Grundlegung

zur

Metaphysik

der Sitten

von

Immanuel Kant.

Zweyte Auflage.

Riga,

bey Johann Friedrich Hartknoch
1786.
Inhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Vorrede · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786


Vorrede.

Die alte griechische Philosophie theilte sich
in drey Wissenschaften ab: Die Phy-
sik, die Ethik und die Logik.
[5]Diese Eintheilung ist der Natur der Sache
vollkommen angemessen, und man hat an ihr
nichts zu verbessern, als etwa nur das Princip
derselben hinzu zu thun, um sich auf solche Art
theils ihrer Vollständigkeit zu versichern, theils
[10]die nothwendigen Unterabtheilungen richtig be-
stimmen zu können.

Alle Vernunfterkenntniß ist entweder ma-
terial, und betrachtet irgend ein Object; oder
formal, und beschäftigt sich bloß mit der Form
[15]des Verstandes und der Vernunft selbst, und
den allgemeinen Regeln des Denkens überhaupt,
ohne Unterschied der Objecte. Die formale
Philosophie heißt Logik, die materiale aber,

iii [4:387]
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welche es mit bestimmten Gegenständen und
den Gesetzen zu thun hat, denen sie unterwor-
fen sind, ist wiederum zwiefach. Denn diese
Gesetze sind entweder Gesetze der Natur, oder
[5]der Freyheit. Die Wissenschaft von der ersten
heißt Physik, die der andern ist Ethik;
jene wird auch Naturlehre, diese Sittenlehre
genannt.

Die Logik kann keinen empirischen Theil
[10]haben, d. i. einen solchen, da die allgemeinen
und nothwendigen Gesetze des Denkens auf
Gründen beruheten, die von der Erfahrung her-
genommen wären; denn sonst wäre sie nicht
Logik, d. i. ein Canon für den Verstand, oder
[15]die Vernunft, der bey allem Denken gilt und
demonstrirt werden muß. Dagegen können
sowol die natürliche, als sittliche Weltweis-
heit, jede ihren empirischen Theil haben, weil
jene der Natur, als einem Gegenstande der
[20]Erfahrung, diese aber dem Willen des Men-
schen, so fern er durch die Natur afficirt wird,
ihre Gesetze bestimmen muß, die erstern zwar
als Gesetze, nach denen alles geschieht, die

iv [4:387-388]
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zweyten als solche, nach denen alles geschehen soll,
aber doch auch mit Erwägung der Bedingun-
gen, unter denen es öfters nicht geschieht.

Man kann alle Philosophie, so fern sie
[5]sich auf Gründe der Erfahrung fußt, empiri-
sche, die aber, so lediglich aus Principien a
priori ihre Lehren vorträgt, reine Philosophie
nennen. Die letztere, wenn sie bloß formal
ist, heißt Logik; ist sie aber auf bestimmte Ge-
[10]genstände des Verstandes eingeschränkt, so heißt
sie Metaphysik.

Auf solche Weise entspringt die Idee einer
zwiefachen Metaphysik, einer Metaphysik der
Natur und einer Metaphysik der Sitten.
[15]Die Physik wird also ihren empirischen, aber
auch einen rationalen Theil haben; die Ethik
gleichfalls; wiewol hier der empirische Theil
besonders practische Anthropologie, der ra-
tionale aber eigentlich Moral heißen könnte.

[20]Alle Gewerbe, Handwerke und Künste,
haben durch die Vertheilung der Arbeiten ge-

v [4:388]
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wonnen, da nemlich nicht einer alles macht,
sondern jeder sich auf gewisse Arbeit, die sich,
ihrer Behandlungsweise nach, von andern
merklich unterscheidet, einschränkt, um sie in
[5]der größten Vollkommenheit und mit mehrerer
Leichtigkeit leisten zu können. Wo die Arbei-
ten so nicht unterschieden und vertheilt werden,
wo jeder ein Tausendkünstler ist, da liegen die
Gewerbe noch in der größten Barbarey. Aber
[10]ob dieses zwar für sich ein der Erwägung nicht
unwürdiges Object wäre, zu fragen: ob die
reine Philosophie in allen ihren Theilen nicht
ihren besondern Mann erheische, und es um
das Ganze des gelehrten Gewerbes nicht besser
[15]stehen würde, wenn die, so das Empirische mit
dem Rationalen, dem Geschmacke des Publi-
cums gemäß, nach allerley ihnen selbst unbe-
kannten Verhältnissen gemischt, zu verkaufen
gewohnt sind, die sich Selbstdenker, andere
[20]aber, die den bloß rationalen Theil zubereiten,
Grübler nennen, gewarnt würden, nicht zwey
Geschäfte zugleich zu treiben, die in der Art, sie
zu behandeln, gar sehr verschieden sind, zu de-
ren jedem vielleicht ein besonderes Talent erfo-

vi [4:388]
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dert wird, und deren Verbindung in einer Per-
son nur Stümper hervorbringt: so frage ich
hier doch nur, ob nicht die Natur der Wissen-
schaft es erfodere, den empirischen von dem
[5]rationalen Theil jederzeit sorgfältig abzusondern,
und vor der eigentlichen (empirischen) Physik
eine Metaphysik der Natur, vor der practischen
Anthropologie aber eine Metaphysik der Sitten
voranzuschicken, die von allem Empirischen
[10]sorgfältig gesäubert seyn müßte, um zu wissen,
wie viel reine Vernunft in beiden Fällen leisten
könne, und aus welchen Quellen sie selbst diese
ihre Belehrung a priori schöpfe, es mag übri-
gens das letztere Geschäfte von allen Sittenleh-
[15]rern, (deren Name Legion heißt) oder nur
von einigen, die Beruf dazu fühlen, getrie-
ben werden.

Da meine Absicht hier eigentlich auf die
sittliche Weltweisheit gerichtet ist, so schränke
[20]ich die vorgelegte Frage nur darauf ein: ob
man nicht meyne, daß es von der äußersten
Nothwendigkeit sey, einmal eine reine Moral-
philosophie zu bearbeiten, die von allem, was

vii [4:388-389]
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nur empirisch seyn mag und zur Anthropologie
gehört, völlig gesäubert wäre; denn, daß es eine
solche geben müsse, leuchtet von selbst aus der
gemeinen Idee der Pflicht und der sittlichen Ge-
[5]setze ein. Jedermann muß eingestehen, daß
ein Gesetz, wenn es moralisch, d. i. als Grund
einer Verbindlichkeit, gelten soll, absolute
Nothwendigkeit bey sich führen müsse; daß das
Gebot: du sollt nicht lügen, nicht etwa bloß
[10]für Menschen gelte, andere vernünftige Wesen
sich aber daran nicht zu kehren hätten; und so
alle übrige eigentliche Sittengesetze; daß mithin
der Grund der Verbindlichkeit hier nicht in der
Natur des Menschen, oder den Umständen in
[15]der Welt, darin er gesetzt ist, gesucht werden
müsse, sondern a priori lediglich in Begriffen
der reinen Vernunft, und daß jede andere Vor-
schrift, die sich auf Principien der bloßen Er-
fahrung gründet, und sogar eine in gewissem
[20]Betracht allgemeine Vorschrift, so fern sie sich
dem mindesten Theile, vielleicht nur einem Be-
wegungsgrunde nach, auf empirische Gründe
stützt, zwar eine practische Regel, niemals aber
ein moralisches Gesetz heißen kann.

viii [4:389]
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Also unterscheiden sich die moralischen Ge-
setze, samt ihren Principien, unter allem pra-
ctischen Erkenntnisse von allem übrigen, darin
irgend etwas Empirisches ist, nicht allein we-
[5]sentlich, sondern alle Moralphilosophie beruht
gänzlich auf ihrem reinen Theil, und, auf den
Menschen angewandt, entlehnt sie nicht das
mindeste von der Kenntniß desselben, (Anthro-
pologie,) sondern giebt ihm, als vernünftigem
[10]Wesen, Gesetze a priori, die freylich noch durch
Erfahrung geschärfte Urtheilskraft erfodern, um
theils zu unterscheiden, in welchen Fällen sie
ihre Anwendung haben, theils ihnen Eingang
in den Willen des Menschen und Nachdruck zur
[15]Ausübung zu verschaffen, da diese, als selbst
mit so viel Neigungen afficirt, der Idee einer
practischen reinen Vernunft zwar fähig, aber
nicht so leicht vermögend ist, sie in seinem Le-
benswandel in concreto wirksam zu machen.

[20]Eine Metaphysik der Sitten ist also un-
entbehrlich nothwendig, nicht bloß aus einem
Bewegungsgrunde der Speculation, um die
Quelle der a priori in unserer Vernunft liegen-

ix [4:389-390]
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den practischen Grundsätze zu erforschen, son-
dern weil die Sitten selber allerley Verderbniß
unterworfen bleiben, so lange jener Leitfaden
und oberste Norm ihrer richtigen Beurtheilung
[5]fehlt. Denn bey dem, was moralisch gut
seyn soll, ist es nicht genug, daß es dem sittli-
chen Gesetze gemäß sey, sondern es muß auch
um desselben willen geschehen; widrigenfalls
ist jene Gemäßheit nur sehr zufällig und miß-
[10]lich, weil der unsittliche Grund zwar dann und
wann gesetzmäßige, mehrmalen aber gesetzwi-
drige Handlungen hervorbringen wird. Nun
ist aber das sittliche Gesetz, in seiner Reinigkeit
und Aechtheit, (woran eben im Practischen am
[15]meisten gelegen ist,) nirgend anders, als in einer
reinen Philosophie zu suchen, also muß diese
(Metaphysik) vorangehen, und ohne sie kann es
überall keine Moralphilosophie geben; selbst ver-
dient diejenige, welche jene reine Principien
[20]unter die empirischen mischt, den Namen einer
Philosophie nicht, (denn dadurch unterscheidet
diese sich eben von der gemeinen Vernunfter-
kenntniß, daß sie, was diese nur vermengt be-
greift, in abgesonderter Wissenschaft vorträgt,)

x [4:390]
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viel weniger einer Moralphilosophie, weil sie
eben durch diese Vermengung so gar der Rei-
nigkeit der Sitten selbst Abbruch thut und ih-
rem eigenen Zwecke zuwider verfährt.

[5]Man denke doch ja nicht, daß man das,
was hier gefodert wird, schon an der Propä-
devtik des berühmten Wolf vor seiner Moral-
philosophie, nemlich der von ihm so genannten
allgemeinen practischen Weltweisheit, habe,
[10]und hier also nicht eben ein ganz neues Feld
einzuschlagen sey. Eben darum, weil sie eine
allgemeine practische Weltweisheit seyn sollte,
hat sie keinen Willen von irgend einer beson-
dern Art, etwa einen solchen, der ohne alle
[15]empirische Bewegungsgründe, völlig aus Prin-
cipien a priori, bestimmt werde, und den man
einen reinen Willen nennen könnte, sondern
das Wollen überhaupt in Betrachtung gezogen,
mit allen Handlungen und Bedingungen, die
[20]ihm in dieser allgemeinen Bedeutung zukom-
men, und dadurch unterscheidet sie sich von einer
Metaphysik der Sitten, eben so wie die allge-
meine Logik von der Transscendentalphiloso-

xi [4:390]
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phie, von denen die erstere die Handlungen
und Regeln des Denkens überhaupt, diese
aber bloß die besondern Handlungen und Re-
geln des reinen Denkens, d. i. desjenigen,
[5]wodurch Gegenstände völlig a priori erkannt
werden, vorträgt. Denn die Metaphysik der
Sitten soll die Idee und die Principien eines
möglichen reinen Willens untersuchen, und
nicht die Handlungen und Bedingungen des
[10]menschlichen Wollens überhaupt, welche größ-
tentheils aus der Psychologie geschöpft werden.
Daß in der allgemeinen practischen Weltweis-
heit (wiewol wider alle Befugniß,) auch von
moralischen Gesetzen und Pflicht geredet wird,
[15]macht keinen Einwurf wider meine Behaup-
tung aus. Denn die Verfasser jener Wissen-
schaft bleiben ihrer Idee von derselben auch
hierin treu; sie unterscheiden nicht die Bewe-
gungsgründe, die, als solche, völlig a priori
[20]bloß durch Vernunft vorgestellt werden und ei-
gentlich moralisch sind, von den empirischen, die
der Verstand bloß durch Vergleichung der Er-
fahrungen zu allgemeinen Begriffen erhebt,
sondern betrachten sie, ohne auf den Unterschied

xii [4:390-391]
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ihrer Quellen zu achten, nur nach der größeren
oder kleineren Summe derselben, (indem sie al-
le als gleichartig angesehen werden,) und ma-
chen sich dadurch ihren Begriff von Verbind-
[5]lichkeit, der freylich nichts weniger als mora-
lisch, aber doch so beschaffen ist, als es in einer
Philosophie, die über den Ursprung aller mög-
lichen practischen Begriffe, ob sie auch a priori
oder bloß a posteriori stattfinden, gar nicht ur-
[10]theilt, nur verlangt werden kann.

Im Vorsatze nun, eine Metaphysik der
Sitten dereinst zu liefern, lasse ich diese Grund-
legung vorangehen. Zwar giebt es eigentlich
keine andere Grundlage derselben, als die Cri-
[15]tik einer reinen practischen Vernunft, so
wie zur Metaphysik die schon gelieferte Critik
der reinen speculativen Vernunft. Allein, theils
ist jene nicht von so äußerster Nothwendigkeit,
als diese, weil die menschliche Vernunft im
[20]Moralischen, selbst beym gemeinsten Verstan-
de, leicht zu großer Richtigkeit und Ausführ-
lichkeit gebracht werden kann, da sie hingegen im
theoretischen, aber reinen Gebrauch, ganz und

xiii [4:391]
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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Vorrede · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

gar dialectisch ist: theils erfodere ich zur Critik
einer reinen practischen Vernunft, daß, wenn
sie vollendet seyn soll, ihre Einheit mit
der speculativen in einem gemeinschaftlichen
[5]Princip zugleich müsse dargestellt werden kön-
nen; weil es doch am Ende nur eine und die-
selbe Vernunft seyn kann, die bloß in der An-
wendung unterschieden seyn muß. Zu einer
solchen Vollständigkeit konnte ich es aber hier
[10]noch nicht bringen, ohne Betrachtungen von
ganz anderer Art herbeyzuziehen und den Le-
ser zu verwirren. Um deswillen habe ich mich,
statt der Benennung einer Critik der rei-
nen practischen Vernunft, der von einer
[15]Grundlegung zur Metaphysik der Sit-
ten bedient.

Weil aber drittens auch eine Metaphysik
der Sitten, ungeachtet des abschreckenden Ti-
tels, dennoch eines großen Grades der Popu-
[20]larität und Angemessenheit zum gemeinen Ver-
stande fähig ist, so finde ich für nützlich, diese
Vorarbeitung der Grundlage davon abzuson-
dern, um das Subtile, was darin unvermeid-

xiv [4:391-392]
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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Vorrede · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

lich ist, künftig nicht faßlichern Lehren beyfü-
gen zu dürfen.

Gegenwärtige Grundlegung ist aber
nichts mehr, als die Aufsuchung und Festse-
[5]tzung des obersten Princips der Moralität,
welche allein ein, in seiner Absicht, ganzes und
von aller anderen sittlichen Untersuchung abzu-
sonderndes Geschäfte ausmacht. Zwar würden
meine Behauptungen, über diese wichtige und
[10]bisher bey weitem noch nicht zur Gnugthuung
erörterte Hauptfrage, durch Anwendung dessel-
ben Princips auf das ganze System, viel Licht,
und, durch die Zulänglichkeit, die es allenthalben
blicken läßt, große Bestätigung erhalten: allein
[15]ich mußte mich dieses Vortheils begeben, der
auch im Grunde mehr eigenliebig, als gemein-
nützig seyn würde, weil die Leichtigkeit im Ge-
brauche und die scheinbare Zulänglichkeit eines
Princips keinen ganz sicheren Beweis von der
[20]Richtigkeit desselben abgiebt, vielmehr eine ge-
wisse Parteylichkeit erweckt, es nicht für sich
selbst, ohne alle Rücksicht auf die Folge, nach
aller Strenge zu untersuchen und zu wägen.

xv [4:392]
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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Vorrede · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

Ich habe meine Methode in dieser Schrift
so genommen, wie ich glaube, daß sie die schick-
lichste sey, wenn man vom gemeinen Erkennt-
nisse zur Bestimmung des obersten Princips
[5]desselben analytisch und wiederum zurück von
der Prüfung dieses Princips und den Quellen
desselben zur gemeinen Erkenntniß, darin sein
Gebrauch angetroffen wird, synthetisch den
Weg nehmen will. Die Eintheilung ist daher
[10]so ausgefallen:

1. Erster Abschnitt: Uebergang von der
gemeinen sittlichen Vernunfterkenntniß
zur philosophischen.

2. Zweyter Abschnitt: Uebergang von der
[15]populären Moralphilosophie zur Metaphy-
sik der Sitten.

3. Dritter Abschnitt: Letzter Schritt von
der Metaphysik der Sitten zur Critik der
reinen practischen Vernunft.



xvi [4:392]
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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Erster Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786


Erster Abschnitt.

Uebergang
von der gemeinen sittlichen Vernunfterkennt-
niß zur philosophischen.

[5]Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt
auch außer derselben zu denken möglich, was
ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als
allein ein guter Wille. Verstand, Witz, Urtheils-
kraft und wie die Talente des Geistes sonst heissen mö-
[10]gen, oder Muth, Entschlossenheit, Beharrlichkeit im
Vorsatze, als Eigenschaften des Temperaments, sind
ohne Zweifel in mancher Absicht gut und wünschens-
werth; aber sie können auch äußerst böse und schädlich
werden, wenn der Wille, der von diesen Naturgaben
[15]Gebrauch machen soll und dessen eigenthümliche Beschaf-
fenheit darum Character heißt, nicht gut ist. Mit den
Glücksgaben ist es eben so bewandt. Macht, Reich-
thum, Ehre, selbst Gesundheit, und das ganze Wohlbe-
finden und Zufriedenheit mit seinem Zustande, unter

1 [4:393]
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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Erster Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

dem Namen der Glückseligkeit, machen Muth und
hiedurch öfters auch Uebermuth, wo nicht ein guter
Wille da ist, der den Einfluß derselben aufs Gemüth,
und hiemit auch das ganze Princip zu handeln, berich-
[5]tige und allgemein-zweckmäßig mache; ohne zu erwäh-
nen, daß ein vernünftiger unparteyischer Zuschauer sogar
am Anblicke eines ununterbrochenen Wohlergehens eines
Wesens, das kein Zug eines reinen und guten Willens
zieret, nimmermehr ein Wohlgefallen haben kann, und
[10]so der gute Wille die unerlaßliche Bedingung selbst der
Würdigkeit glücklich zu seyn auszumachen scheint.

