt 
 [10]  sich dadurch in eine andere Ordnung der Dinge und in ein Verhältniß zu 
bestimmenden Gründen von ganz anderer Art, wenn er sich als Intelligenz 
mit einem Willen, folglich mit Causalität, begabt denkt, als wenn er sich 
wie ein Phänomen in der Sinnenwelt (welches er wirklich auch ist) wahr- 
nimmt und seine Causalität äußerer Bestimmung nach Naturgesetzen 
 [15]  unterwirft. Nun wird er bald inne, daß beides zugleich stattfinden könne, 
ja sogar müsse. Denn daß ein Ding in der Erscheinung (das zur 
Sinnenwelt gehörig) gewissen Gesetzen unterworfen ist, von welchen eben 
dasselbe als Ding oder Wesen an sich selbst unabhängig ist, enthält 
nicht den mindesten Widerspruch; daß er sich selbst aber auf diese zwiefache 
 [20]  Art vorstellen und denken müsse, beruht, was das erste betrifft, auf dem 
Bewußtsein seiner selbst als durch Sinne afficirten Gegenstandes, was 
das zweite anlangt, auf dem Bewußtsein seiner selbst als Intelligenz, 
d. i. als unabhängig im Vernunftgebrauch von sinnlichen Eindrücken 
(mithin als zur Verstandeswelt gehörig). 
 [25]       Daher kommt es, daß der Mensch sich eines Willens anmaßt, der 
nichts auf seine Rechnung kommen läßt, was bloß zu seinen Begierden 
und Neigungen gehört, und dagegen Handlungen durch sich als möglich, 
ja gar als nothwendig denkt, die nur mit Hintansetzung aller Begierden 
und sinnlichen Anreizungen geschehen können. Die Causalität derselben 
 [30]  liegt in ihm als Intelligenz und in den Gesetzen der Wirkungen und 
Handlungen nach Principien einer intelligibelen Welt, von der er wohl 
nichts weiter weiß, als daß darin lediglich die Vernunft und zwar reine, 
von Sinnlichkeit unabhängige Vernunft das Gesetz gebe, imgleichen da er 
daselbst nur als Intelligenz das eigentliche Selbst (als Mensch hingegen 
 [35]  nur Erscheinung seiner selbst) ist, jene Gesetze ihn unmittelbar und kate- 
gorisch angehen, so daß, wozu Neigungen und Antriebe (mithin die ganze 
Natur der Sinnenwelt) anreizen, den Gesetzen seines Wollens als Intelli- 
 
 
457 [116-118]
         

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genz keinen Abbruch thun kann, so gar, daß er die erstere nicht verant- 
wortet und seinem eigentlichen Selbst, d. i. seinem Willen, nicht zuschreibt, 
wohl aber die Nachsicht, die er gegen sie tragen möchte, wenn er ihnen zum 
Nachtheil der Vernunftgesetze des Willens Einfluß auf seine Maximen 
 [5]  einräumte. 
     Dadurch, daß die praktische Vernunft sich in eine Verstandeswelt 
hinein denkt, überschreitet sie gar nicht ihre Grenzen, wohl aber wenn 
sie sich hineinschauen, hineinempfinden wollte. Jenes ist nur ein 
negativer Gedanke in Ansehung der Sinnenwelt, die der Vernunft in Be- 
 [10]  stimmung des Willens keine Gesetze giebt, und nur in diesem einzigen 
Punkte positiv, daß jene Freiheit als negative Bestimmung zugleich mit 
einem (positiven) Vermögen und sogar mit einer Causalität der Vernunft 
verbunden sei, welche wir einen Willen nennen, so zu handeln, daß das 
Princip der Handlungen der wesentlichen Beschaffenheit einer Vernunft- 
 [15]  ursache, d. i. der Bedingung der Allgemeingültigkeit der Maxime als eines 
Gesetzes, gemäß sei. Würde sie aber noch ein Object des Willens, d. i. 
eine Bewegursache, aus der Verstandeswelt herholen, so überschritte sie 
ihre Grenzen und maßte sich an, etwas zu kennen, wovon sie nichts weiß. 
Der Begriff einer Verstandeswelt ist also nur ein Standpunkt, den die 
 [20]  Vernunft sich genöthigt sieht, außer den Erscheinungen zu nehmen, um 
sich selbst als praktisch zu denken, welches, wenn die Einflüsse der 
Sinnlichkeit für den Menschen bestimmend wären, nicht möglich sein würde, 
welches aber doch nothwendig ist, wofern ihm nicht das Bewußtsein seiner 
selbst als Intelligenz, mithin als vernünftige und durch Vernunft thätige, 
 [25]  d. i. frei wirkende, Ursache abgesprochen werden soll. Dieser Gedanke führt 
freilich die Idee einer anderen Ordnung und Gesetzgebung, als die des 
Naturmechanismus, der die Sinnenwelt trifft, herbei und macht den Begriff 
einer intelligibelen Welt (d. i. das Ganze vernünftiger Wesen, als Dinge 
an sich selbst) nothwendig, aber ohne die mindeste Anmaßung, hier weiter 
 [30]  als bloß ihrer formalen Bedingung nach, d. i. der Allgemeinheit der 
Maxime des Willens als Gesetz, mithin der Autonomie des letzteren, die 
allein mit der Freiheit desselben bestehen kann, gemäß zu denken; da hin- 
gegen alle Gesetze, die auf ein Object bestimmt sind, Heteronomie geben, 
die nur an Naturgesetzen angetroffen werden und auch nur die Sinnenwelt 
 [35]  treffen kann. 
     Aber alsdann würde die Vernunft alle ihre Grenze überschreiten, 
wenn sie es sich zu erklären unterfinge, wie reine Vernunft praktisch sein 
 