Einige Eigenschaften sind sogar diesem guten Wil-
len selbst beförderlich und können sein Werk sehr erleich-
tern, haben aber dem ungeachtet keinen innern unbe-
[15]dingten Werth, sondern setzen immer noch einen guten
Willen voraus, der die Hochschätzung, die man übrigens
mit Recht für sie trägt, einschränkt, und es nicht erlaubt,
sie für schlechthin gut zu halten. Mäßigung in Affecten
und Leidenschaften, Selbstbeherrschung und nüchterne
[20]Ueberlegung sind nicht allein in vielerley Absicht gut, son-
dern scheinen sogar einen Theil vom innern Werthe der
Person auszumachen; allein es fehlt viel daran, um sie
ohne Einschränkung für gut zu erklären, (so unbedingt
sie auch von den Alten gepriesen worden). Denn ohne
[25]Grundsätze eines guten Willens können sie höchst böse
werden, und das kalte Blut eines Bösewichts macht ihn

2 [4:393-394]
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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Erster Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

nicht allein weit gefährlicher, sondern auch unmittelbar
in unsern Augen noch verabscheuungswürdiger, als er
ohne dieses dafür würde gehalten werden.

Der gute Wille ist nicht durch das, was er be-
[5]wirkt, oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zu
Erreichung irgend eines vorgesetzten Zweckes, sondern
allein durch das Wollen, d. i. an sich, gut, und, für sich
selbst betrachtet, ohne Vergleich weit höher zu schätzen,
als alles, was durch ihn zu Gunsten irgend einer Nei-
[10]gung, ja, wenn man will, der Summe aller Neigungen,
nur immer zu Stande gebracht werden könnte. Wenn
gleich durch eine besondere Ungunst des Schicksals, oder
durch kärgliche Ausstattung einer stiefmütterlichen Natur,
es diesem Willen gänzlich an Vermögen fehlete, seine Ab-
[15]sicht durchzusetzen; wenn bey seiner größten Bestrebung
dennoch nichts von ihm ausgerichtet würde, und nur der
gute Wille (freylich nicht etwa ein bloßer Wunsch, son-
dern als die Aufbietung aller Mittel, so weit sie in un-
serer Gewalt sind,) übrig bliebe: so würde er wie ein
[20]Juwel doch für sich selbst glänzen, als etwas, das seinen
vollen Werth in sich selbst hat. Die Nützlichkeit oder
Fruchtlosigkeit kann diesem Werthe weder etwas zusetzen,
noch abnehmen. Sie würde gleichsam nur die Einfassung
seyn, um ihn im gemeinen Verkehr besser handhaben zu
[25]können, oder die Aufmerksamkeit derer, die noch nicht
gnug Kenner sind, auf sich zu ziehen, nicht aber um

3 [4:394]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Erster Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

ihn Kennern zu empfehlen, und seinen Werth zu be-
stimmen.

Es liegt gleichwohl in dieser Idee von dem abso-
luten Werthe des bloßen Willens, ohne einigen Nutzen
[5]bey Schätzung desselben in Anschlag zu bringen, etwas
so befremdliches, daß, unerachtet aller Einstimmung
selbst der gemeinen Vernunft mit derselben, dennoch ein
Verdacht entspringen muß, daß vielleicht bloß hochflie-
gende Phantasterey ingeheim zum Grunde liege, und die
[10]Natur in ihrer Absicht, warum sie unserm Willen Ver-
nunft zur Regiererin beygelegt habe, falsch verstanden
seyn möge. Daher wollen wir diese Idee aus diesem
Gesichtspunkte auf die Prüfung stellen.

In den Naturanlagen eines organisirten, d. i.
[15]zweckmäßig zum Leben eingerichteten Wesens, nehmen
wir es als Grundsatz an, daß kein Werkzeug zu irgend
einem Zwecke in demselben angetroffen werde, als was
auch zu demselben das schicklichste und ihm am meisten
angemessen ist. Wäre nun an einem Wesen, das Vernunft
[20]und einen Willen hat, seine Erhaltung, sein Wohl-
ergehen, mit einem Worte seine Glückseligkeit, der ei-
gentliche Zweck der Natur, so hätte sie ihre Veranstal-
tung dazu sehr schlecht getroffen, sich die Vernunft des
Geschöpfs zur Ausrichterin dieser ihrer Absicht zu ersehen.
[25]Denn alle Handlungen, die es in dieser Absicht auszu-

4 [4:394-395]
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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Erster Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

üben hat, und die ganze Regel seines Verhaltens würden
ihm weit genauer durch Instinkt vorgezeichnet, und jener
Zweck weit sicherer dadurch haben erhalten werden kön-
nen, als es jemals durch Vernunft geschehen kann, und,
[5]sollte diese ja obenein dem begünstigten Geschöpf ertheilt
worden seyn, so würde sie ihm nur dazu haben dienen
müssen, um über die glückliche Anlage seiner Natur Be-
trachtungen anzustellen, sie zu bewundern, sich ihrer zu
erfreuen und der wohlthätigen Ursache dafür dankbar zu
[10]seyn; nicht aber, um sein Begehrungsvermögen jener
schwachen und trüglichen Leitung zu unterwerfen und in
der Naturabsicht zu pfuschen; mit einem Worte, sie wür-
de verhütet haben, daß Vernunft nicht in practischen
Gebrauch ausschlüge, und die Vermessenheit hätte, mit
[15]ihren schwachen Einsichten ihr selbst den Entwurf der
Glückseligkeit und der Mittel dazu zu gelangen auszuden-
ken; die Natur würde nicht allein die Wahl der Zwecke,
sondern auch der Mittel selbst übernommen, und beide
mit weiser Vorsorge lediglich dem Instinkte anvertraut
[20]haben.

In der That finden wir auch, daß, je mehr eine
cultivirte Vernunft sich mit der Absicht auf den Genuß
des Lebens und der Glückseligkeit abgiebt, desto weiter
der Mensch von der wahren Zufriedenheit abkomme, wor-
[25]aus bey vielen, und zwar den versuchtesten im Gebrau-
che derselben, wenn sie nur aufrichtig genug sind, es

5 [4:395]
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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Erster Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

zu gestehen, ein gewisser Grad von Misologie, d. i.
Haß der Vernunft entspringt, weil sie nach dem Ueber-
schlage alles Vortheils, den sie, ich will nicht sagen von
der Erfindung aller Künste des gemeinen Luxus, sondern
[5]so gar von den Wissenschaften (die ihnen am Ende auch
ein Luxus des Verstandes zu seyn scheinen) ziehen, den-
noch finden, daß sie sich in der That nur mehr Mühselig-
keit auf den Hals gezogen, als an Glückseligkeit gewon-
nen haben, und darüber endlich den gemeinern Schlag der
[10]Menschen, welcher der Leitung des bloßen Naturinstinkts
näher ist, und der seiner Vernunft nicht viel Einfluß auf
sein Thun und Lassen verstattet, eher beneiden, als gering-
schätzen. Und so weit muß man gestehen, daß das Ur-
theil derer, die die ruhmredige Hochpreisungen der
[15]Vortheile, die uns die Vernunft in Ansehung der Glück-
seligkeit und Zufriedenheit des Lebens verschaffen sollte,
sehr mäßigen und sogar unter Null herabsetzen, keines-
weges grämisch, oder gegen die Güte der Weltregierung
undankbar sey, sondern daß diesen Urtheilen ingeheim
[20]die Idee von einer andern und viel würdigern Absicht ih-
rer Existenz zum Grunde liege, zu welcher, und nicht der
Glückseligkeit, die Vernunft ganz eigentlich bestimmt sey,
und welcher darum, als oberster Bedingung, die Pri-
vatabsicht des Menschen größtentheils nachstehen muß.

[25]Denn da die Vernunft dazu nicht tauglich genug
ist, um den Willen in Ansehung der Gegenstände dessel-

6 [4:395-396]
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ben und der Befriedigung aller unserer Bedürfnisse (die
sie zum Theil selbst vervielfältigt) sicher zu leiten, als
zu welchem Zwecke ein eingepflanzter Naturinstinkt viel
gewisser geführt haben würde, gleichwol aber uns Ver-
[5]nunft als practisches Vermögen, d. i. als ein solches,
das Einfluß auf den Willen haben soll, dennoch zuge-
theilt ist; so muß die wahre Bestimmung derselben seyn,
einen, nicht etwa in anderer Absicht als Mittel, son-
dern an sich selbst guten Willen hervorzubringen, wo-
[10]zu schlechterdings Vernunft nöthig war, wo anders die
Natur überall in Austheilung ihrer Anlagen zweckmäßig
zu Werke gegangen ist. Dieser Wille darf also zwar
nicht das einzige und das ganze, aber er muß doch das
höchste Gut, und zu allem Uebrigen, selbst allem Verlan-
[15]gen nach Glückseligkeit, die Bedingung seyn, in welchem
Falle es sich mit der Weisheit der Natur gar wohl ver-
einigen läßt, wenn man wahrnimmt, daß die Cultur
der Vernunft, die zur erstern und unbedingten Absicht
erforderlich ist, die Erreichung der zweyten, die jederzeit
[20]bedingt ist, nemlich der Glückseligkeit, wenigstens in die-
sem Leben, auf mancherley Weise einschränke, ja sie selbst
unter Nichts herabbringen könne, ohne daß die Natur
darin unzweckmäßig verfahre, weil die Vernunft, die
ihre höchste practische Bestimmung in der Gründung eines
[25]guten Willens erkennt, bey Erreichung dieser Absicht nur
einer Zufriedenheit nach ihrer eigenen Art, nemlich aus
der Erfüllung eines Zwecks, den wiederum nur Vernunft

7 [4:396]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Erster Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

bestimmt, fähig ist, sollte dieses auch mit manchem Ab-
bruch, der den Zwecken der Neigung geschieht, verbun-
den seyn.

Um aber den Begriff eines an sich selbst hochzuschä-
[5]tzenden und ohne weitere Absicht guten Willens, so wie er
schon dem natürlichen gesunden Verstande beywohnet und
nicht so wohl gelehret als vielmehr nur aufgeklärt zu wer-
den bedarf, diesen Begriff, der in der Schätzung des ganzen
Werths unserer Handlungen immer obenan steht und die
[10]Bedingung alles übrigen ausmacht, zu entwickeln: wollen
wir den Begriff der Pflicht vor uns nehmen, der den
eines guten Willens, obzwar unter gewissen subjectiven
Einschränkungen und Hindernissen, enthält, die aber
doch, weit gefehlt, daß sie ihn verstecken und unkenntlich
[15]machen sollten, ihn vielmehr durch Abstechung heben und
desto heller hervorscheinen lassen.

Ich übergehe hier alle Handlungen, die schon als
pflichtwidrig erkannt werden, ob sie gleich in dieser oder
jener Absicht nützlich seyn mögen; denn bey denen ist
[20]gar nicht einmal die Frage, ob sie aus Pflicht geschehen
seyn mögen, da sie dieser sogar widerstreiten. Ich
setze auch die Handlungen bey Seite, die würklich pflicht-
mäßig sind, zu denen aber Menschen unmittelbar keine
Neigung haben, sie aber dennoch ausüben, weil sie
[25]durch eine andere Neigung dazu getrieben werden. Denn

8 [4:396-397]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
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da läßt sich leicht unterscheiden, ob die pflichtmäßige
Handlung aus Pflicht oder aus selbstsüchtiger Absicht
geschehen sey. Weit schwerer ist dieser Unterschied zu
bemerken, wo die Handlung pflichtmäßig ist und das
[5]Subject noch überdem unmittelbare Neigung zu ihr hat.
Z.B. es ist allerdings pflichtmäßig, daß der Krämer
seinen unerfahrnen Käufer nicht übertheure, und, wo viel
Verkehr ist, thut dieses auch der kluge Kaufmann nicht,
sondern hält einen festgesetzten allgemeinen Preis für je-
[10]dermann, so daß ein Kind eben so gut bey ihm kauft,
als jeder anderer. Man wird also ehrlich bedient;
allein das ist lange nicht genug, um deswegen zu glau-
ben, der Kaufmann habe aus Pflicht und Grundsätzen
der Ehrlichkeit so verfahren; sein Vortheil erforderte es;
[15]daß er aber überdem noch eine unmittelbare Neigung zu
den Käufern haben sollte, um gleichsam aus Liebe keinem
vor dem andern im Preise den Vorzug zu geben, läßt sich
hier nicht annehmen. Also war die Handlung weder aus
Pflicht, noch aus unmittelbarer Neigung, sondern bloß
[20]in eigennütziger Absicht geschehen.

Dagegen sein Leben zu erhalten, ist Pflicht, und über-
dem hat jedermann dazu noch eine unmittelbare Neigung.
Aber um deswillen hat die oft ängstliche Sorgfalt, die
der größte Theil der Menschen dafür trägt, doch keinen
[25]innern Werth, und die Maxime derselben keinen morali-
schen Gehalt. Sie bewahren ihr Leben zwar pflicht-

9 [4:397-398]
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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Erster Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

mäßig, aber nicht aus Pflicht. Dagegen, wenn Wi-
derwärtigkeiten und hoffnungsloser Gram den Geschmack
am Leben gänzlich weggenommen haben; wenn der Un-
glückliche, stark an Seele, über sein Schicksal mehr ent-
[5]rüstet, als kleinmüthig oder niedergeschlagen, den Tod
wünscht, und sein Leben doch erhält, ohne es zu lieben,
nicht aus Neigung, oder Furcht, sondern aus Pflicht;
alsdenn hat seine Maxime einen moralischen Gehalt.

Wohlthätig seyn, wo man kann, ist Pflicht, und
[10]überdem giebt es manche so theilnehmend gestimmte See-
len, daß sie, auch ohne einen andern Bewegungsgrund
der Eitelkeit, oder des Eigennutzes, ein inneres Vergnü-
gen daran finden, Freude um sich zu verbreiten, und die
sich an der Zufriedenheit anderer, so fern sie ihr Werk
[15]ist, ergötzen können. Aber ich behaupte, daß in solchem
Falle dergleichen Handlung, so pflichtmäßig, so liebens-
würdig sie auch ist, dennoch keinen wahren sittlichen
Werth habe, sondern mit andern Neigungen zu gleichen
Paaren gehe, z. E. der Neigung nach Ehre, die, wenn
[20]sie glücklicherweise auf das trifft, was in der That ge-
meinnützig und pflichtmäßig, mithin ehrenwerth ist, Lob
und Aufmunterung, aber nicht Hochschätzung verdient;
denn der Maxime fehlt der sittliche Gehalt, nemlich sol-
che Handlungen nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht
[25]zu thun. Gesetzt also, das Gemüth jenes Menschen-
freundes wäre vom eigenen Gram umwölkt, der alle

10 [4:398]
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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Erster Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

Theilnehmung an anderer Schicksal auslöscht, er hätte
immer noch Vermögen, andern Nothleidenden wohlzu-
thun, aber fremde Noth rührte ihn nicht, weil er mit
seiner eigenen gnug beschäftigt ist, und nun, da keine
[5]Neigung ihn mehr dazu anreizt, risse er sich doch aus
dieser tödtlichen Unempfindlichkeit heraus, und thäte die
Handlung ohne alle Neigung, lediglich aus Pflicht, als-
denn hat sie allererst ihren ächten moralischen Werth.
Noch mehr: wenn die Natur diesem oder jenem überhaupt
[10]wenig Sympathie ins Herz gelegt hätte, wenn er (übri-
gens ein ehrlicher Mann) von Temperament kalt und
gleichgültig gegen die Leiden anderer wäre, vielleicht,
weil er selbst gegen seine eigene mit der besondern Gabe
der Geduld und aushaltenden Stärke versehen, derglei-
[15]chen bey jedem andern auch voraussetzt, oder gar fordert;
wenn die Natur einen solchen Mann (welcher wahrlich
nicht ihr schlechtestes Product seyn würde) nicht eigentlich
zum Menschenfreunde gebildet hätte, würde er denn
nicht noch in sich einen Quell finden, sich selbst einen weit
[20]höhern Werth zu geben, als der eines gutartigen Tem-
peraments seyn mag? Allerdings! gerade da hebt der
Werth des Charakters an, der moralisch und ohne alle
Vergleichung der höchste ist, nemlich daß er wohlthue,
nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht.

[25]Seine eigene Glückseligkeit sichern, ist Pflicht, (we-
nigstens indirect,) denn der Mangel der Zufriedenheit

11 [4:398-399]
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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Erster Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

mit seinem Zustande, in einem Gedränge von vielen Sor-
gen und mitten unter unbefriedigten Bedürfnissen, könn-
te leicht eine große Versuchung zu Uebertretung der
Pflichten werden. Aber, auch ohne hier auf Pflicht
[5]zu sehen, haben alle Menschen schon von selbst die mäch-
tigste und innigste Neigung zur Glückseligkeit, weil sich
gerade in dieser Idee alle Neigungen zu einer Summe
vereinigen. Nur ist die Vorschrift der Glückseligkeit
mehrentheils so beschaffen, daß sie einigen Neigungen
[10]großen Abbruch thut und doch der Mensch sich von der
Summe der Befriedigung aller unter dem Namen der
Glückseligkeit keinen bestimmten und sichern Begriff ma-
chen kann; daher nicht zu verwundern ist, wie eine ein-
zige, in Ansehung dessen, was sie verheißt, und der
[15]Zeit, worin ihre Befriedigung erhalten werden kann,
bestimmte Neigung eine schwankende Idee überwiegen
könne, und der Mensch z.B. ein Podagrist wählen könne,
zu genießen was ihm schmeckt und zu leiden was er kann,
weil er, nach seinem Ueberschlage, hier wenigstens, sich
[20]nicht durch vielleicht grundlose Erwartungen eines Glücks,
das in der Gesundheit stecken soll, um den Genuß des
gegenwärtigen Augenblicks gebracht hat. Aber auch in
diesem Falle, wenn die allgemeine Neigung zur Glück-
seligkeit seinen Willen nicht bestimmte, wenn Gesundheit
[25]für ihn wenigstens nicht so nothwendig in diesen Ueber-
schlag gehörete, so bleibt noch hier, wie in allen andern
Fällen, ein Gesetz übrig, nemlich seine Glückseligkeit zu

12 [4:399]
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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Erster Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

befördern, nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht, und
da hat sein Verhalten allererst den eigentlichen morali-
schen Werth.

So sind ohne Zweifel auch die Schriftstellen zu ver-
[5]stehen, darin geboten wird, seinen Nächsten, selbst
unsern Feind, zu lieben. Denn Liebe als Neigung kann
nicht geboten werden, aber Wohlthun aus Pflicht selbst,
wenn dazu gleich gar keine Neigung treibt, ja gar na-
türliche und unbezwingliche Abneigung widersteht, ist
[10]practische und nicht pathologische Liebe, die im Willen
liegt und nicht im Hange der Empfindung, in Grund-
sätzen der Handlung und nicht schmelzender Theilneh-
mung; jene aber allein kann geboten werden.