 
458 [118-120]
         

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könne, welches völlig einerlei mit der Aufgabe sein würde, zu erklären, 
wie Freiheit möglich sei. 
     Denn wir können nichts erklären, als was wir auf Gesetze zurück- 
führen können, deren Gegenstand in irgend einer möglichen Erfahrung 
 [5]  gegeben werden kann. Freiheit aber ist eine bloße Idee, deren objective 
Realität auf keine Weise nach Naturgesetzen, mithin auch nicht in irgend 
einer möglichen Erfahrung dargethan werden kann, die also darum, weil 
ihr selbst niemals nach irgend einer Analogie ein Beispiel untergelegt wer- 
den mag, niemals begriffen, oder auch nur eingesehen werden kann. Sie gilt 
 [10]  nur als nothwendige Voraussetzung der Vernunft in einem Wesen, das 
sich eines Willens, d. i. eines vom bloßen Begehrungsvermögen noch ver- 
schiedenen Vermögens, (nämlich sich zum Handeln als Intelligenz, mithin 
nach Gesetzen der Vernunft unabhängig von Naturinstincten zu bestim- 
men) bewußt zu sein glaubt. Wo aber Bestimmung nach Naturgesetzen 
 [15]  aufhört, da hört auch alle Erklärung auf, und es bleibt nichts übrig als 
Vertheidigung, d. i. Abtreibung der Einwürfe derer, die tiefer in das 
Wesen der Dinge geschaut zu haben vorgeben und darum die Freiheit 
dreust für unmöglich erklären. Man kann ihnen nur zeigen, daß der ver- 
meintlich von ihnen darin entdeckte Widerspruch nirgend anders liege als 
 [20]  darin, daß, da sie, um das Naturgesetz in Ansehung menschlicher Hand- 
lungen geltend zu machen, den Menschen nothwendig als Erscheinung be- 
trachten mußten und nun, da man von ihnen fordert, daß sie ihn als In- 
telligenz auch als Ding an sich selbst denken sollten, sie ihn immer auch da 
noch als Erscheinung betrachten, wo denn freilich die Absonderung seiner 
 [25]  Causalität (d. i. seines Willens) von allen Naturgesetzen der Sinnenwelt 
in einem und demselben Subjecte im Widerspruche stehen würde, welcher 
aber wegfällt, wenn sie sich besinnen und wie billig eingestehen wollten, 
daß hinter den Erscheinungen doch die Sachen an sich selbst (obzwar ver- 
borgen) zum Grunde liegen müssen, von deren Wirkungsgesetzen man nicht 
 [30]  verlangen kann, daß sie mit denen einerlei sein sollten, unter denen ihre 
Erscheinungen stehen. 
     Die subjective Unmöglichkeit, die Freiheit des Willens zu erklären, 
ist mit der Unmöglichkeit, ein Interesse*) ausfindig und begreiflich zu 
 
 
      *) Interesse ist das, wodurch Vernunft praktisch, d. i. eine den Willen be- 
 [35]  stimmende Ursache, wird. Daher sagt man nur von einem vernünftigen Wesen, daß 
 es woran ein Interesse nehme, vernunftlose Geschöpfe fühlen nur sinnliche Antriebe. 
 