Der zweyte Satz ist: eine Handlung aus Pflicht
[15]hat ihren moralischen Werth nicht in der Absicht, wel-
che dadurch erreicht werden soll, sondern in der Maxime,
nach der sie beschlossen wird, hängt also nicht von
der Wirklichkeit des Gegenstandes der Handlung ab,
sondern blos von dem Princip des Wollens, nach
[20]welchem die Handlung, unangesehen aller Gegenstände
des Begehrungsvermögens, geschehen ist. Daß die Ab-
sichten, die wir bey Handlungen haben mögen, und ihre
Wirkungen, als Zwecke und Triebfedern des Willens,
den Handlungen keinen unbedingten und moralischen
[25]Werth ertheilen können, ist aus dem vorigen klar. Wor-
in kann also dieser Werth liegen, wenn er nicht im

13 [4:399-400]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Erster Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

Willen, in Beziehung auf deren verhoffte Wirkung, be-
stehen soll? Er kann nirgend anders liegen, als im
Princip des Willens, unangesehen der Zwecke, die
durch solche Handlung bewirkt werden können; denn der
[5]Wille ist mitten inne zwischen seinem Princip a priori,
welches formell ist, und zwischen seiner Triebfeder a po-
steriori, welche materiell ist, gleichsam auf einem Schei-
dewege, und, da er doch irgend wodurch muß bestimmt
werden, so wird er durch das formelle Princip des Wol-
[10]lens überhaupt bestimmt werden müssen, wenn eine
Handlung aus Pflicht geschieht, da ihm alles materielle
Princip entzogen worden.

Den dritten Satz, als Folgerung aus beiden vori-
gen, würde ich so ausdrücken: Pflicht ist die Nothwen-
[15]digkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz.
Zum Objekte als Wirkung meiner vorhabenden Handlung
kann ich zwar Neigung haben, aber niemals Achtung,
eben darum, weil sie bloß eine Wirkung und nicht Thätig-
keit eines Willens ist. Eben so kann ich für Neigung über-
[20]haupt, sie mag nun meine oder eines andern seine seyn, nicht
Achtung haben, ich kann sie höchstens im ersten Falle billigen,
im zweyten bisweilen selbst lieben, d. i. sie als meinem eige-
nen Vortheile günstig ansehen. Nur das, was bloß als
Grund, niemals aber als Wirkung mit meinem Willen
[25]verknüpft ist, was nicht meiner Neigung dient, sondern
sie überwiegt, wenigstens diese von deren Ueberschlage

14 [4:400]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Erster Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

bey der Wahl ganz ausschließt, mithin das bloße Gesetz
für sich, kann ein Gegenstand der Achtung und hiemit
ein Gebot seyn. Nun soll eine Handlung aus Pflicht
den Einfluß der Neigung, und mit ihr jeden Gegenstand
[5]des Willens ganz absondern, also bleibt nichts für den
Willen übrig, was ihn bestimmen könne, als, objectiv,
das Gesetz, und subjectiv, reine Achtung für dieses
practische Gesetz, mithin die Maxime *), einem solchen
Gesetze, selbst mit Abbruch aller meiner Neigungen, Fol-
[10]ge zu leisten.

Es liegt also der moralische Werth der Handlung
nicht in der Wirkung, die daraus erwartet wird, also
auch nicht in irgend einem Princip der Handlung, wel-
ches seinen Bewegungsgrund von dieser erwarteten Wir-
[15]kung zu entlehnen bedarf. Denn alle diese Wirkungen
(Annehmlichkeit seines Zustandes, ja gar Beförderung
fremder Glückseligkeit) konnten auch durch andere Ursa-
chen zu Stande gebracht werden, und es brauchte also
dazu nicht des Willens eines vernünftigen Wesens; wor-
[20]in gleichwol das höchste und unbedingte Gute allein
angetroffen werden kann. Es kann daher nichts anders
als die Vorstellung des Gesetzes an sich selbst, die

*) Maxime ist das subjective Princip des Wollens; das objective
Princip, (d. i. dasjenige, was allen vernünftigen Wesen auch
[25]subjectiv zum practischen Princip dienen würde, wenn Ver-
nunft volle Gewalt über das Begehrungsvermögen hätte,) ist
das practische Gesetz.


15 [4:400-401]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Erster Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

freilich nur im vernünftigen Wesen stattfindet, so
fern sie, nicht aber die verhoffte Wirkung, der Bestim-
mungsgrund des Willens ist, das so vorzügliche Gute,
welches wir sittlich nennen, ausmachen, welches in der
[5]Person selbst schon gegenwärtig ist, die darnach handelt,
nicht aber allererst aus der Wirkung erwartet werden
darf *).

*) Man könnte mir vorwerfen, als suchte ich hinter dem Worte
Achtung nur Zuflucht in einem dunkelen Gefühle, anstatt
[10]durch einen Begriff der Vernunft in der Frage deutliche Aus-
kunft zu geben. Allein wenn Achtung gleich ein Gefühl ist,
so ist es doch kein durch Einfluß empfangenes, sondern durch
einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl und daher von
allen Gefühlen der ersteren Art, die sich auf Neigung oder
[15]Furcht bringen lassen, specifisch unterschieden. Was ich un-
mittelbar als Gesetz für mich erkenne, erkenne ich mit Ach-
tung, welche bloß das Bewustseyn der Unterordnung meines
Willens unter einem Gesetze, ohne Vermittelung anderer Ein-
flüsse auf meinen Sinn, bedeutet. Die unmittelbare Bestim-
[20]mung des Willens durchs Gesetz und das Bewustseyn derselben
heißt Achtung, so daß diese als Wirkung des Gesetzes aufs
Subject und nicht als Ursache desselben angesehen wird. Ei-
gentlich ist Achtung die Vorstellung von einem Werthe, der
meiner Selbstliebe Abbruch thut. Also ist es etwas, was we-
[25]der als Gegenstand der Neigung, noch der Furcht, betrachtet
wird, obgleich es mit beiden zugleich etwas analogisches hat.
Der Gegenstand der Achtung ist also lediglich das Gesetz, und
zwar dasjenige, das wir uns selbst und doch als an sich noth-
wendig auferlegen. Als Gesetz sind wir ihm unterworfen, ohne
[30]die Selbstliebe zu befragen; als uns von uns selbst auferlegt,
ist es doch eine Folge unsers Willens, und hat in der ersten
Rücksicht Analogie mit Furcht, in der zweyten mit Neigung.


16 [4:401]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Erster Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

Was kann das aber wol für ein Gesetz seyn, des-
sen Vorstellung, auch ohne auf die daraus erwartete
Wirkung Rücksicht zu nehmen, den Willen bestimmen
muß, damit dieser schlechterdings und ohne Einschrän-
[5]kung gut heißen könne? Da ich den Willen aller Antrie-
be beraubet habe, die ihm aus der Befolgung irgend
eines Gesetzes entspringen könnten, so bleibt nichts als
die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Handlungen überhaupt
übrig, welche allein dem Willen zum Princip dienen soll,
[10]d. i. ich soll niemals anders verfahren, als so, daß ich
auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemei-
nes Gesetz werden. Hier ist nun die bloße Gesetzmäßig-
keit überhaupt, (ohne irgend ein auf gewisse Handlun-
gen bestimmtes Gesetz zum Grunde zu legen,) das, was
[15]dem Willen zum Princip dient, und ihm auch dazu dienen
muß, wenn Pflicht nicht überall ein leerer Wahn und
chimärischer Begriff seyn soll; hiemit stimmt die ge-
meine Menschenvernunft in ihrer practischen Beurthei-
lung auch vollkommen überein, und hat das gedachte
[20]Princip jederzeit vor Augen.

Alle Achtung für eine Person ist eigentlich nur Achtung fürs
Gesetz (der Rechtschaffenheit etc.), wovon jene uns das Beyspiel
giebt. Weil wir Erweiterung unserer Talente auch als Pflicht
ansehen, so stellen wir uns an einer Person von Talenten auch
[25]gleichsam das Beyspiel eines Gesetzes vor (ihr durch Uebung
hierin ähnlich zu werden) und das macht unsere Achtung aus.
Alles moralische so genannte Interesse besteht lediglich in
der Achtung fürs Gesetz.


17 [4:402]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Erster Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

Die Frage sey z.B. darf ich, wenn ich im Ge-
dränge bin, nicht ein Versprechen thun, in der Absicht,
es nicht zu halten? Ich mache hier leicht den Unterschied,
den die Bedeutung der Frage haben kann, ob es klüg-
[5]lich, oder ob es pflichtmäßig sey, ein falsches Verspre-
chen zu thun. Das erstere kann ohne Zweifel öfters
stattfinden. Zwar sehe ich wol, daß es nicht gnug
sey, mich vermittelst dieser Ausflucht aus einer gegenwär-
tigen Verlegenheit zu ziehen, sondern wohl überlegt wer-
[10]den müsse, ob mir aus dieser Lüge nicht hinterher viel
größere Ungelegenheit entspringen könne, als die sind,
von denen ich mich jetzt befreye, und, da die Folgen
bey aller meiner vermeinten Schlauigkeit nicht so leicht
vorauszusehen sind, daß nicht ein einmal verlohrnes Zu-
[15]trauen mir weit nachtheiliger werden könnte, als alles
Uebel, das ich jetzt zu vermeiden gedenke, ob es nicht
klüglicher gehandelt sey, hiebey nach einer allgemeinen
Maxime zu verfahren, und es sich zur Gewohnheit zu
machen, nichts zu versprechen, als in der Absicht, es zu
[20]halten. Allein es leuchtet mir hier bald ein, daß eine
solche Maxime doch immer nur die besorglichen Folgen
zum Grunde habe. Nun ist es doch etwas ganz anderes,
aus Pflicht wahrhaft zu seyn, als aus Besorgniß der
nachtheiligen Folgen; indem im ersten Falle, der Be-
[25]griff der Handlung an sich selbst schon ein Gesetz für mich
enthält, im zweyten ich mich allererst anderwärtsher
umsehen muß, welche Wirkungen für mich wol damit

18 [4:402]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Erster Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

verbunden seyn möchten. Denn, wenn ich von dem
Princip der Pflicht abweiche, so ist es ganz gewiß böse;
werde ich aber meiner Maxime der Klugheit abtrünnig,
so kann das mir doch manchmal sehr vortheilhaft seyn,
[5]wiewol es freylich sicherer ist, bey ihr zu bleiben. Um
indessen mich in Ansehung der Beantwortung dieser Auf-
gabe, ob ein lügenhaftes Versprechen pflichtmäßig sey,
auf die allerkürzeste und doch untrügliche Art zu belehren,
so frage ich mich selbst: würde ich wol damit zufrieden
[10]seyn, daß meine Maxime (mich durch ein unwahres
Versprechen aus Verlegenheit zu ziehen) als ein allge-
meines Gesetz (sowol für mich als andere), gelten solle,
und würde ich wol zu mir sagen können: es mag jeder-
mann ein unwahres Versprechen thun, wenn er sich in
[15]Verlegenheit befindet, daraus er sich auf andere Art
nicht ziehen kann? So werde ich bald inne, daß ich zwar
die Lüge, aber ein allgemeines Gesetz zu lügen gar nicht
wollen könne; denn nach einem solchen würde es eigent-
lich gar kein Versprechen geben, weil es vergeblich wäre,
[20]meinen Willen in Ansehung meiner künftigen Handlungen
andern vorzugeben, die diesem Vorgeben doch nicht glau-
ben, oder, wenn sie es übereilter Weise thäten, mich
doch mit gleicher Münze bezahlen würden, mithin meine
Maxime, so bald sie zum allgemeinen Gesetze gemacht
[25]würde, sich selbst zerstöhren müsse.

Was ich also zu thun habe, damit mein Wollen
sittlich gut sey, darzu brauche ich gar keine weit ausho-

19 [4:402-403]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Erster Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

lende Scharfsinnigkeit. Unerfahren in Ansehung des
Weltlaufs, unfähig auf alle sich eräugnende Vorfälle
desselben gefaßt zu seyn, frage ich mich nur: Kannst du
auch wollen, daß deine Maxime ein allgemeines Gesetz
[5]werde? wo nicht, so ist sie verwerflich, und das zwar
nicht um eines dir, oder auch anderen, daraus bevor-
stehenden Nachtheils willen, sondern weil sie nicht als
Princip in eine mögliche allgemeine Gesetzgebung passen
kann, für diese aber zwingt mir die Vernunft unmittel-
[10]bare Achtung ab, von der ich zwar jetzt noch nicht ein-
sehe, worauf sie sich gründe (welches der Philosoph un-
tersuchen mag), wenigstens aber doch so viel verstehe:
daß es eine Schätzung des Werthes sey, welcher allen
Werth dessen, was durch Neigung angepriesen wird,
[15]weit überwiegt, und daß die Nothwendigkeit meiner
Handlungen aus reiner Achtung fürs practische Gesetz
dasjenige sey, was die Pflicht ausmacht, der jeder an-
dere Bewegungsgrund weichen muß, weil sie die Bedin-
gung eines an sich guten Willens ist, dessen Werth über
[20]alles geht.

So sind wir denn in der moralischen Erkenntniß
der gemeinen Menschenvernunft bis zu ihrem Princip
gelangt, welches sie sich zwar freylich nicht so in einer
allgemeinen Form abgesondert denkt, aber doch jederzeit
[25]wirklich vor Augen hat und zum Richtmaaße ihrer Be-
urtheilung braucht. Es wäre hier leicht zu zeigen, wie

20 [4:403-404]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Erster Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

sie, mit diesem Compasse in der Hand, in allen vorkom-
menden Fällen sehr gut Bescheid wisse, zu unterscheiden,
was gut, was böse, pflichtmäßig, oder pflichtwidrig
sey, wenn man, ohne sie im mindesten etwas neues zu
[5]lehren, sie nur, wie Socrates that, auf ihr eigenes Prin-
cip aufmerksam macht, und daß es also keiner Wissen-
schaft und Philosophie bedürfe, um zu wissen, was man
zu thun habe, um ehrlich und gut, ja sogar um weise
und tugendhaft zu seyn. Das ließe sich auch wol schon
[10]zum voraus vermuthen, daß die Kenntniß dessen, was
zu thun, mithin auch zu wissen jedem Menschen obliegt,
auch jedes, selbst des gemeinsten Menschen Sache seyn
werde. Hier kann man es doch nicht ohne Bewun-
derung ansehen, wie das practische Beurtheilungs-
[15]vermögen vor dem theoretischen im gemeinen Menschen-
verstande so gar viel voraus habe. In dem letzteren,
wenn die gemeine Vernunft es wagt, von den Erfahrungs-
gesetzen und den Wahrnehmungen der Sinne abzugehen,
geräth sie in lauter Unbegreiflichkeiten und Widersprüche
[20]mit sich selbst, wenigstens in ein Chaos von Ungewißheit,
Dunkelheit und Unbestand. Im practischen aber fängt
die Beurtheilungskraft denn eben allererst an, sich recht
vortheilhaft zu zeigen, wenn der gemeine Verstand alle
sinnliche Triebfedern von practischen Gesetzen ausschließt.
[25]Er wird alsdenn so gar subtil, es mag seyn, daß er
mit seinem Gewissen, oder anderen Ansprüchen in Be-
ziehung auf das, was recht heißen soll, chicaniren, oder

21 [4:404]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Erster Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

auch den Werth der Handlungen zu seiner eigenen Be-
lehrung aufrichtig bestimmen will, und, was das meiste
ist, er kann im letzteren Falle sich eben so gut Hoffnung
machen, es recht zu treffen, als es sich immer ein Phi-
[5]losoph versprechen mag, ja ist beynahe noch sicherer hier-
in, als selbst der letztere, weil dieser doch kein anderes
Princip als jener haben, sein Urtheil aber, durch
eine Menge fremder, nicht zur Sache gehöriger Erwä-
gungen, leicht verwirren und von der geraden Richtung
[10]abweichend machen kann. Wäre es demnach nicht rath-
samer, es in moralischen Dingen bey dem gemeinen Ver-
nunfturtheil bewenden zu lassen, und höchstens nur Phi-
losophie anzubringen, um das System der Sitten desto
vollständiger und faßlicher, imgleichen die Regeln dersel-
[15]ben zum Gebrauche (noch mehr aber zum Disputiren)
bequemer darzustellen, nicht aber um selbst in practischer
Absicht den gemeinen Menschenverstand von seiner glück-
lichen Einfalt abzubringen, und ihn durch Philosophie
auf einen neuen Weg der Untersuchung und Belehrung
[20]zu bringen.

Es ist eine herrliche Sache um die Unschuld, nur
es ist auch wiederum sehr schlimm, daß sie sich nicht wohl
bewahren läßt und leicht verführt wird. Deswegen be-
darf selbst die Weisheit — die sonst wol mehr im Thun
[25]und Lassen, als im Wissen besteht, — doch auch der
Wissenschaft, nicht um von ihr zu lernen, sondern ih-

22 [4:404-405]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Erster Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

rer Vorschrift Eingang und Dauerhaftigkeit zu verschaf-
fen. Der Mensch fühlt in sich selbst ein mächtiges Ge-
gengewicht gegen alle Gebote der Pflicht, die ihm die
Vernunft so hochachtungswürdig vorstellt, an seinen
[5]Bedürfnissen und Neigungen, deren ganze Befriedigung
er unter dem Namen der Glückseligkeit zusammenfaßt.
Nun gebietet die Vernunft, ohne doch dabey den Neigun-
gen etwas zu verheißen, unnachlaßlich, mithin gleichsam
mit Zurücksetzung und Nichtachtung jener so ungestümen
[10]und dabey so billig scheinenden Ansprüche, (die sich durch
kein Gebot wollen aufheben lassen,) ihre Vorschriften.
Hieraus entspringt aber eine natürliche Dialectik, d. i.
ein Hang, wider jene strenge Gesetze der Pflicht zu ver-
nünfteln, und ihre Gültigkeit, wenigstens ihre Reinig-
[15]keit und Strenge in Zweifel zu ziehen, und sie, wo
möglich, unsern Wünschen und Neigungen angemessener
zu machen, d. i. sie im Grunde zu verderben und um ihre
ganze Würde zu bringen, welches denn doch selbst die ge-
meine practische Vernunft am Ende nicht gut heißen kann.

[20]So wird also die gemeine Menschenvernunft
nicht durch irgend ein Bedürfniß der Speculation (wel-
ches ihr, so lange sie sich genügt, bloße gesunde Vernunft
zu seyn, niemals anwandelt), sondern selbst aus practi-
schen Gründen angetrieben, aus ihrem Kreise zu gehen,
[25]und einen Schritt ins Feld einer practischen Philosophie
zu thun, um daselbst, wegen der Quelle ihres Princips

23 [4:405]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Erster Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

und richtigen Bestimmung desselben in Gegenhaltung mit
den Maximen, die sich auf Bedürfniß und Neigung fu-
ßen, Erkundigung und deutliche Anweisung zu bekommen,
damit sie aus der Verlegenheit wegen beiderseitiger Ansprü-
[5]che herauskomme, und nicht Gefahr laufe, durch die Zwey-
deutigkeit, in die sie leicht geräth, um alle ächte sittliche
Grundsätze gebracht zu werden. Also entspinnt sich eben
sowol in der practischen gemeinen Vernunft, wenn sie
sich cultivirt, unvermerkt eine Dialectik, welche sie nö-
[10]thigt, in der Philosophie Hülfe zu suchen, als es ihr im
theoretischen Gebrauche widerfährt, und die erstere wird
daher wol eben so wenig, als die andere, irgendwo
sonst, als in einer vollständigen Critik unserer Vernunft,
Ruhe finden.


24 [4:405]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Zweyter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

Zweyter Abschnitt.

Uebergang
von der populären sittlichen Weltweisheit
zur
[5]
Metaphysik der Sitten.

Wenn wir unsern bisherigen Begriff der Pflicht aus
dem gemeinen Gebrauche unserer practischen Ver-
nunft gezogen haben, so ist daraus keinesweges zu schlie-
ßen, als hätten wir ihn als einen Erfahrungsbegriff be-
[10]handelt. Vielmehr, wenn wir auf die Erfahrung vom
Thun und Lassen der Menschen Acht haben, treffen wir
häufige, und, wie wir selbst einräumen, gerechte Klagen
an, daß man von der Gesinnung, aus reiner Pflicht zu
handeln, so gar keine sichere Beyspiele anführen könne, daß,
[15]wenn gleich manches dem, was Pflicht gebietet, gemäß
geschehen mag, dennoch es immer noch zweifelhaft sey, ob
es eigentlich aus Pflicht geschehe und also einen morali-
schen Werth habe. Daher es zu aller Zeit Philosophen ge-
geben hat, welche die Wirklichkeit dieser Gesinnung in den
[20]menschlichen Handlungen schlechterdings abgeleugnet, und al-
les der mehr oder weniger verfeinerten Selbstliebe zugeschrie-
ben haben, ohne doch deswegen die Richtigkeit des Begriffs
von Sittlichkeit in Zweifel zu ziehen, vielmehr mit innigli-
chem Bedauren der Gebrechlichkeit und Unlauterkeit der
[25]menschlichen Natur Erwähnung thaten, die zwar edel gnug

25 [4:406]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Zweyter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

sey, sich eine so achtungswürdige Idee zu ihrer Vor-
schrift zu machen, aber zugleich zu schwach, um sie zu be-
folgen, und die Vernunft, die ihr zur Gesetzgebung die-
nen sollte, nur dazu braucht, um das Interesse der Nei-
[5]gungen, es sey einzeln, oder, wenn es hoch kommt, in
ihrer größten Verträglichkeit unter einander, zu besorgen.

In der That ist es schlechterdings unmöglich, durch
Erfahrung einen einzigen Fall mit völliger Gewißheit aus-
zumachen, da die Maxime einer sonst pflichtmäßigen Hand-
[10]lung lediglich auf moralischen Gründen und auf der Vor-
stellung seiner Pflicht beruhet habe. Denn es ist zwar
bisweilen der Fall, daß wir bey der schärfsten Selbstprü-
fung gar nichts antreffen, was außer dem moralischen
Grunde der Pflicht mächtig genug hätte seyn können, uns
[15]zu dieser oder jener guten Handlung und so großer Auf-
opferung zu bewegen; es kann aber daraus gar nicht mit
Sicherheit geschlossen werden, daß wirklich gar kein gehei-
mer Antrieb der Selbstliebe, unter der bloßen Vorspiegelung
jener Idee, die eigentliche bestimmende Ursache des Wil-
[20]lens gewesen sey, dafür wir denn gerne uns mit einem
uns fälschlich angemaßten edlern Bewegungsgrunde schmei-
cheln, in der That aber selbst durch die angestrengteste
Prüfung hinter die geheimen Triebfedern niemals völ-
lig kommen können, weil, wenn vom moralischen Wer-
[25]the die Rede ist, es nicht auf die Handlungen ankommt,
die man sieht, sondern auf jene innere Principien dersel-
ben, die man nicht sieht.

26 [4:406-407]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Zweyter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

Man kann auch denen, die alle Sittlichkeit, als
bloßes Hirngespinst einer durch Eigendünkel sich selbst über-
steigenden menschlichen Einbildung, verlachen, keinen ge-
wünschteren Dienst thun, als ihnen einzuräumen, daß
[5]die Begriffe der Pflicht (so wie man sich auch aus Ge-
mächlichkeit gerne überredet, daß es auch mit allen übri-
gen Begriffen bewandt sey,) lediglich aus der Erfahrung
gezogen werden mußten; denn da bereitet man jenen ei-
nen sichern Triumph. Ich will aus Menschenliebe einräu-
[10]men, daß noch die meisten unserer Handlungen pflichtmä-
ßig seyn; sieht man aber ihr Tichten und Trachten näher
an, so stößt man allenthalben auf das liebe Selbst, was
immer hervorsticht, worauf, und nicht auf das strenge
Gebot der Pflicht, welches mehrmalen Selbstverleugnung
[15]erfodern würde, sich ihre Absicht stützet. Man braucht
auch eben kein Feind der Tugend, sondern nur ein kalt-
blütiger Beobachter zu seyn, der den lebhaftesten Wunsch
für das Gute nicht so fort für dessen Wirklichkeit hält,
um (vornehmlich mit zunehmenden Jahren und einer durch
[20]Erfahrung theils gewitzigten, theils zum Beobachten ge-
schärften Urtheilskraft) in gewissen Augenblicken zweifel-
haft zu werden, ob auch wirklich in der Welt irgend
wahre Tugend angetroffen werde. Und hier kann uns
nun nichts für den gänzlichen Abfall von unseren Ideen
[25]der Pflicht bewahren und gegründete Achtung gegen ihr
Gesetz in der Seele erhalten, als die klare Ueberzeugung,
daß, wenn es auch niemals Handlungen gegeben habe,

27 [4:407]
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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Zweyter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

die aus solchen reinen Quellen entsprungen wären, den-
noch hier auch davon gar nicht die Rede sey, ob dies
oder jenes geschehe, sondern die Vernunft für sich selbst
und unabhängig von allen Erscheinungen gebiete, was
[5]geschehen soll, mithin Handlungen, von denen die Welt
vielleicht bisher noch gar kein Beyspiel gegeben hat, an
deren Thunlichkeit sogar der, so alles auf Erfahrung
gründet, sehr zweifeln möchte, dennoch durch Vernunft
unnachlaßlich geboten sey, und daß z.B. reine Redlich-
[10]keit in der Freundschaft um nichts weniger von jedem
Menschen gefodert werden könne, wenn es gleich bis jetzt
gar keinen redlichen Freund gegeben haben möchte, weil
diese Pflicht als Pflicht überhaupt, vor aller Erfahrung,
in der Idee einer den Willen durch Gründe a priori be-
[15]stimmenden Vernunft liegt.

Setzet man hinzu, daß, wenn man dem Begriffe
von Sittlichkeit nicht gar alle Wahrheit und Beziehung
auf irgend ein mögliches Object bestreiten will, man nicht
in Abrede ziehen könne, daß sein Gesetz von so ausge-
[20]breiteter Bedeutung sey, daß es nicht bloß für Menschen,
sondern alle vernünftige Wesen überhaupt, nicht
bloß unter zufälligen Bedingungen und mit Ausnahmen,
sondern schlechterdings nothwendig gelten müsse; so
ist klar, daß keine Erfahrung, auch nur auf die Mög-
[25]lichkeit solcher apodictischen Gesetze zu schließen, Anlaß
geben könne. Denn mit welchem Rechte können wir das,

28 [4:407-408]
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was vielleicht nur unter den zufälligen Bedingungen der
Menschheit gültig ist, als allgemeine Vorschrift für jede
vernünftige Natur, in unbeschränkte Achtung bringen,
und wie sollen Gesetze der Bestimmung unseres Willens,
[5]für Gesetze der Bestimmung des Willens eines vernünfti-
gen Wesens überhaupt, und, nur als solche, auch für
den unsrigen gehalten werden, wenn sie bloß empirisch
wären, und nicht völlig a priori aus reiner, aber practi-
scher Vernunft ihren Ursprung nähmen?

[10]Man könnte auch der Sittlichkeit nicht übler rathen,
als wenn man sie von Beyspielen entlehnen wollte. Denn
jedes Beyspiel, was mir davon vorgestellt wird, muß
selbst zuvor nach Principien der Moralität beurtheilt wer-
den, ob es auch würdig sey, zum ursprünglichen Beyspiele, d. i.
[15]zum Muster zu dienen, keinesweges aber kann es den
Begriff derselben zu oberst an die Hand geben. Selbst
der Heilige des Evangelii muß zuvor mit unserm Ideal
der sittlichen Vollkommenheit verglichen werden, ehe
man ihn dafür erkennt; auch sagt er von sich selbst: was
[20]nennt ihr mich (den ihr sehet) gut, niemand ist gut
(das Urbild des Guten) als der einige Gott (den ihr nicht
sehet). Woher haben wir aber den Begriff von Gott,
als dem höchsten Gut? Lediglich aus der Idee, die die
Vernunft a priori von sittlicher Vollkommenheit entwirft,
[25]und mit dem Begriffe eines freyen Willens unzertrenn-
lich verknüpft. Nachahmung findet im Sittlichen gar

29 [4:408-409]
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nicht statt, und Beyspiele dienen nur zur Aufmunterung,
d. i. sie setzen die Thunlichkeit dessen, was das Gesetz ge-
bietet, außer Zweifel, sie machen das, was die practi-
sche Regel allgemeiner ausdrückt, anschaulich, können
[5]aber niemals berechtigen, ihr wahres Original, das in
der Vernunft liegt, bey Seite zu setzen und sich nach
Beyspielen zu richten.

Wenn es denn keinen ächten obersten Grundsatz
der Sittlichkeit giebt, der nicht unabhängig von aller
[10]Erfahrung bloß auf reiner Vernunft beruhen müßte, so
glaube ich, es sey nicht nöthig, auch nur zu fragen, ob
es gut sey, diese Begriffe, so wie sie, samt den ihnen
zugehörigen Principien, a priori feststehen, im allge-
meinen (in abstracto) vorzutragen, wofern das Erkennt-
[15]niß sich vom Gemeinen unterscheiden und philosophisch
heißen soll. Aber in unsern Zeiten möchte dieses wol
nöthig seyn. Denn, wenn man Stimmen sammelte, ob
reine von allem Empirischen abgesonderte Vernunfter-
kenntniß, mithin Metaphysik der Sitten, oder popu-
[20]läre practische Philosophie vorzuziehen sey, so erräth man
bald, auf welche Seite das Uebergewicht fallen werde.

Diese Herablassung zu Volksbegriffen ist allerdings
sehr rühmlich, wenn die Erhebung zu den Principien
der reinen Vernunft zuvor geschehen und zur völligen Be-
[25]friedigung erreicht ist, und das würde heißen, die Leh-

30 [4:409]
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re der Sitten zuvor auf Metaphysik gründen, ihr aber,
wenn sie fest steht, nachher durch Popularität Eingang
verschaffen. Es ist aber äußerst ungereimt, dieser in
der ersten Untersuchung, worauf alle Richtigkeit der
[5]Grundsätze ankommt, schon willfahren zu wollen. Nicht
allein, daß dieses Verfahren auf das höchst seltene Ver-
dienst einer wahren philosophischen Popularität nie-
mals Anspruch machen kann, indem es gar keine Kunst
ist, gemeinverständlich zu seyn, wenn man dabey auf
[10]alle gründliche Einsicht Verzicht thut; so bringt es einen
ekelhaften Mischmasch von zusammengestoppelten Beob-
achtungen und halbvernünftelnden Principien zum Vor-
schein, daran sich schaale Köpfe laben, weil es doch et-
was gar brauchbares fürs alltägliche Geschwätz ist, wo
[15]Einsehende aber Verwirrung fühlen, und unzufrieden, oh-
ne sich doch helfen zu können, ihre Augen wegwenden,
obgleich Philosophen, die das Blendwerk ganz wohl durch-
schauen, wenig Gehör finden, wenn sie auf einige Zeit von
der vorgeblichen Popularität abrufen, um nur allererst
[20]nach erworbener bestimmter Einsicht mit Recht populär
seyn zu dürfen.

Man darf nur die Versuche über die Sittlichkeit
in jenem beliebten Geschmacke ansehen, so wird man
bald die besondere Bestimmung der menschlichen Natur,
[25](mit unter aber auch die Idee von einer vernünftigen
Natur überhaupt,) bald Vollkommenheit, bald Glückse-

31 [4:409-410]
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ligkeit, hier moralisches Gefühl, dort Gottesfurcht, von
diesem etwas, von jenem auch etwas, in wunderbarem
Gemische antreffen, ohne daß man sich einfallen läßt zu
fragen, ob auch überall in der Kenntniß der menschlichen
[5]Natur (die wir doch nur von der Erfahrung herhaben
können) die Principien der Sittlichkeit zu suchen seyn,
und, wenn dieses nicht ist, wenn die letztere völlig a
priori, frey von allem Empirischen, schlechterdings in
reinen Vernunftbegriffen und nirgend anders, auch nicht
[10]dem mindesten Theile nach, anzutreffen seyn, den An-
schlag zu fassen, diese Untersuchung als reine practische
Weltweisheit, oder (wenn man einen so verschrieenen
Namen nennen darf) als Metaphysik *) der Sitten, lie-
ber ganz abzusondern, sie für sich allein zu ihrer ganzen
[15]Vollständigkeit zu bringen, und das Publicum, das Po-
pularität verlangt, bis zum Ausgange dieses Unterneh-
mens zu vertrösten.

Es ist aber eine solche völlig isolirte Metaphy-
sik der Sitten, die mit keiner Anthropologie, mit

[20]*) Man kann, wenn man will, (so wie die reine Mathematik
von der angewandten, die reine Logik von der angewandten
unterschieden wird, also) die reine Philosophie der Sitten (Me-
taphysik) von der angewandten (nemlich auf die menschliche
Natur) unterscheiden. Durch diese Benennung wird man auch
[25]so fort erinnert, daß die sittlichen Principien nicht auf die Ei-
genheiten der menschlichen Natur gegründet, sondern für sich
a priori bestehend seyn müssen, aus solchen aber, wie für jede
vernünftige Natur, also auch für die menschliche, practische
Regeln müssen abgeleitet werden können.


32 [4:410]
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keiner Theologie, mit keiner Physik, oder Hyperphysik,
noch weniger mit verborgenen Qualitäten (die man hy-
pophysisch nennen könnte,) vermischt ist, nicht allein ein
unentbehrliches Substrat aller theoretischen sicher bestimm-
[5]ten Erkenntniß der Pflichten, sondern zugleich ein Desi-
derat von der höchsten Wichtigkeit zur wirklichen Vollzie-
hung ihrer Vorschriften. Denn die reine und mit kei-
nem fremden Zusatze von empirischen Anreizen vermischte
Vorstellung der Pflicht, und überhaupt des sittlichen Ge-
[10]setzes, hat auf das menschliche Herz durch den Weg der
Vernunft allein (die hiebey zuerst inne wird, daß sie
für sich selbst auch practisch seyn kann,) einen so viel mäch-
tigern Einfluß, als alle andere Triebfedern *), die man
aus dem empirischen Felde aufbieten mag, daß sie im
[15]Bewußtseyn ihrer Würde die letzteren verachtet, und nach
und nach ihr Meister werden kann; an dessen Statt eine
vermischte Sittenlehre, die aus Triebfedern von Gefüh-
len und Neigungen und zugleich aus Vernunftbegriffen

*) Ich habe einen Brief vom sel. vortreflichen Sulzer, worin er
[20]mich frägt: was doch die Ursache seyn möge, warum die Leh-
ren der Tugend, so viel Ueberzeugendes sie auch für die Ver-
nunft haben, doch so wenig ausrichten. Meine Antwort wurde
durch die Zurüstung dazu, um sie vollständig zu geben, ver-
spätet. Allein es ist keine andere, als daß die Lehrer selbst
[25]ihre Begriffe nicht ins Reine gebracht haben, und, indem sie es
zu gut machen wollen, dadurch, daß sie allerwärts Bewegur-
sachen zum Sittlichguten auftreiben, um die Arzney recht
kräftig zu machen, sie sie verderben. Denn die gemeinste


33 [4:410-411]
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zusammengesetzt ist, das Gemüth zwischen Bewegursachen,
die sich unter kein Princip bringen lassen, die nur sehr
zufällig zum Guten, öfters aber auch zum Bösen leiten
können, schwankend machen muß.

[5]Aus dem angeführten erhellet: daß alle sittliche
Begriffe völlig a priori in der Vernunft ihren Sitz und
Ursprung haben, und dieses zwar in der gemeinsten Men-
schenvernunft eben sowol, als der im höchsten Maaße
speculativen; daß sie von keinem empirischen und darum
[10]bloß zufälligen Erkenntnisse abstrahirt werden können; daß
in dieser Reinigkeit ihres Ursprungs eben ihre Würde
liege, um uns zu obersten practischen Principien zu dienen;
daß man jedesmal so viel, als man Empirisches hinzu
thut, so viel auch ihrem ächten Einflusse und dem unein-
[15]geschränkten Werthe der Handlungen entziehe; daß es
nicht allein die größte Nothwendigkeit in theoretischer
Absicht, wenn es bloß auf Speculation ankommt, er-

Beobachtung zeigt, daß, wenn man eine Handlung der Recht-
schaffenheit vorstellt, wie sie von aller Absicht auf irgend einen
[20]Vortheil, in dieser oder einer andern Welt, abgesondert, selbst
unter den größten Versuchungen der Noth, oder der Anlockung,
mit standhafter Seele ausgeübt worden, sie jede ähnliche
Handlung, die nur im mindesten durch eine fremde Triebfeder
afficirt war, weit hinter sich lasse und verdunkle, die Seele
[25]erhebe und den Wunsch errege, auch so handeln zu können.
Selbst Kinder von mittlerem Alter fühlen diesen Eindruck, und
ihnen sollte man Pflichten auch niemals anders vorstellen.