 
459 [120-122]
         

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machen, welches der Mensch an moralischen Gesetzen nehmen könne, einer- 
lei; und gleichwohl nimmt er wirklich daran ein Interesse, wozu wir die 
Grundlage in uns das moralische Gefühl nennen, welches fälschlich für 
das Richtmaß unserer sittlichen Beurtheilung von einigen ausgegeben 
 [5]  worden, da es vielmehr als die subjective Wirkung, die das Gesetz auf 
den Willen ausübt, angesehen werden muß, wozu Vernunft allein die ob- 
jectiven Gründe hergiebt. 
     Um das zu wollen, wozu die Vernunft allein dem sinnlich-afficirten 
vernünftigen Wesen das Sollen vorschreibt, dazu gehört freilich ein Ver- 
 [10]  mögen der Vernunft, ein Gefühl der Lust oder des Wohlgefallens an 
der Erfüllung der Pflicht einzuflößen, mithin eine Causalität derselben, 
die Sinnlichkeit ihren Principien gemäß zu bestimmen. Es ist aber gänz- 
lich unmöglich, einzusehen, d. i. a priori begreiflich zu machen, wie ein 
bloßer Gedanke, der selbst nichts Sinnliches in sich enthält, eine Empfin- 
 [15]  dung der Lust oder Unlust hervorbringe; denn das ist eine besondere Art 
von Causalität, von der wie von aller Causalität wir gar nichts a priori 
bestimmen können, sondern darum allein die Erfahrung befragen müssen. 
Da diese aber kein Verhältniß der Ursache zur Wirkung, als zwischen 
zwei Gegenständen der Erfahrung an die Hand geben kann, hier aber reine 
 [20]  Vernunft durch bloße Ideen (die gar keinen Gegenstand für Erfahrung 
abgeben) die Ursache von einer Wirkung, die freilich in der Erfahrung 
liegt, sein soll, so ist die Erklärung, wie und warum uns die Allgemein- 
heit der Maxime als Gesetzes, mithin die Sittlichkeit interessire, 
uns Menschen gänzlich unmöglich. So viel ist nur gewiß: daß es nicht 
 [25]  darum für uns Gültigkeit hat, weil es interessirt (denn das ist Hete- 
ronomie und Abhängigkeit der praktischen Vernunft von Sinnlichkeit, näm- 
 
 
 Ein unmittelbares Interesse nimmt die Vernunft nur alsdann an der Handlung, 
 wenn die Allgemeingültigkeit der Maxime derselben ein gnugsamer Bestimmungs- 
 grund des Willens ist. Ein solches Interesse ist allein rein. Wenn sie aber den 
 [30]  Willen nur vermittelst eines anderen Objects des Begehrens, oder unter Voraus- 
 setzung eines besonderen Gefühls des Subjects bestimmen kann, so nimmt die 
 Vernunft nur ein mittelbares Interesse an der Handlung, und da Vernunft für 
 sich allein weder Objecte des Willens, noch ein besonderes ihm zu Grunde liegendes 
 Gefühl ohne Erfahrung ausfindig machen kann, so würde das letztere Interesse 
 [35]  nur empirisch und kein reines Vernunftinteresse sein. Das logische Interesse der 
 Vernunft (ihre Einsichten zu befördern) ist niemals unmittelbar, sondern setzt Ab- 
 sichten ihres Gebrauchs voraus. 
 
 
460 [122-123]
         