34 [4:411]
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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Zweyter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

fodere, sondern auch von der größten practischen Wich-
tigkeit sey, ihre Begriffe und Gesetze aus reiner Ver-
nunft zu schöpfen, rein und unvermengt vorzutragen, ja
den Umfang dieses ganzen practischen oder reinen Ver-
[5]nunfterkenntnisses, d. i. das ganze Vermögen der rei-
nen practischen Vernunft, zu bestimmen, hierin aber
nicht, wie es wol die speculative Philosophie erlaubt,
ja gar bisweilen nothwendig findet, die Principien von
der besondern Natur der menschlichen Vernunft abhängig
[10]zu machen, sondern darum, weil moralische Gesetze für
jedes vernünftige Wesen überhaupt gelten sollen, sie
schon aus dem allgemeinen Begriffe eines vernünftigen
Wesens überhaupt abzuleiten, und auf solche Weise alle
Moral, die zu ihrer Anwendung auf Menschen der An-
[15]thropologie bedarf, zuerst unabhängig von dieser als rei-
ne Philosophie, d. i. als Metaphysik, vollständig (welches
sich in dieser Art ganz abgesonderter Erkenntnisse wol
thun läßt) vorzutragen, wohl bewußt, daß es, ohne
im Besitze derselben zu seyn, vergeblich sey, ich will nicht
[20]sagen, das Moralische der Pflicht in allem, was pflicht-
mäßig ist, genau für die speculative Beurtheilung zu be-
stimmen, sondern so gar im bloß gemeinen und practi-
schen Gebrauche, vornehmlich der moralischen Unterwei-
sung, unmöglich sey, die Sitten auf ihre ächte Princi-
[25]pien zu gründen und dadurch reine moralische Gesinnun-
gen zu bewirken und zum höchsten Weltbesten den Ge-
müthern einzupfropfen.

35 [4:411-412]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
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Um aber in dieser Bearbeitung nicht bloß von
der gemeinen sittlichen Beurtheilung (die hier sehr ach-
tungswürdig ist,) zur philosophischen, wie sonst ge-
schehen ist, sondern von einer populären Philosophie,
[5]die nicht weiter geht, als sie durch Tappen vermit-
telst der Beyspiele kommen kann, bis zur Metaphysik
(die sich durch nichts Empirisches weiter zurückhalten
läßt, und, indem sie den ganzen Inbegriff der Ver-
nunfterkenntniß dieser Art ausmessen muß, allen-
[10]falls bis zu Ideen geht, wo selbst die Beyspiele uns
verlassen,) durch die natürlichen Stuffen fortzuschreiten;
müssen wir das practische Vernunftvermögen von sei-
nen allgemeinen Bestimmungsregeln an, bis dahin, wo
aus ihm der Begriff der Pflicht entspringt, verfol-
[15]gen und deutlich darstellen.

Ein jedes Ding der Natur wirkt nach Gesetzen.
Nur ein vernünftiges Wesen hat das Vermögen, nach
der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Principien, zu
handeln, oder einen Willen. Da zur Ableitung der Hand-
[20]lungen von Gesetzen Vernunft erfodert wird, so ist der
Wille nichts anders, als practische Vernunft. Wenn
die Vernunft den Willen unausbleiblich bestimmt, so sind
die Handlungen eines solchen Wesens, die als objectiv
nothwendig erkannt werden, auch subjectiv nothwendig,
[25]d. i. der Wille ist ein Vermögen, nur dasjenige zu wäh-
len, was die Vernunft, unabhängig von der Neigung,

36 [4:412]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
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als practisch nothwendig, d. i. als gut erkennt. Be-
stimmt aber die Vernunft für sich allein den Willen nicht
hinlänglich, ist dieser noch subjectiven Bedingungen (ge-
wissen Triebfedern) unterworfen, die nicht immer mit
[5]den objectiven übereinstimmen; mit einem Worte, ist der
Wille nicht an sich völlig der Vernunft gemäß (wie es
bey Menschen wirklich ist); so sind die Handlungen, die
objectiv als nothwendig erkannt werden, subjectiv zufäl-
lig, und die Bestimmung eines solchen Willens, objectiven
[10]Gesetzen gemäß, ist Nöthigung; d. i. das Verhältniß
der objectiven Gesetze zu einem nicht durchaus guten Wil-
len wird vorgestellt als die Bestimmung des Willens ei-
nes vernünftigen Wesens zwar durch Gründe der Ver-
nunft, denen aber dieser Wille seiner Natur nach nicht
[15]nothwendig folgsam ist.

Die Vorstellung eines objectiven Princips, so-
fern es für einen Willen nöthigend ist, heißt ein Ge-
bot (der Vernunft) und die Formel des Gebots heißt
Imperativ.

[20]Alle Imperativen werden durch ein Sollen ausge-
druckt, und zeigen dadurch das Verhältniß eines objecti-
ven Gesetzes der Vernunft zu einem Willen an, der sei-
ner subjectiven Beschaffenheit nach dadurch nicht nothwen-
dig bestimmt wird, (eine Nöthigung). Sie sagen, daß
[25]etwas zu thun oder zu unterlassen gut seyn würde, allein

37 [4:412-413]
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sie sagen es einem Willen, der nicht immer darum etwas
thut, weil ihm vorgestellt wird, daß es zu thun gut sey.
Practisch gut ist aber, was vermittelst der Vorstellungen
der Vernunft, mithin nicht aus subjectiven Ursachen, son-
[5]dern objectiv, d. i. aus Gründen, die für jedes vernünf-
tige Wesen, als ein solches, gültig sind, den Willen be-
stimmt. Es wird vom Angenehmen unterschieden, als
demjenigen, was nur vermittelst der Empfindung aus bloß
subjectiven Ursachen, die nur für dieses oder jenes seinen
[10]Sinn gelten, und nicht als Princip der Vernunft, das
für jedermann gilt, auf den Willen Einfluß hat *).

*) Die Abhängigkeit des Begehrungsvermögens von Empfindungen
heißt Neigung, und diese beweiset also jederzeit ein Bedürfniß.
Die Abhängigkeit eines zufällig bestimmbaren Willens aber von
[15]Principien der Vernunft heißt ein Interesse. Dieses findet also
nur bey einem abhängigen Willen statt, der nicht von selbst jeder-
zeit der Vernunft gemäß ist; beym göttlichen Willen kann man
sich kein Interesse gedenken. Aber auch der menschliche Wille kann
woran ein Interesse nehmen, ohne darum aus Interesse zu
[20]handeln. Das erste bedeutet das practische Interesse an der
Handlung, das zweyte das pathologische Interesse am Gegen-
stande der Handlung. Das erste zeigt nur Abhängigkeit des Wil-
lens von Principien der Vernunft an sich selbst, das zweyte von den
Principien derselben zum Behuf der Neigung an, da nemlich die
[25]Vernunft nur die practische Regel angiebt, wie dem Bedürfnisse
der Neigung abgeholfen werde. Im ersten Falle interessirt mich
die Handlung, im zweyten der Gegenstand der Handlung, (so fern
er mir angenehm ist). Wir haben im ersten Abschnitte gesehen:
daß bey einer Handlung aus Pflicht nicht auf das Interesse am
[30]Gegenstande, sondern bloß an der Handlung selbst und ihrem
Princip in der Vernunft (dem Gesetz) gesehen werden müsse.


38 [4:413-414]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
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Ein vollkommen guter Wille würde also eben so-
wol unter objectiven Gesetzen (des Guten) stehen, aber
nicht dadurch als zu gesetzmäßigen Handlungen genöthigt
vorgestellt werden können, weil er von selbst, nach seiner
[5]subjectiven Beschaffenheit, nur durch die Vorstellung des
Guten bestimmt werden kann. Daher gelten für den
göttlichen und überhaupt für einen heiligen Willen keine
Imperativen; das Sollen ist hier am unrechten Orte,
weil das Wollen schon von selbst mit dem Gesetz noth-
[10]wendig einstimmig ist. Daher sind Imperativen nur
Formeln, das Verhältniß objectiver Gesetze des Wollens
überhaupt zu der subjectiven Unvollkommenheit des Wil-
lens dieses oder jenes vernünftigen Wesens, z.B. des
menschlichen Willens, auszudrücken.

[15]Alle Imperativen nun gebieten entweder hypo-
thetisch, oder categorisch. Jene stellen die practische
Nothwendigkeit einer möglichen Handlung als Mittel zu
etwas anderem, was man will (oder doch möglich ist, daß
man es wolle), zu gelangen vor. Der categorische Im-
[20]perativ würde der seyn, welcher eine Handlung als für
sich selbst, ohne Beziehung auf einen andern Zweck, als
objectiv-nothwendig vorstellte.

Weil jedes practische Gesetz eine mögliche Hand-
lung als gut und darum, für ein durch Vernunft pra-
[25]ctisch bestimmbares Subject, als nothwendig vorstellt, so

39 [4:414]
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sind alle Imperativen Formeln der Bestimmung der Hand-
lung, die nach dem Princip eines in irgend einer Art
guten Willens nothwendig ist. Wenn nun die Handlung
bloß wozu anderes, als Mittel, gut seyn würde, so
[5]ist der Imperativ hypothetisch; wird sie als an sich
gut vorgestellt, mithin als nothwendig in einem an sich
der Vernunft gemäßen Willen, als Princip desselben, so
ist er categorisch.

Der Imperativ sagt also, welche durch mich mög-
[10]liche Handlung gut wäre, und stellt die practische Regel in
Verhältniß auf einen Willen vor, der darum nicht sofort
eine Handlung thut, weil sie gut ist, theils weil das
Subject nicht immer weiß, daß sie gut sey, theils weil,
wenn es dieses auch wüßte, die Maximen desselben doch
[15]den objectiven Principien einer practischen Vernunft zu-
wider seyn könnten.

Der hypothetische Imperativ sagt also nur, daß
die Handlung zu irgend einer möglichen oder wirklichen
Absicht gut sey. Im erstern Falle ist er ein proble-
[20]matisch, im zweyten assertorisch-practisches
Princip. Der categorische Imperativ, der die Hand-
lung ohne Beziehung auf irgend eine Absicht, d. i. auch
ohne irgend einen andern Zweck für sich als objectiv noth-
wendig erklärt, gilt als ein apodictisch (practisches)
[25]Princip.

40 [4:414-415]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
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Man kann sich das, was nur durch Kräfte irgend
eines vernünftigen Wesens möglich ist, auch für irgend
einen Willen als mögliche Absicht denken, und daher sind
der Principien der Handlung, so fern diese als nothwendig
[5]vorgestellt wird, um irgend eine dadurch zu bewirkende
mögliche Absicht zu erreichen, in der That unendlich viel.
Alle Wissenschaften haben irgend einen practischen Theil,
der aus Aufgaben besteht, daß irgend ein Zweck für uns
möglich sey, und aus Imperativen, wie er erreicht wer-
[10]den könne. Diese können daher überhaupt Imperativen
der Geschicklichkeit heißen. Ob der Zweck ver-
nünftig und gut sey, davon ist hier gar nicht die Frage,
sondern nur was man thun müsse, um ihn zu erreichen.
Die Vorschriften für den Arzt, um seinen Mann auf
[15]gründliche Art gesund zu machen, und für einen Giftmischer,
um ihn sicher zu tödten, sind in so fern von gleichem Werth,
als eine jede dazu dient, ihre Absicht vollkommen zu be-
wirken. Weil man in der frühen Jugend nicht weiß,
welche Zwecke uns im Leben aufstoßen dürften, so suchen
[20]Eltern vornehmlich ihre Kinder recht vielerley lernen zu
lassen, und sorgen für die Geschicklichkeit im Gebrauch
der Mittel zu allerley beliebigen Zwecken, von deren kei-
nem sie bestimmen können, ob er nicht etwa wirklich künf-
tig eine Absicht ihres Zöglings werden könne, wovon es
[25]indessen doch möglich ist, daß er sie einmal haben möchte,
und diese Sorgfalt ist so groß, daß sie darüber gemei-
niglich verabsäumen, ihnen das Urtheil über den Werth

41 [4:415]
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der Dinge, die sie sich etwa zu Zwecken machen möchten,
zu bilden und zu berichtigen.

Es ist gleichwol ein Zweck, den man bey allen
vernünftigen Wesen (so fern Imperative auf sie, nem-
[5]lich als abhängige Wesen, passen,) als wirklich voraussetzen
kann, und also eine Absicht, die sie nicht etwa bloß haben
können, sondern von der man sicher voraussetzen kann,
daß sie solche insgesamt nach einer Naturnothwendigkeit
haben, und das ist die Absicht auf Glückseligkeit. Der
[10]hypothetische Imperativ, der die practische Nothwendig-
keit der Handlung, als Mittel zur Beförderung der Glück-
seligkeit, vorstellt, ist assertorisch. Man darf ihn
nicht bloß als nothwendig zu einer ungewissen, bloß möglichen
Absicht, vortragen, sondern zu einer Absicht, die man sicher und
[15]a priori bey jedem Menschen voraussetzen kann, weil
sie zu seinem Wesen gehört. Nun kann man die Geschick-
lichkeit in der Wahl der Mittel zu seinem eigenen größten
Wohlseyn Klugheit *) im engsten Verstande nennen. Al-

*) Das Wort Klugheit wird in zwiefachem Sinn genommen, ein-
[20]mal kann es den Namen Weltklugheit, im zweyten den der Pri-
vatklugheit führen. Die erste ist die Geschicklichkeit eines Men-
schen, auf andere Einfluß zu haben, um sie zu seinen Absichten
zu gebrauchen. Die zweyte die Einsicht, alle diese Absichten zu
seinem eigenen daurenden Vortheil zu vereinigen. Die letztere
[25]ist eigentlich diejenige, worauf selbst der Werth der erstern zurück-
geführt wird, und wer in der erstern Art klug ist, nicht aber in
der zweyten, von dem könnte man besser sagen: er ist gescheut
und verschlagen, im Ganzen aber doch unklug.


42 [4:415-416]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
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so ist der Imperativ, der sich auf die Wahl der Mittel
zur eigenen Glückseligkeit bezieht, d. i., die Vorschrift
der Klugheit, noch immer hypothetisch; die Handlung
wird nicht schlechthin, sondern nur als Mittel zu einer
[5]andern Absicht geboten.

Endlich giebt es einen Imperativ, der, ohne
irgend eine andere durch ein gewisses Verhalten zu errei-
chende Absicht als Bedingung zum Grunde zu legen, die-
ses Verhalten unmittelbar gebietet. Dieser Imperativ
[10]ist categorisch. Er betrift nicht die Materie der
Handlung und das, was aus ihr erfolgen soll, sondern
die Form und das Princip, woraus sie selbst folgt, und
das Wesentlich-Gute derselben besteht in der Gesinnung,
der Erfolg mag seyn, welcher er wolle. Dieser Impera-
[15]tiv mag der der Sittlichkeit heißen.

Das Wollen nach diesen dreyerley Principien wird
auch durch die Ungleichheit der Nöthigung des Willens
deutlich unterschieden. Um diese nun auch merklich zu
machen, glaube ich, daß man sie in ihrer Ordnung am
[20]angemessensten so benennen würde, wenn man sagte: sie
wären entweder Regeln der Geschicklichkeit, oder Rath-
schläge der Klugheit, oder Gebote (Gesetze) der Sitt-
lichkeit. Denn nur das Gesetz führt den Begriff einer
unbedingten und zwar objectiven und mithin allgemein
[25]gültigen Nothwendigkeit bey sich, und Gebote sind Ge-

43 [4:416]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
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setze, denen gehorcht, d. i. auch wider Neigung Folge
geleistet werden muß. Die Rathgebung enthält zwar
Nothwendigkeit, die aber bloß unter subjectiver gefälliger
Bedingung, ob dieser oder jener Mensch dieses oder je-
[5]nes zu seiner Glückseligkeit zähle, gelten kann; dagegen
der categorische Imperativ durch keine Bedingung einge-
schränkt wird, und als absolut- obgleich practisch-noth-
wendig ganz eigentlich ein Gebot heißen kann. Man
könnte die ersteren Imperative auch technisch (zur Kunst
[10]gehörig), die zweyten pragmatisch *) (zur Wohlfahrt),
die dritten moralisch (zum freyen Verhalten überhaupt,
d. i. zu den Sitten gehörig) nennen.

Nun entsteht die Frage: wie sind alle diese Impe-
rative möglich? Diese Frage verlangt nicht zu wissen,
[15]wie die Vollziehung der Handlung, welche der Impera-
tiv gebietet, sondern wie bloß die Nöthigung des Willens,
die der Imperativ in der Aufgabe ausdrückt, gedacht
werden könne. Wie ein Imperativ der Geschicklichkeit
möglich sey, bedarf wol keiner besondern Erörterung.
[20]Wer den Zweck will, will (so fern die Vernunft auf sei-

*) Mich deucht, die eigentliche Bedeutung des Worts pragmatisch
könne so am genauesten bestimmt werden. Denn pragmatisch
werden die Sanctionen genannt, welche eigentlich nicht aus
dem Rechte der Staaten, als nothwendige Gesetze, sondern
[25]aus der Vorsorge für die allgemeine Wohlfahrt fließen.
Pragmatisch ist eine Geschichte abgefaßt, wenn sie klug macht,
d. i. die Welt belehrt, wie sie ihren Vortheil besser, oder we-
nigstens eben so gut, als die Vorwelt, besorgen könne.


44 [4:416-417]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
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ne Handlungen entscheidenden Einfluß hat,) auch das dazu
unentbehrlich nothwendige Mittel, das in seiner Gewalt
ist. Dieser Satz ist, was das Wollen betrifft, analy-
tisch; denn in dem Wollen eines Objects, als meiner
[5]Wirkung, wird schon meine Caußalität, als handelnder
Ursache, d. i. der Gebrauch der Mittel, gedacht, und
der Imperativ zieht den Begriff nothwendiger Handlun-
gen zu diesem Zwecke schon aus dem Begriff eines Wol-
lens dieses Zwecks heraus, (die Mittel selbst zu einer vor-
[10]gesetzten Absicht zu bestimmen, dazu gehören allerdings
synthetische Sätze, die aber nicht den Grund betreffen, den
Actus des Willens, sondern das Object wirklich zu machen).
Daß, um eine Linie nach einem sichern Princip in zwey
gleiche Theile zu theilen, ich aus den Enden derselben
[15]zwey Kreuzbogen machen müsse, das lehrt die Mathema-
tik freylich nur durch synthetische Sätze; aber daß, wenn
ich weiß, durch solche Handlung allein könne die gedach-
te Wirkung geschehen, ich, wenn ich die Wirkung voll-
ständig will, auch die Handlung wolle, die dazu erfoder-
[20]lich ist, ist ein analytischer Satz; denn etwas als eine
auf gewisse Art durch mich mögliche Wirkung, und mich,
in Ansehung ihrer, auf dieselbe Art handelnd vorstellen,
ist ganz einerley.

Die Imperativen der Klugheit würden, wenn es
[25]nur so leicht wäre, einen bestimmten Begriff von Glück-
seligkeit zu geben, mit denen der Geschicklichkeit ganz

45 [4:417]
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und gar übereinkommen, und eben sowol analytisch
seyn. Denn es würde eben sowol hier, als dort,
heißen: wer den Zweck will, will auch (der Vernunft
gemäß nothwendig) die einzigen Mittel, die dazu in sei-
[5]ner Gewalt sind. Allein es ist ein Unglück, daß der
Begriff der Glückseligkeit ein so unbestimmter Begriff ist,
daß, obgleich jeder Mensch zu dieser zu gelangen wünscht,
er doch niemals bestimmt und mit sich selbst einstimmig
sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle. Die
[10]Ursache davon ist: daß alle Elemente, die zum Begriff
der Glückseligkeit gehören, insgesamt empirisch sind,
d. i. aus der Erfahrung müssen entlehnt werden, daß
gleichwol zur Idee der Glückseligkeit ein absolutes Gan-
ze, ein Maximum des Wohlbefindens, in meinem gegen-
[15]wärtigen und jedem zukünftigen Zustande erforderlich ist.
Nun ists unmöglich, daß das einsehendste und zugleich
allervermögendste, aber doch endliche Wesen sich einen
bestimmten Begriff von dem mache, was er hier eigent-
lich wolle. Will er Reichthum, wie viel Sorge, Neid und
[20]Nachstellung könnte er sich dadurch nicht auf den Hals
ziehen. Will er viel Erkenntniß und Einsicht, vielleicht
könnte das ein nur um desto schärferes Auge werden, um
die Uebel, die sich für ihn jetzt noch verbergen und doch
nicht vermieden werden können, ihm nur um desto schreck-
[25]licher zu zeigen, oder seinen Begierden, die ihm schon
genug zu schaffen machen, noch mehr Bedürfnisse aufzu-
bürden. Will er ein langes Leben, wer steht ihm da-

46 [4:417-418]
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für, daß es nicht ein langes Elend seyn würde? Will
er wenigstens Gesundheit, wie oft hat noch Ungemäch-
lichkeit des Körpers von Ausschweifung abgehalten, dar-
ein unbeschränkte Gesundheit würde haben fallen lassen,
[5]u. s. w. Kurz, er ist nicht vermögend, nach irgend einem
Grundsatze, mit völliger Gewißheit zu bestimmen, was
ihn wahrhaftig glücklich machen werde, darum, weil hie-
zu Allwissenheit erforderlich seyn würde. Man kann also
nicht nach bestimmten Principien handeln, um glücklich
[10]zu seyn, sondern nur nach empirischen Rathschlägen, z.
B. der Diät, der Sparsamkeit, der Höflichkeit, der Zu-
rückhaltung u. s. w. von welchen die Erfahrung lehrt,
daß sie das Wohlbefinden im Durchschnitt am meisten
befördern. Hieraus folgt, daß die Imperativen der
[15]Klugheit, genau zu reden, gar nicht gebieten, d. i. Hand-
lungen objectiv als practisch-nothwendig darstellen kön-
nen, daß sie eher für Anrathungen (consilia) als Gebote
(praecepta) der Vernunft zu halten sind, daß die Auf-
gabe: sicher und allgemein zu bestimmen, welche Hand-
[20]lung die Glückseligkeit eines vernünftigen Wesens beför-
dern werde, völlig unauflöslich, mithin kein Imperativ
in Ansehung derselben möglich sey, der im strengen Ver-
stande geböte, das zu thun, was glücklich macht, weil
Glückseligkeit nicht ein Ideal der Vernunft, sondern der
[25]Einbildungskraft ist, was bloß auf empirischen Gründen
beruht, von denen man vergeblich erwartet, daß sie eine
Handlung bestimmen sollten, dadurch die Totalität einer

47 [4:418-419]
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in der That unendlichen Reihe von Folgen erreicht wür-
de. Dieser Imperativ der Klugheit würde indessen,
wenn man annimmt, die Mittel zur Glückseligkeit ließen
sich sicher angeben, ein analytisch-practischer Satz seyn;
[5]denn er ist von dem Imperativ der Geschicklichkeit nur
darin unterschieden, daß bey diesem der Zweck bloß mög-
lich, bey jenem aber gegeben ist: da beide aber bloß die
Mittel zu demjenigen gebieten, von dem man voraussetzt,
daß man es als Zweck wollte; so ist der Imperativ, der
[10]das Wollen der Mittel für den, der den Zweck will, ge-
bietet, in beiden Fällen analytisch. Es ist also in An-
sehung der Möglichkeit eines solchen Imperativs auch kei-
ne Schwierigkeit.

Dagegen, wie der Imperativ der Sittlichkeit mög-
[15]lich sey, ist ohne Zweifel die einzige einer Auflösung be-
dürftige Frage, da er gar nicht hypothetisch ist und also
die objectiv-vorgestellte Nothwendigkeit sich auf keine
Voraussetzung stützen kann, wie bey den hypothetischen
Imperativen. Nur ist immer hiebey nicht aus der Acht
[20]zu lassen, daß es durch kein Beyspiel, mithin empirisch
auszumachen sey, ob es überall irgend einen dergleichen
Imperativ gebe, sondern zu besorgen, daß alle, die ca-
tegorisch scheinen, doch versteckter Weise hypothetisch seyn
mögen. Z.B. wenn es heißt: du sollt nichts betrüglich
[25]versprechen; und man nimmt an, daß die Nothwendigkeit
dieser Unterlassung nicht etwa bloße Rathgebung zu Ver-

48 [4:419]
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meidung irgend eines andern Uebels sey, so daß es etwa
hieße: du sollt nicht lügenhaft versprechen, damit du
nicht, wenn es offenbar wird, dich um den Credit
bringest; sondern eine Handlung dieser Art müsse für
[5]sich selbst als böse betrachtet werden, der Imperativ
des Verbots sey also categorisch; so kann man doch
in keinem Beyspiel mit Gewißheit darthun, daß der
Wille hier ohne andere Triebfeder, bloß durchs Ge-
setz, bestimmt werde, ob es gleich so scheint; denn es
[10]ist immer möglich, daß ingeheim Furcht für Beschämung,
vielleicht auch dunkle Besorgniß anderer Gefahren, Ein-
fluß auf den Willen haben möge. Wer kann das Nicht-
seyn einer Ursache durch Erfahrung beweisen, da diese
nichts weiter lehrt, als daß wir jene nicht wahrnehmen?
[15]Auf solchen Fall aber würde der sogenannte moralische
Imperativ, der als ein solcher categorisch und unbedingt
erscheint, in der That nur eine pragmatische Vorschrift
seyn, die uns auf unsern Vortheil aufmerksam macht, und
uns bloß lehrt, diesen in Acht zu nehmen.

[20]Wir werden also die Möglichkeit eines categori-
schen Imperativs gänzlich a priori zu untersuchen haben,
da uns hier der Vortheil nicht zu statten kommt, daß die
Wirklichkeit desselben in der Erfahrung gegeben, und al-
so die Möglichkeit nicht zur Festsetzung, sondern bloß zur
[25]Erklärung nöthig wäre. So viel ist indessen vorläufig ein-
zusehen: daß der categorische Imperativ allein als ein

49 [4:419-420]
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practisches Gesetz laute, die übrigen insgesamt zwar
Principien des Willens, aber nicht Gesetze heißen kön-
nen; weil, was bloß zur Erreichung einer beliebigen Ab-
sicht zu thun nothwendig ist, an sich als zufällig betrachtet
[5]werden kann, und wir von der Vorschrift jederzeit los
seyn können, wenn wir die Absicht aufgeben, dahingegen
das unbedingte Gebot dem Willen kein Belieben in Anse-
hung des Gegentheils frey läßt, mithin allein diejenige
Nothwendigkeit bey sich führt, welche wir zum Gesetze
[10]verlangen.

Zweytens ist bey diesem categorischen Imperativ
oder Gesetze der Sittlichkeit der Grund der Schwierigkeit
(die Möglichkeit desselben einzusehen,) auch sehr groß. Er
ist ein synthetisch-practischer Satz *) a priori, und da
[15]die Möglichkeit der Sätze dieser Art einzusehen so viel
Schwierigkeit im theoretischen Erkenntnisse hat, so läßt
sich leicht abnehmen, daß sie im practischen nicht weniger
haben werde.

*) Ich verknüpfe mit dem Willen, ohne vorausgesetzte Bedingung
[20]aus irgend einer Neigung, die That, a priori, mithin noth-
wendig, (obgleich nur objectiv, d. i. unter der Idee einer Vernunft,
die über alle subjective Bewegursachen völlige Gewalt hätte).
Dieses ist also ein practischer Satz, der das Wollen einer Hand-
lung nicht aus einem anderen schon vorausgesetzten analytisch
[25]ableitet, (denn wir haben keinen so vollkommenen Willen,)
sondern mit dem Begriffe des Willens als eines vernünftigen
Wesens unmittelbar, als etwas, das in ihm nicht enthalten
ist, verknüpft.


50 [4:420]
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Bey dieser Aufgabe wollen wir zuerst versuchen, ob
nicht vielleicht der bloße Begriff eines categorischen Impe-
rativs auch die Formel desselben an die Hand gebe, die
den Satz enthält, der allein ein categorischer Imperativ
[5]seyn kann; denn wie ein solches absolutes Gebot möglich
sey, wenn wir auch gleich wissen, wie es lautet, wird
noch besondere und schwere Bemühung erfodern, die wir
aber zum letzten Abschnitte aussetzen.

Wenn ich mir einen hypothetischen Imperativ über-
[10]haupt denke, so weiß ich nicht zum voraus, was er ent-
halten werde: bis mir die Bedingung gegeben ist. Denke
ich mir aber einen categorischen Imperativ, so weiß
ich sofort, was er enthalte. Denn da der Imperativ
außer dem Gesetze nur die Nothwendigkeit der Maxime *)
[15]enthält, diesem Gesetze gemäß zu seyn, das Gesetz aber
keine Bedingung enthält, auf die es eingeschränkt war,
so bleibt nichts, als die Allgemeinheit eines Gesetzes über-
haupt übrig, welchem die Maxime der Handlung gemäß

*) Maxime ist das subjective Princip zu handeln, und muß vom
[20]objectiven Princip, nemlich dem practischen Gesetze, unter-
schieden werden. Jene enthält die practische Regel, die die
Vernunft den Bedingungen des Subjects gemäß (öfters der
Unwissenheit oder auch den Neigungen desselben) bestimmt,
und ist also der Grundsatz, nach welchem das Subject han-
[25]delt; das Gesetz aber ist das objective Princip, gültig für jedes
vernünftige Wesen, und der Grundsatz, nach dem es handeln
soll, d. i. ein Imperativ.


51 [4:420-421]
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seyn soll, und welche Gemäßheit allein den Imperativ ei-
gentlich als nothwendig vorstellt.

Der categorische Imperativ ist also nur ein einziger,
und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxi-
[5]me, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie
ein allgemeines Gesetz werde.

Wenn nun aus diesem einigen Imperativ alle Im-
perativen der Pflicht, als aus ihrem Princip, abgeleitet
werden können, so werden wir, ob wir es gleich unaus-
[10]gemacht lassen, ob nicht überhaupt das, was man Pflicht
nennt, ein leerer Begriff sey, doch wenigstens anzeigen
können, was wir dadurch denken und was dieser
Begriff sagen wolle.

Weil die Allgemeinheit des Gesetzes, wornach Wir-
[15]kungen geschehen, dasjenige ausmacht, was eigentlich
Natur im allgemeinsten Verstande (der Form nach),
d. i. das Daseyn der Dinge, heißt, so fern es nach all-
gemeinen Gesetzen bestimmt ist, so könnte der allgemeine
Imperativ der Pflicht auch so lauten: handle so, als
[20]ob die Maxime deiner Handlung durch deinen
Willen zum allgemeinen Naturgesetze
werden sollte.

Nun wollen wir einige Pflichten herzählen, nach
der gewöhnlichen Eintheilung derselben, in Pflichten ge-

52 [4:421]
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gen uns selbst und gegen andere Menschen, in vollkom-
mene und unvollkommene Pflichten *).

1) Einer, der durch eine Reihe von Uebeln, die
bis zur Hoffnungslosigkeit angewachsen ist, einen Ueber-
[5]druß am Leben empfindet, ist noch so weit im Besitze sei-
ner Vernunft, daß er sich selbst fragen kann, ob es auch
nicht etwa der Pflicht gegen sich selbst zuwider sey, sich
das Leben zu nehmen. Nun versucht er: ob die Maxi-
me seiner Handlung wol ein allgemeines Naturgesetz
[10]werden könne. Seine Maxime aber ist: ich mache es
mir aus Selbstliebe zum Princip, wenn das Leben
bey seiner längern Frist mehr Uebel droht, als es An-
nehmlichkeit verspricht, es mir abzukürzen. Es frägt
sich nur noch, ob dieses Princip der Selbstliebe ein allge-
[15]meines Naturgesetz werden könne. Da sieht man aber
bald, daß eine Natur, deren Gesetz es wäre, durch die-
selbe Empfindung, deren Bestimmung es ist, zur Beför-

*) Man muß hier wohl merken, daß ich die Eintheilung der Pflich-
ten für eine künftige Metaphysik der Sitten mir gänzlich
[20]vorbehalte, diese hier also nur als beliebig (um meine Bey-
spiele zu ordnen) dastehe. Uebrigens verstehe ich hier unter
einer vollkommenen Pflicht diejenige, die keine Ausnahme zum
Vortheil der Neigung verstattet, und da habe ich nicht bloß
äußere, sondern auch innere vollkommene Pflichten, wel-
[25]ches dem in Schulen angenommenen Wortgebrauch zuwider
läuft, ich aber hier nicht zu verantworten gemeynet bin, weil
es zu meiner Absicht einerley ist, ob man es mir einräumt,
oder nicht.


53 [4:421-422]
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derung des Lebens anzutreiben, das Leben selbst zu zer-
stöhren, ihr selbst widersprechen und also nicht als Na-
tur bestehen würde, mithin jene Maxime unmöglich als
allgemeines Naturgesetz stattfinden könne, und folglich
[5]dem obersten Princip aller Pflicht gänzlich widerstreite.

2) Ein anderer sieht sich durch Noth gedrungen,
Geld zu borgen. Er weiß wol, daß er nicht wird be-
zahlen können, sieht aber auch, daß ihm nichts geliehen
werden wird, wenn er nicht vestiglich verspricht, es zu
[10]einer bestimmten Zeit zu bezahlen. Er hat Lust, ein sol-
ches Versprechen zu thun; noch aber hat er so viel Ge-
wissen, sich zu fragen: ist es nicht unerlaubt und pflicht-
widrig, sich auf solche Art aus Noth zu helfen? Gesetzt,
er beschlösse es doch, so würde seine Maxime der Hand-
[15]lung so lauten: wenn ich mich in Geldnoth zu seyn glau-
be, so will ich Geld borgen, und versprechen es zu bezah-
len, ob ich gleich weiß, es werde niemals geschehen.
Nun ist dieses Princip der Selbstliebe, oder der eigenen
Zuträglichkeit, mit meinem ganzen künftigen Wohlbefin-
[20]den vielleicht wol zu vereinigen, allein jetzt ist die Fra-
ge: ob es recht sey? Ich verwandle also die Zumuthung
der Selbstliebe in ein allgemeines Gesetz, und richte die Fra-
ge so ein: wie es dann stehen würde, wenn meine
Maxime ein allgemeines Gesetz würde. Da sehe ich nun
[25]sogleich, daß sie niemals als allgemeines Naturgesetz gel-
ten und mit sich selbst zusammenstimmen könne, sondern

54 [4:422]
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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Zweyter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

sich nothwendig widersprechen müsse. Denn die Allge-
meinheit eines Gesetzes, daß jeder, nachdem er in Noth
zu seyn glaubt, versprechen könne, was ihm einfällt,
mit dem Vorsatz, es nicht zu halten, würde das Verspre-
[5]chen und den Zweck, den man damit haben mag, selbst
unmöglich machen, indem niemand glauben würde, daß
ihm was versprochen sey, sondern über alle solche Aeuße-
rung, als eitles Vorgeben, lachen würde.

3) Ein dritter findet in sich ein Talent, welches
[10]vermittelst einiger Cultur ihn zu einem in allerley Absicht
brauchbaren Menschen machen könnte. Er sieht sich aber
in bequemen Umständen, und zieht vor, lieber dem Vergnü-
gen nachzuhängen, als sich mit Erweiterung und Ver-
besserung seiner glücklichen Naturanlagen zu bemühen.
[15]Noch frägt er aber: ob, außer der Uebereinstimmung,
die seine Maxime der Verwahrlosung seiner Naturgaben
mit seinem Hange zur Ergötzlichkeit an sich hat, sie auch
mit dem, was man Pflicht nennt, übereinstimme. Da
sieht er nun, daß zwar eine Natur nach einem solchen
[20]allgemeinen Gesetze immer noch bestehen könne, obgleich
der Mensch (so wie die Südsee-Einwohner,) sein Talent
rosten ließe, und sein Leben bloß auf Müßiggang, Er-
götzlichkeit, Fortpflanzung, mit einem Wort, auf Genuß
zu verwenden bedacht wäre; allein er kann unmöglich
[25]wollen, daß dieses ein allgemeines Naturgesetz werde,
oder als ein solches in uns durch Naturinstinkt gelegt

55 [4:422-423]
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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Zweyter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

sey. Denn als ein vernünftiges Wesen will er nothwendig,
daß alle Vermögen in ihm entwickelt werden, weil sie ihm doch
zu allerley möglichen Absichten dienlich und gegeben sind.

Noch denkt ein vierter, dem es wohl geht, indessen
[5]er sieht, daß andere mit großen Mühseligkeiten zu käm-
pfen haben (denen er auch wol helfen könnte): was
gehts mich an? mag doch ein jeder so glücklich seyn, als
es der Himmel will, oder er sich selbst machen kann, ich
werde ihm nichts entziehen, ja nicht einmal beneiden;
[10]nur zu seinem Wohlbefinden, oder seinem Beystande in der
Noth, habe ich nicht Lust etwas beyzutragen! Nun könn-
te allerdings, wenn eine solche Denkungsart ein allge-
meines Naturgesetz würde, das menschliche Geschlecht gar
wol bestehen, und ohne Zweifel noch besser, als wenn
[15]jedermann von Theilnehmung und Wohlwollen schwatzt,
auch sich beeifert, gelegentlich dergleichen auszuüben, da-
gegen aber auch, wo er nur kann, betrügt, das Recht
der Menschen verkauft, oder ihm sonst Abbruch thut.
Aber, obgleich es möglich ist, daß nach jener Maxime
[20]ein allgemeines Naturgesetz wol bestehen könnte; so ist
es doch unmöglich, zu wollen, daß ein solches Princip
als Naturgesetz allenthalben gelte. Denn ein Wille, der
dieses beschlösse, würde sich selbst widerstreiten, indem
der Fälle sich doch manche eräugnen können, wo er ande-
[25]rer Liebe und Theilnehmung bedarf, und wo er, durch
ein solches aus seinem eigenen Willen entsprungenes Na-

56 [4:423]
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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Zweyter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

turgesetz, sich selbst alle Hoffnung des Beystandes, den
er sich wünscht, rauben würde.