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lich einem zum Grunde liegenden Gefühl, wobei sie niemals sittlich ge- 
setzgebend sein könnte), sondern daß es interessirt, weil es für uns als 
Menschen gilt, da es aus unserem Willen als Intelligenz, mithin aus 
unserem eigentlichen Selbst entsprungen ist; was aber zur bloßen Er- 
 [5]  scheinung gehört, wird von der Vernunft nothwendig der Be- 
schaffenheit der Sache an sich selbst untergeordnet. 
     Die Frage also, wie ein kategorischer Imperativ möglich sei, kann 
zwar so weit beantwortet werden, als man die einzige Voraussetzung an- 
geben kann, unter der er allein möglich ist, nämlich die Idee der Freiheit, 
 [10]  imgleichen als man die Nothwendigkeit dieser Voraussetzung einsehen kann, 
welches zum praktischen Gebrauche der Vernunft, d. i. zur Überzeugung 
von der Gültigkeit dieses Imperativs, mithin auch des sittlichen 
Gesetzes hinreichend ist, aber wie diese Voraussetzung selbst möglich sei, 
läßt sich durch keine menschliche Vernunft jemals einsehen. Unter Vor- 
 [15]  aussetzung der Freiheit des Willens einer Intelligenz aber ist die Auto- 
nomie desselben, als die formale Bedingung, unter der er allein bestimmt 
werden kann, eine nothwendige Folge. Diese Freiheit des Willens vor- 
auszusetzen, ist auch nicht allein (ohne in Widerspruch mit dem Princip 
der Naturnothwendigkeit in der Verknüpfung der Erscheinungen der Sinnen- 
 [20]  welt zu gerathen) ganz wohl möglich (wie die speculative Philosophie 
zeigen kann), sondern auch sie praktisch, d. i. in der Idee, allen seinen will- 
kürlichen Handlungen als Bedingung unterzulegen, ist einem vernünftigen 
Wesen, das sich seiner Causalität durch Vernunft, mithin eines Willens 
(der von Begierden unterschieden ist) bewußt ist, ohne weitere Bedingung 
 [25]  nothwendig. Wie nun aber reine Vernunft ohne andere Triebfedern, 
die irgend woher sonst genommen sein mögen, für sich selbst praktisch sein, 
d. i. wie das bloße Princip der Allgemeingültigkeit aller ihrer 
Maximen als Gesetze (welches freilich die Form einer reinen praktischen 
Vernunft sein würde) ohne alle Materie (Gegenstand) des Willens, wor- 
 [30]  an man zum voraus irgend ein Interesse nehmen dürfe, für sich selbst 
eine Triebfeder abgeben und ein Interesse, welches rein moralisch heißen 
würde, bewirken, oder mit anderen Worten, wie reine Vernunft prak- 
tisch sein könne, das zu erklären, dazu ist alle menschliche Vernunft 
gänzlich unvermögend, und alle Mühe und Arbeit, hievon Erklärung zu 
 [35]  suchen, ist verloren. 
     Es ist eben dasselbe, als ob ich zu ergründen suchte, wie Freiheit selbst 
als Causalität eines Willens möglich sei. Denn da verlasse ich den philo- 
 
 
461 [123-125]
         

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sophischen Erklärungsgrund und habe keinen anderen. Zwar könnte ich 
nun in der intelligibelen Welt, die mir noch übrig bleibt, in der Welt der 
Intelligenzen, herumschwärmen; aber ob ich gleich davon eine Idee habe, 
die ihren guten Grund hat, so habe ich doch von ihr nicht die mindeste 
 [5]  Kenntniß und kann auch zu dieser durch alle Bestrebung meines natür- 
lichen Vernunftvermögens niemals gelangen. Sie bedeutet nur ein Etwas, 
das da übrig bleibt, wenn ich alles, was zur Sinnenwelt gehört, von den 
Bestimmungsgründen meines Willens ausgeschlossen habe, bloß um das 
Princip der Bewegursachen aus dem Felde der Sinnlichkeit einzuschrän- 
 [10]  ken, dadurch daß ich es begrenze und zeige, daß es nicht Alles in Allem in 
sich fasse, sondern daß außer ihm noch mehr sei; dieses Mehrere aber kenne 
ich nicht weiter. Von der reinen Vernunft, die dieses Ideal denkt, bleibt 
nach Absonderung aller Materie, d. i. Erkenntniß der Objecte, mir 
nichts als die Form übrig, nämlich das praktische Gesetz der Allgemein- 
 [15]  gültigkeit der Maximen und diesem gemäß die Vernunft in Beziehung 
auf eine reine Verstandeswelt als mögliche wirkende, d. i. als den Willen 
bestimmende, Ursache zu denken; die Triebfeder muß hier gänzlich fehlen; 
es müßte denn diese Idee einer intelligibelen Welt selbst die Triebfeder 
oder dasjenige sein, woran die Vernunft ursprünglich ein Interesse nähme; 
 [20]  welches aber begreiflich zu machen gerade die Aufgabe ist, die wir nicht 
auflösen können. 
     Hier ist nun die oberste Grenze aller moralischen Nachforschung, 
welche aber zu bestimmen, auch schon darum von großer Wichtigkeit ist, 
damit die Vernunft nicht einerseits in der Sinnenwelt auf eine den Sitten 
 [25]  schädliche Art nach der obersten Bewegursache und einem begreiflichen, 
aber empirischen Interesse herumsuche, andererseits aber, damit sie auch 
nicht in dem für sie leeren Raum transscendenter Begriffe unter dem 
Namen der intelligibelen Welt kraftlos ihre Flügel schwinge, ohne von der 
Stelle zu kommen, und sich unter Hirngespinsten verliere. Übrigens bleibt 
 [30]  die Idee einer reinen Verstandeswelt als eines Ganzen aller Intelligenzen, 
wozu wir selbst als vernünftige Wesen (obgleich andererseits zugleich Glie- 
der der Sinnenwelt) gehören, immer eine brauchbare und erlaubte Idee 
zum Behufe eines vernünftigen Glaubens, wenn gleich alles Wissen an 
der Grenze derselben ein Ende hat, um durch das herrliche Ideal eines 
 [35]  allgemeinen Reichs der Zwecke an sich selbst (vernünftiger Wesen), zu 
welchem wir nur alsdann als Glieder gehören können, wenn wir uns nach 
Maximen der Freiheit, als ob sie Gesetze der Natur wären, sorgfältig 
 