Dieses sind nun einige von den vielen wirklichen
oder wenigstens von uns dafür gehaltenen Pflichten, deren
[5]Abtheilung aus dem einigen angeführten Princip klar in
die Augen fällt. Man muß wollen können, daß eine
Maxime unserer Handlung ein allgemeines Gesetz werde:
dies ist der Canon der moralischen Beurtheilung derselben
überhaupt. Einige Handlungen sind so beschaffen, daß
[10]ihre Maxime ohne Widerspruch nicht einmal als allge-
meines Naturgesetz gedacht werden kann; weit gefehlt,
daß man noch wollen könne, es sollte ein solches werden.
Bey andern ist zwar jene innere Unmöglichkeit nicht anzu-
treffen, aber es ist doch unmöglich, zu wollen, daß ih-
[15]re Maxime zur Allgemeinheit eines Naturgesetzes erhoben
werde, weil ein solcher Wille sich selbst widersprechen
würde. Man sieht leicht: daß die erstere der strengen
oder engeren (unnachlaßlichen) Pflicht, die zweyte nur
der weiteren (verdienstlichen) Pflicht widerstreite, und
[20]so alle Pflichten, was die Art der Verbindlichkeit (nicht
das Object ihrer Handlung) betrifft, durch diese Beyspie-
le in ihrer Abhängigkeit von dem einigen Princip vollstän-
dig aufgestellt worden.

Wenn wir nun auf uns selbst bey jeder Uebertre-
[25]tung einer Pflicht Acht haben, so finden wir, daß wir

57 [4:423-424]
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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Zweyter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

wirklich nicht wollen, es solle unsere Maxime ein allge-
meines Gesetz werden, denn das ist uns unmöglich, son-
dern das Gegentheil derselben soll vielmehr allgemein ein
Gesetz bleiben; nur nehmen wir uns die Freyheit, für
[5]uns, oder (auch nur für diesesmal) zum Vortheil unse-
rer Neigung, davon eine Ausnahme zu machen. Folg-
lich, wenn wir alles aus einem und demselben Gesichts-
puncte, nemlich der Vernunft, erwögen, so würden
wir einen Widerspruch in unserm eigenen Willen antref-
[10]fen, nemlich, daß ein gewisses Princip objectiv als allge-
meines Gesetz nothwendig sey und doch subjectiv nicht
allgemein gelten, sondern Ausnahmen verstatten sollte.
Da wir aber einmal unsere Handlung aus dem Gesichts-
puncte eines ganz der Vernunft gemäßen, dann aber
[15]auch eben dieselbe Handlung aus dem Gesichtspuncte ei-
nes durch Neigung afficirten Willens betrachten, so ist
wirklich hier kein Widerspruch, wol aber ein Wider-
stand der Neigung gegen die Vorschrift der Vernunft,
(antagonismus) wodurch die Allgemeinheit des Princips
[20](universalitas) in eine bloße Gemeingültigkeit (genera-
litas) verwandelt wird, dadurch das practische Vernunft-
princip mit der Maxime auf dem halben Wege zusam-
menkommen soll. Ob nun dieses gleich in unserm eige-
nen unparteyisch angestellten Urtheile nicht gerechtferti-
[25]get werden kann, so beweiset es doch, daß wir die Gül-
tigkeit des categorischen Imperativs wirklich anerkennen,
und uns (mit aller Achtung für denselben,) nur einige,

58 [4:424]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Zweyter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

wie es uns scheint, unerhebliche und uns abgedrungene
Ausnahmen erlauben.

Wir haben so viel also wenigstens dargethan, daß,
wenn Pflicht ein Begriff ist, der Bedeutung und wirkliche
[5]Gesetzgebung für unsere Handlungen enthalten soll, diese
nur in categorischen Imperativen, keinesweges aber in
hypothetischen ausgedrückt werden könne; imgleichen ha-
ben wir, welches schon viel ist, den Inhalt des catego-
rischen Imperativs, der das Princip aller Pflicht (wenn
[10]es überhaupt dergleichen gäbe,) enthalten müßte, deut-
lich und zu jedem Gebrauche bestimmt dargestellt. Noch
sind wir aber nicht so weit, a priori zu beweisen, daß
dergleichen Imperativ wirklich stattfinde, daß es ein
practisches Gesetz gebe, welches schlechterdings und ohne
[15]alle Triebfedern für sich gebietet, und daß die Befolgung
dieses Gesetzes Pflicht sey.

Bey der Absicht, dazu zu gelangen, ist es von der
äußersten Wichtigkeit, sich dieses zur Warnung dienen zu
lassen, daß man es sich ja nicht in den Sinn kommen
[20]lasse, die Realität dieses Princips aus der besondern
Eigenschaft der menschlichen Natur ableiten zu wol-
len. Denn Pflicht soll practisch-unbedingte Nothwen-
digkeit der Handlung seyn; sie muß also für alle ver-
nünftige Wesen (auf die nur überall ein Imperativ tref-
[25]fen kann,) gelten, und allein darum auch für allen mensch-
lichen Willen ein Gesetz seyn. Was dagegen aus der

59 [4:424-425]
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besondern Naturanlage der Menschheit, was aus ge-
wissen Gefühlen und Hange, ja so gar, wo möglich, aus
einer besonderen Richtung, die der menschlichen Vernunft
eigen wäre, und nicht nothwendig für den Willen eines
[5]jeden vernünftigen Wesens gelten müßte, abgeleitet wird,
das kann zwar eine Maxime für uns, aber kein Gesetz
abgeben, ein subjectiv Princip, nach welchem wir han-
deln zu dürfen, Hang und Neigung haben, aber nicht ein
objectives, nach welchem wir angewiesen wären zu han-
[10]deln, wenn gleich aller unser Hang, Neigung und Natur-
einrichtung dawider wäre, so gar, daß es um desto mehr
die Erhabenheit und innere Würde des Gebots in einer
Pflicht beweiset, je weniger die subjectiven Ursachen da-
für, je mehr sie dagegen seyn, ohne doch deswegen die
[15]Nöthigung durchs Gesetz nur im mindesten zu schwächen,
und seiner Gültigkeit etwas zu benehmen.

Hier sehen wir nun die Philosophie in der That auf
einen mißlichen Standpunct gestellet, der fest seyn soll,
unerachtet er weder im Himmel, noch auf der Erde, an
[20]etwas gehängt, oder woran gestützt wird. Hier soll sie
ihre Lauterkeit beweisen, als Selbsthalterin ihrer Gesetze,
nicht als Herold derjenigen, welche ihr ein eingepflanzter
Sinn, oder wer weiß welche vormundschaftliche Natur
einflüstert, die insgesamt, sie mögen immer besser seyn
[25]als gar nichts, doch niemals Grundsätze abgeben können,
die die Vernunft dictirt, und die durchaus völlig a priori
ihren Quell, und hiemit zugleich ihr gebietendes An-

60 [4:425-426]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Zweyter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

sehen haben müssen: nichts von der Neigung des Men-
schen, sondern alles von der Obergewalt des Gesetzes
und der schuldigen Achtung für dasselbe zu erwarten, oder
den Menschen widrigenfalls zur Selbstverachtung und
[5]innern Abscheu zu verurtheilen.

Alles also, was empirisch ist, ist, als Zuthat zum
Princip der Sittlichkeit, nicht allein dazu ganz untauglich,
sondern der Lauterkeit der Sitten selbst höchst nachtheilig,
an welchen der eigentliche und über allen Preis erhabene
[10]Werth eines schlechterdings guten Willens, eben darin
besteht, daß das Princip der Handlung von allen Einflüs-
sen zufälliger Gründe, die nur Erfahrung an die Hand
geben kann, frey sey. Wider diese Nachlässigkeit oder
gar niedrige Denkungsart, in Aufsuchung des Princips
[15]unter empirischen Bewegursachen und Gesetzen, kann man
auch nicht zu viel und zu oft Warnungen ergehen lassen,
indem die menschliche Vernunft in ihrer Ermüdung gern
auf diesem Polster ausruht, und in dem Traume süßer
Vorspiegelungen (die sie doch statt der Juno eine Wolke
[20]umarmen lassen,) der Sittlichkeit einen aus Gliedern ganz
verschiedener Abstammung zusammengeflickten Bastard un-
terschiebt, der allem ähnlich sieht, was man daran sehen
will, nur der Tugend nicht, für den, der sie einmal in
ihrer wahren Gestalt erblickt hat. *)

[25]*) Die Tugend in ihrer eigentlichen Gestalt erblicken, ist nichts
anders, als die Sittlichkeit, von aller Beymischung des Sinn-


61 [4:426]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Zweyter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

Die Frage ist also diese: ist es ein nothwendiges Ge-
setz für alle vernünftige Wesen, ihre Handlungen je-
derzeit nach solchen Maximen zu beurtheilen, von denen
sie selbst wollen können, daß sie zu allgemeinen Gesetzen
[5]dienen sollen? Wenn es ein solches ist, so muß es (völlig
a priori) schon mit dem Begriffe des Willens eines ver-
nünftigen Wesens überhaupt verbunden seyn. Um aber
diese Verknüpfung zu entdecken, muß man, so sehr man
sich auch streubt, einen Schritt hinaus thun, nemlich zur
[10]Metaphysik, obgleich in ein Gebiet derselben, welches
von dem der speculativen Philosophie unterschieden ist,
nemlich in die Metaphysik der Sitten. In einer practi-
schen Philosophie, wo es uns nicht darum zu thun ist,
Gründe anzunehmen, von dem, was geschieht, sondern
[15]Gesetze von dem, was geschehen soll, ob es gleich nie-
mals geschieht, d. i. objectiv-practische Gesetze: da haben
wir nicht nöthig, über die Gründe Untersuchung anzustel-
len, warum etwas gefällt oder mißfällt, wie das Vergnü-
gen der bloßen Empfindung vom Geschmacke, und ob
[20]dieser von einem allgemeinen Wohlgefallen der Vernunft
unterschieden sey; worauf Gefühl der Lust und Unlust be-
ruhe, und wie hieraus Begierden und Neigungen, aus
diesen aber, durch Mitwirkung der Vernunft, Maximen

lichen und allem unächten Schmuck des Lohns, oder der Selbst-
[25]liebe, entkleidet, darzustellen. Wie sehr sie alsdenn alles übrige,
was den Neigungen reizend erscheint, verdunkele, kann jeder ver-
mittelst des mindesten Versuchs seiner nicht ganz für alle Abstra-
ction verdorbenen Vernunft leicht inne werden.


62 [4:426-427]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Zweyter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

entspringen; denn das gehört alles zu einer empirischen
Seelenlehre, welche den zweyten Theil der Naturlehre
ausmachen würde, wenn man sie als Philosophie der
Natur betrachtet, so fern sie auf empirischen Gesetzen
[5]gegründet ist. Hier aber ist vom objectiv-practischen
Gesetze die Rede, mithin von dem Verhältnisse eines
Willens zu sich selbst, so fern er sich bloß durch Vernunft
bestimmt, da denn alles, was aufs Empirische Be-
ziehung hat, von selbst wegfällt; weil, wenn die Ver-
[10]nunft für sich allein das Verhalten bestimmt, (wovon
wir die Möglichkeit jetzt eben untersuchen wollen,) sie die-
ses nothwendig a priori thun muß.

Der Wille wird als ein Vermögen gedacht, der
Vorstellung gewisser Gesetze gemäß sich selbst zum
[15]Handeln zu bestimmen. Und ein solches Vermögen kann
nur in vernünftigen Wesen anzutreffen seyn. Nun ist das,
was dem Willen zum objectiven Grunde seiner Selbstbe-
stimmung dient, der Zweck, und dieser, wenn er durch
bloße Vernunft gegeben wird, muß für alle vernünftige
[20]Wesen gleich gelten. Was dagegen bloß den Grund der
Möglichkeit der Handlung enthält, deren Wirkung Zweck
ist, heißt das Mittel. Der subjective Grund des Begeh-
rens ist die Triebfeder, der objective des Wollens der
Bewegungsgrund; daher der Unterschied zwischen sub-
[25]jectiven Zwecken, die auf Triebfedern beruhen, und objecti-
ven, die auf Bewegungsgründe ankommen, welche für

63 [4:427]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Zweyter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

jedes vernünftige Wesen gelten. Practische Principien
sind formal, wenn sie von allen subjectiven Zwecken abstra-
hiren; sie sind aber material, wenn sie diese, mithin ge-
wisse Triebfedern, zum Grunde legen. Die Zwecke, die
[5]sich ein vernünftiges Wesen als Wirkungen seiner Hand-
lung nach Belieben vorsetzt, (materiale Zwecke) sind ins-
gesamt nur relativ; denn nur bloß ihr Verhältniß auf
ein besonders geartetes Begehrungsvermögen des Sub-
jects giebt ihnen den Werth, der daher keine allgemeine
[10]für alle vernünftige Wesen, und auch nicht für jedes Wol-
len gültige und nothwendige Principien, d. i. practische
Gesetze, an die Hand geben kann. Daher sind alle die-
se relative Zwecke nur der Grund von hypothetischen
Imperativen.

[15]Gesetzt aber, es gäbe etwas, dessen Daseyn an
sich selbst einen absoluten Werth hat, was, als Zweck
an sich selbst, ein Grund bestimmter Gesetze seyn könnte,
so würde in ihm, und nur in ihm allein, der Grund
eines möglichen categorischen Imperativs, d. i. practischen
[20]Gesetzes, liegen.

Nun sage ich: der Mensch, und überhaupt jedes ver-
nünftige Wesen, existirt als Zweck an sich selbst, nicht
bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder
jenen Willen, sondern muß in allen seinen, sowol auf
[25]sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerich-

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teten Handlungen, jederzeit zugleich als Zweck betrachtet
werden. Alle Gegenstände der Neigungen haben nur einen
bedingten Werth; denn, wenn die Neigungen und darauf
gegründete Bedürfnisse nicht wären, so würde ihr Gegen-
[5]stand ohne Werth seyn. Die Neigungen selber aber, als
Quellen der Bedürfniß, haben so wenig einen absoluten
Werth, um sie selbst zu wünschen, daß vielmehr, gänz-
lich davon frey zu seyn, der allgemeine Wunsch eines je-
den vernünftigen Wesens seyn muß. Also ist der Werth
[10]aller durch unsere Handlung zu erwerbenden Gegenstän-
de jederzeit bedingt. Die Wesen, deren Daseyn zwar
nicht auf unserm Willen, sondern der Natur beruht, ha-
ben dennoch, wenn sie vernunftlose Wesen sind, nur
einen relativen Werth, als Mittel, und heißen daher
[15]Sachen, dagegen vernünftige Wesen Personen ge-
nannt werden, weil ihre Natur sie schon als Zwecke an
sich selbst, d. i. als etwas, das nicht bloß als Mittel ge-
braucht werden darf, auszeichnet, mithin so fern alle
Willkühr einschränkt (und ein Gegenstand der Achtung
[20]ist). Dies sind also nicht bloß subjective Zwecke, deren
Existenz, als Wirkung unserer Handlung, für uns ei-
nen Werth hat; sondern objective Zwecke, d. i. Dinge,
deren Daseyn an sich selbst Zweck ist, und zwar einen
solchen, an dessen Statt kein anderer Zweck gesetzt wer-
[25]den kann, dem sie bloß als Mittel zu Diensten stehen
sollten, weil ohne dieses überall gar nichts von absolu-
tem Werthe würde angetroffen werden; wenn aber al-

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ler Werth bedingt, mithin zufällig wäre, so könnte für
die Vernunft überall kein oberstes practisches Princip
angetroffen werden.

Wenn es denn also ein oberstes practisches Prin-
[5]cip, und, in Ansehung des menschlichen Willens, einen
categorischen Imperativ geben soll, so muß es ein solches
seyn, das aus der Vorstellung dessen, was nothwendig
für jedermann Zweck ist, weil es Zweck an sich selbst
ist, ein objectives Princip des Willens ausmacht, mit-
[10]hin zum allgemeinen practischen Gesetz dienen kann. Der
Grund dieses Princips ist: die vernünftige Natur
existirt als Zweck an sich selbst. So stellt sich noth-
wendig der Mensch sein eignes Daseyn vor; so fern ist es
also ein subjectives Princip menschlicher Handlungen.
[15]So stellt sich aber auch jedes andere vernünftige Wesen
sein Daseyn, zufolge eben desselben Vernunftgrundes, der
auch für mich gilt, vor *); also ist es zugleich ein ob-
jectives Princip, woraus, als einem obersten practi-
schen Grunde, alle Gesetze des Willens müssen abgeleitet
[20]werden können. Der practische Imperativ wird also
folgender seyn: Handle so, daß du die Menschheit,
sowol in deiner Person, als in der Person eines
jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals

*) Diesen Satz stelle ich hier als Postulat auf. Im letzten Ab-
[25]schnitte wird man die Gründe dazu finden.


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bloß als Mittel brauchest. Wir wollen sehen, ob sich
dieses bewerkstelligen lasse.

Um bey den vorigen Beyspielen zu bleiben, so wird

Erstlich, nach dem Begriffe der nothwendigen
[5]Pflicht gegen sich selbst, derjenige, der mit Selbstmorde
umgeht, sich fragen, ob seine Handlung mit der Idee
der Menschheit, als Zwecks an sich selbst, zusammen
bestehen könne. Wenn er, um einem beschwerlichen Zu-
stande zu entfliehen, sich selbst zerstört, so bedient er sich
[10]einer Person, bloß als eines Mittels, zu Erhaltung
eines erträglichen Zustandes bis zu Ende des Lebens.
Der Mensch aber ist keine Sache, mithin nicht etwas,
das bloß als Mittel gebraucht werden kann, sondern
muß bey allen seinen Handlungen jederzeit als Zweck an
[15]sich selbst betrachtet werden. Also kann ich über den
Menschen in meiner Person nichts disponiren, ihn zu
verstümmeln, zu verderben, oder zu tödten. (Die nä-
here Bestimmung dieses Grundsatzes zur Vermeidung
alles Mißverstandes, z.B. der Amputation der Glieder,
[20]um mich zu erhalten, der Gefahr, der ich mein Leben
aussetze, um mein Leben zu erhalten etc., muß ich hier
vorbeygehen; sie gehört zur eigentlichen Moral.)

Zweytens, was die nothwendige oder schuldige
Pflicht gegen andere betrifft, so wird der, so ein lügen-
[25]haftes Versprechen gegen andere zu thun im Sinne hat,
so fort einsehen, daß er sich eines andern Menschen

67 [4:429]
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bloß als Mittels bedienen will, ohne daß dieser zugleich
den Zweck in sich enthalte. Denn der, den ich durch
ein solches Versprechen zu meinen Absichten brauchen
will, kann unmöglich in meine Art, gegen ihn zu verfah-
[5]ren, einstimmen und also selbst den Zweck dieser Handlung
enthalten. Deutlicher fällt dieser Widerstreit gegen das
Princip anderer Menschen in die Augen, wenn man Bey-
spiele von Angriffen auf Freyheit und Eigenthum ande-
rer herbeyzieht. Denn da leuchtet klar ein, daß der
[10]Uebertreter der Rechte der Menschen, sich der Person an-
derer bloß als Mittel zu bedienen, gesonnen sey, ohne in
Betracht zu ziehen, daß sie, als vernünftige Wesen, je-
derzeit zugleich als Zwecke, d. i. nur als solche, die von
eben derselben Handlung auch in sich den Zweck müssen
[15]enthalten können, geschätzt werden sollen *).