 
462 [125-127]
         

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verhalten, ein lebhaftes Interesse an dem moralischen Gesetze in uns zu 
bewirken. 

Schlußanmerkung.

 
     Der speculative Gebrauch der Vernunft in Ansehung der Natur 
 [5]  führt auf absolute Nothwendigkeit irgend einer obersten Ursache der Welt; 
der praktische Gebrauch der Vernunft in Absicht auf die Freiheit 
führt auch auf absolute Nothwendigkeit, aber nur der Gesetze der Hand- 
lungen eines vernünftigen Wesens als eines solchen. Nun ist es ein 
wesentliches Princip alles Gebrauchs unserer Vernunft, ihr Erkenntniß 
 [10]  bis zum Bewußtsein ihrer Nothwendigkeit zu treiben (denn ohne diese 
wäre sie nicht Erkenntniß der Vernunft). Es ist aber auch eine eben so 
wesentliche Einschränkung eben derselben Vernunft, daß sie weder die 
Nothwendigkeit dessen, was da ist, oder was geschieht, noch dessen, was 
geschehen soll, einsehen kann, wenn nicht eine Bedingung, unter der es 
 [15]  da ist oder geschieht oder geschehen soll, zum Grunde gelegt wird. Auf 
diese Weise aber wird durch die beständige Nachfrage nach der Bedingung 
die Befriedigung der Vernunft nur immer weiter aufgeschoben. Daher 
sucht sie rastlos das Unbedingt-Nothwendige und sieht sich genöthigt, es 
anzunehmen, ohne irgend ein Mittel, es sich begreiflich zu machen; glück- 
 [20]  lich gnug, wenn sie nur den Begriff ausfindig machen kann, der sich mit 
dieser Voraussetzung verträgt. Es ist also kein Tadel für unsere Deduc- 
tion des obersten Princips der Moralität, sondern ein Vorwurf, den man 
der menschlichen Vernunft überhaupt machen müßte, daß sie ein unbeding- 
tes praktisches Gesetz (dergleichen der kategorische Imperativ sein muß) 
 [25]  seiner absoluten Nothwendigkeit nach nicht begreiflich machen kann; denn 
daß sie dieses nicht durch eine Bedingung, nämlich vermittelst irgend eines 
zum Grunde gelegten Interesse, thun will, kann ihr nicht verdacht werden, 
weil es alsdann kein moralisches, d. i. oberstes Gesetz der Freiheit sein 
würde. Und so begreifen wir zwar nicht die praktische unbedingte Noth- 
 [30]  wendigkeit des moralischen Imperativs, wir begreifen aber doch seine Un- 
begreiflichkeit, welches alles ist, was billigermaßen von einer Phil- 
osophie, die bis zur Grenze der menschlichen Vernunft in Principien strebt, 
gefordert werden kann. 
 
 

  
 
 
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