Drittens, in Ansehung der zufälligen (verdienstli-
chen) Pflicht gegen sich selbst ists nicht genug, daß die

*) Man denke ja nicht, daß hier das triviale: quod tibi non vis
fieri &c. zur Richtschnur oder Princip dienen könne. Denn es ist,
[20]obzwar mit verschiedenen Einschränkungen, nur aus jenem ab-
geleitet; es kann kein allgemeines Gesetz seyn, denn es enthält
nicht den Grund der Pflichten gegen sich selbst, nicht der Lie-
bespflichten gegen andere, (denn mancher würde es gerne ein-
gehen, daß andere ihm nicht wohlthun sollen, wenn er es
[25]nur überhoben seyn dürfte, ihnen Wohlthat zu erzeigen,) end-
lich nicht der schuldigen Pflichten gegen einander; denn der
Verbrecher würde aus diesem Grunde gegen seine strafenden
Richter argumentiren, u. s. w.


68 [4:429-430]
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Handlung nicht der Menschheit in unserer Person, als
Zweck an sich selbst, widerstreite, sie muß auch dazu zu-
sammenstimmen. Nun sind in der Menschheit Anlagen
zu größerer Vollkommenheit, die zum Zwecke der Natur
[5]in Ansehung der Menschheit in unserem Subject gehören;
diese zu vernachlässigen, würde allenfalls wol mit der
Erhaltung der Menschheit, als Zwecks an sich selbst,
aber nicht der Beförderung dieses Zwecks bestehen
können.

[10]Viertens, in Betreff der verdienstlichen Pflicht
gegen andere, ist der Naturzweck, den alle Menschen
haben, ihre eigene Glückseligkeit. Nun würde zwar
die Menschheit bestehen können, wenn niemand zu des
andern Glückseligkeit was beytrüge, dabey aber ihr nichts
[15]vorsetzlich entzöge; allein es ist dieses doch nur eine nega-
tive und nicht positive Uebereinstimmung zur Menschheit,
als Zweck an sich selbst, wenn jedermann auch nicht
die Zwecke anderer, so viel an ihm ist, zu befördern
trachtete. Denn das Subject, welches Zweck an sich
[20]selbst ist, dessen Zwecke müssen, wenn jene Vorstellung
bey mir alle Wirkung thun soll, auch, so viel möglich,
meine Zwecke seyn.

Dieses Princip der Menschheit und jeder vernünf-
tigen Natur überhaupt, als Zwecks an sich selbst,
[25](welche die oberste einschränkende Bedingung der Frey-

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heit der Handlungen eines jeden Menschen ist,) ist nicht
aus der Erfahrung entlehnt, erstlich, wegen seiner Allge-
meinheit, da es auf alle vernünftige Wesen überhaupt
geht, worüber etwas zu bestimmen keine Erfahrung zu-
[5]reicht: zweytens, weil darin die Menschheit nicht als
Zweck der Menschen (subjectiv) d. i. als Gegenstand, den
man sich von selbst wirklich zum Zwecke macht, sondern
als objectiver Zweck, der, wir mögen Zwecke haben,
welche wir wollen, als Gesetz die oberste einschränkende
[10]Bedingung aller subjectiven Zwecke ausmachen soll, vor-
gestellt wird, mithin aus reiner Vernunft entspringen
muß. Es liegt nemlich der Grund aller practischen Ge-
setzgebung objectiv in der Regel und der Form der All-
gemeinheit, die sie ein Gesetz (allenfalls Naturgesetz) zu
[15]seyn fähig macht, (nach dem ersten Princip,) subjectiv
aber im Zwecke; das Subject aller Zwecke aber ist jedes
vernünftige Wesen, als Zweck an sich selbst (nach dem
zweyten Princip): hieraus folgt nun das dritte practische
Princip des Willens, als oberste Bedingung der Zusam-
[20]menstimmung desselben mit der allgemeinen practischen
Vernunft, die Idee des Willens jedes vernünftigen
Wesens als eines allgemein gesetzgebenden Willens.

Alle Maximen werden nach diesem Princip ver-
worfen, die mit der eigenen allgemeinen Gesetzgebung
[25]des Willens nicht zusammen bestehen können. Der
Wille wird also nicht lediglich dem Gesetze unterwor-

70 [4:431]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
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fen, sondern so unterworfen, daß er auch als selbst-
gesetzgebend, und eben um deswillen allererst dem Gesetze
(davon er selbst sich als Urheber betrachten kann) unter-
worfen, angesehen werden muß.

[5]Die Imperativen nach der vorigen Vorstellungsart,
nemlich der allgemein einer Naturordnung ähnlichen
Gesetzmäßigkeit der Handlungen, oder des allgemeinen
Zwecksvorzuges vernünftiger Wesen an sich selbst, schlossen
zwar von ihrem gebietenden Ansehen alle Beymischung
[10]irgend eines Interesse, als Triebfeder, aus, eben dadurch,
daß sie als categorisch vorgestellt wurden; sie wurden
aber nur als categorisch angenommen, weil man der-
gleichen annehmen mußte, wenn man den Begriff von
Pflicht erklären wollte. Daß es aber practische Sätze
[15]gäbe, die categorisch geböten, könnte für sich nicht be-
wiesen werden, so wenig, wie es überhaupt in diesem
Abschnitte auch hier noch nicht geschehen kann; allein eines
hätte doch geschehen können, nemlich: daß die Lossa-
gung von allem Interesse beym Wollen aus Pflicht, als
[20]das specifische Unterscheidungszeichen des categorischen
vom hypothetischen Imperativ, in dem Imperativ selbst,
durch irgend eine Bestimmung, die er enthielte, mit
angedeutet würde, und dieses geschieht in gegenwärtiger
dritten Formel des Princips, nemlich der Idee des
[25]Willens eines jeden vernünftigen Wesens, als allgemein-
gesetzgebenden Willens.

71 [4:431-432]
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Denn wenn wir einen solchen denken, so kann, ob-
gleich ein Wille, der unter Gesetzen steht, noch ver-
mittelst eines Interesse an dieses Gesetz gebunden seyn
mag, dennoch ein Wille, der selbst zu oberst gesetzge-
[5]bend ist, unmöglich so fern von irgend einem Interesse
abhängen; denn ein solcher abhängender Wille würde
selbst noch eines andern Gesetzes bedürfen, welches das
Interesse seiner Selbstliebe auf die Bedingung einer Gül-
tigkeit zum allgemeinen Gesetz einschränkte.

[10]Also würde das Princip eines jeden menschlichen
Willens, als eines durch alle seine Maximen allge-
mein gesetzgebenden Willens*), wenn es sonst mit ihm
nur seine Richtigkeit hätte, sich zum categorischen Im-
perativ darin gar wohl schicken, daß es, eben um
[15]der Idee der allgemeinen Gesetzgebung willen, sich auf
kein Interesse gründet und also unter allen möglichen
Imperativen allein unbedingt seyn kann; oder noch besser,
indem wir den Satz umkehren, wenn es einen categori-
schen Imperativ giebt, (d. i. ein Gesetz für jeden Willen
[20]eines vernünftigen Wesens,) so kann er nur gebieten,
alles aus der Maxime seines Willens, als eines solchen, zu
thun, der zugleich sich selbst als allgemein gesetzgebend

*) Ich kann hier, Beyspiele zur Erläuterung dieses Princips an-
zuführen, überhoben seyn, denn die, so zuerst den categori-
[25]schen Imperativ und seine Formel erläuterten, können hier
alle zu eben dem Zwecke dienen.


72 [4:432]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
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zum Gegenstande haben könnte; denn alsdenn nur ist
das practische Princip und der Imperativ, dem er ge-
horcht, unbedingt, weil er gar kein Interesse zum Grun-
de haben kann.

[5]Es ist nun kein Wunder, wenn wir auf alle bishe-
rige Bemühungen, die jemals unternommen worden,
um das Princip der Sittlichkeit ausfündig zu machen, zu-
rücksehen, warum sie insgesamt haben fehlschlagen müssen.
Man sahe den Menschen durch seine Pflicht an Gesetze
[10]gebunden, man ließ es sich aber nicht einfallen, daß er
nur seiner eigenen und dennoch allgemeinen Gesetzge-
bung unterworfen sey, und daß er nur verbunden sey,
seinem eigenen, dem Naturzwecke nach aber allge-
mein gesetzgebenden, Willen gemäß zu handeln. Denn,
[15]wenn man sich ihn nur als einem Gesetz (welches es auch
sey) unterworfen dachte: so mußte dieses irgend ein In-
teresse als Reiz oder Zwang bey sich führen, weil es nicht
als Gesetz aus seinem Willen entsprang, sondern dieser
gesetzmäßig von etwas anderm genöthiget wurde, auf
[20]gewisse Weise zu handeln. Durch diese ganz nothwendi-
ge Folgerung aber war alle Arbeit, einen obersten Grund
der Pflicht zu finden, unwiederbringlich verlohren. Denn
man bekam niemals Pflicht, sondern Nothwendigkeit der
Handlung aus einem gewissen Interesse heraus. Dieses
[25]mochte nun ein eigenes oder fremdes Interesse seyn.
Aber alsdann mußte der Imperativ jederzeit bedingt

73 [4:432-433]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Zweyter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

ausfallen, und konnte zum moralischen Gebote gar nicht tau-
gen. Ich will also diesen Grundsatz das Princip der Auto-
nomie des Willens, im Gegensatz mit jedem andern, das
ich deshalb zur Heteronomie zähle, nennen.

[5]Der Begriff eines jeden vernünftigen Wesens, das
sich durch alle Maximen seines Willens als allgemein
gesetzgebend betrachten muß, um aus diesem Gesichtspun-
cte sich selbst und seine Handlungen zu beurtheilen, führt
auf einen ihm anhängenden sehr fruchtbaren Begriff, nem-
[10]lich den eines Reichs der Zwecke.

Ich verstehe aber unter einem Reiche die systema-
tische Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch
gemeinschaftliche Gesetze. Weil nun Gesetze die Zwecke
ihrer allgemeinen Gültigkeit nach bestimmen, so wird,
[15]wenn man von dem persönlichen Unterschiede vernünftiger
Wesen, imgleichen allem Inhalte ihrer Privatzwecke ab-
strahirt, ein Ganzes aller Zwecke, (sowol der vernünf-
tigen Wesen als Zwecke an sich, als auch der eigenen
Zwecke, die ein jedes sich selbst setzen mag,) in systemati-
[20]scher Verknüpfung, d. i. ein Reich der Zwecke gedacht
werden können, welches nach obigen Principien mög-
lich ist.

Denn vernünftige Wesen stehen alle unter dem Ge-
setz, daß jedes derselben sich selbst und alle andere nie-

74 [4:433]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
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mals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als
Zweck an sich selbst behandeln solle. Hiedurch aber
entspringt eine systematische Verbindung vernünftiger
Wesen durch gemeinschaftliche objective Gesetze, d. i. ein
[5]Reich, welches, weil diese Gesetze eben die Beziehung
dieser Wesen auf einander, als Zwecke und Mittel, zur
Absicht haben, ein Reich der Zwecke (freylich nur ein
Ideal) heißen kann.

Es gehört aber ein vernünftiges Wesen als Glied
[10]zum Reiche der Zwecke, wenn es darin zwar allgemein
gesetzgebend, aber auch diesen Gesetzen selbst unterworfen
ist. Es gehört dazu als Oberhaupt, wenn es als ge-
setzgebend keinem Willen eines andern unterworfen ist.

Das vernünftige Wesen muß sich jederzeit als gesetz-
[15]gebend in einem durch Freyheit des Willens möglichen
Reiche der Zwecke betrachten, es mag nun seyn als Glied,
oder als Oberhaupt. Den Platz des letztern kann es aber
nicht bloß durch die Maxime seines Willens, sondern nur
alsdann, wenn es ein völlig unabhängiges Wesen, ohne
[20]Bedürfniß und Einschränkung seines dem Willen adä-
quaten Vermögens ist, behaupten.

Moralität besteht also in der Beziehung aller Hand-
lung auf die Gesetzgebung, dadurch allein ein Reich der
Zwecke möglich ist. Diese Gesetzgebung muß aber in je-

75 [4:433-434]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Zweyter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

dem vernünftigen Wesen selbst angetroffen werden, und
aus seinem Willen entspringen können, dessen Princip
also ist: keine Handlung nach einer andern Maxime zu
thun, als so, daß es auch mit ihr bestehen könne, daß
[5]sie ein allgemeines Gesetz sey, und also nur so, daß
der Wille durch seine Maxime sich selbst zugleich als
allgemein gesetzgebend betrachten könne. Sind nun
die Maximen mit diesem objectiven Princip der vernünf-
tigen Wesen, als allgemein gesetzgebend, nicht durch ih-
[10]re Natur schon nothwendig einstimmig, so heißt die Noth-
wendigkeit der Handlung nach jenem Princip practische
Nöthigung, d. i. Pflicht. Pflicht kommt nicht dem
Oberhaupte im Reiche der Zwecke, wol aber jedem
Gliede, und zwar allen in gleichem Maaße, zu.

[15]Die practische Nothwendigkeit nach diesem Prin-
cip zu handeln, d. i. die Pflicht, beruht gar nicht auf Ge-
fühlen, Antrieben und Neigungen, sondern bloß auf dem
Verhältnisse vernünftiger Wesen zu einander, in welchem
der Wille eines vernünftigen Wesens jederzeit zugleich als
[20]gesetzgebend betrachtet werden muß, weil es sie sonst
nicht als Zweck an sich selbst denken könnte. Die Ver-
nunft bezieht also jede Maxime des Willens als allgemein
gesetzgebend auf jeden anderen Willen, und auch auf je-
de Handlung gegen sich selbst, und dies zwar nicht um
[25]irgend eines andern practischen Bewegungsgrundes oder
künftigen Vortheils willen, sondern aus der Idee der

76 [4:434]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Zweyter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetze
gehorcht, als dem, das es zugleich selbst giebt.

Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen
Preiß, oder eine Würde. Was einen Preiß hat,
[5]an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Aequiva-
lent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preiß er-
haben ist, mithin kein Aequivalent verstattet, das hat
eine Würde.

Was sich auf die allgemeinen menschlichen Neigungen
[10]und Bedürfnisse bezieht, hat einen Marktpreiß; das,
was, auch ohne ein Bedürfniß vorauszusetzen, einem ge-
wissen Geschmacke, d. i. einem Wohlgefallen am bloßen
zwecklosen Spiel unserer Gemüthskräfte, gemäß ist, einen
Affectionspreiß; das aber, was die Bedingung aus-
[15]macht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst seyn
kann, hat nicht bloß einen relativen Werth, d. i. einen
Preiß, sondern einen innern Werth, d. i. Würde.

Nun ist Moralität die Bedingung, unter der al-
lein ein vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst seyn
[20]kann; weil nur durch sie es möglich ist, ein gesetzgebend
Glied im Reiche der Zwecke zu seyn. Also ist Sittlich-
keit und die Menschheit, so fern sie derselben fähig ist,
dasjenige, was allein Würde hat. Geschicklichkeit und
Fleiß im Arbeiten haben einen Marktpreiß: Witz, leb-

77 [4:434-435]
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hafte Einbildungskraft und Launen einen Affectionspreiß:
dagegen Treue im Versprechen, Wohlwollen aus Grund-
sätzen (nicht aus Instinct,) haben einen innern Werth.
Die Natur sowol als Kunst enthalten nichts, was sie,
[5]in Ermangelung derselben, an ihre Stelle setzen könnten;
denn ihr Werth besteht nicht in den Wirkungen, die dar-
aus entspringen, im Vortheil und Nutzen, den sie schaf-
fen, sondern in den Gesinnungen, d. i. den Maximen
des Willens, die sich auf diese Art in Handlungen zu
[10]offenbaren bereit sind, obgleich auch der Erfolg sie nicht
begünstigte. Diese Handlungen bedürfen auch keiner
Empfehlung von irgend einer subjectiven Disposition
oder Geschmack, sie mit unmittelbarer Gunst und Wohl-
gefallen anzusehen, keines unmittelbaren Hanges oder
[15]Gefühles für dieselbe: sie stellen den Willen, der sie aus-
übt, als Gegenstand einer unmittelbaren Achtung dar,
dazu nichts als Vernunft gefodert wird, um sie dem Willen
aufzuerlegen, nicht von ihm zu erschmeicheln, welches
letztere bey Pflichten ohnedem ein Widerspruch wäre.
[20]Diese Schätzung giebt also den Werth einer solchen Den-
kungsart als Würde zu erkennen, und setzt sie über allen
Preiß unendlich weg, mit dem sie gar nicht in Anschlag
und Vergleichung gebracht werden kann, ohne sich gleich-
sam an der Heiligkeit derselben zu vergreifen.

[25]Und was ist es denn nun, was die sittlich gute
Gesinnung oder die Tugend berechtigt, so hohe Ansprü-

78 [4:435]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
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che zu machen? Es ist nichts geringeres als der Antheil,
den sie dem vernünftigen Wesen an der allgemeinen
Gesetzgebung verschafft, und es hiedurch zum Gliede in
einem möglichen Reiche der Zwecke tauglich macht, wozu
[5]es durch seine eigene Natur schon bestimmt war, als
Zweck an sich selbst und eben darum als gesetzgebend im
Reiche der Zwecke, in Ansehung aller Naturgesetze als
frey, nur denjenigen allein gehorchend, die es selbst
giebt und nach welchen seine Maximen zu einer allgemei-
[10]nen Gesetzgebung (der er sich zugleich selbst unterwirft,)
gehören können. Denn es hat nichts einen Werth, als
den, welchen ihm das Gesetz bestimmt. Die Gesetzgebung selbst
aber, die allen Werth bestimmt, muß eben darum eine
Würde, d. i. unbedingten, unvergleichbaren Werth ha-
[15]ben, für welchen das Wort Achtung allein den gezie-
menden Ausdruck der Schätzung abgiebt, die ein vernünf-
tiges Wesen über sie anzustellen hat. Autonomie ist
also der Grund der Würde der menschlichen und jeder
vernünftigen Natur.

[20]Die angeführten drey Arten, das Princip der Sitt-
lichkeit vorzustellen, sind aber im Grunde nur so viele
Formeln eben desselben Gesetzes, deren die eine die an-
deren zwey von selbst in sich vereinigt. Indessen ist doch
eine Verschiedenheit in ihnen, die zwar eher subjectiv
[25]als objectiv-practisch ist, nemlich, um eine Idee der
Vernunft der Anschauung (nach einer gewissen Analogie)

79 [4:435-436]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Zweyter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

und dadurch dem Gefühle näher zu bringen. Alle Maxi-
men haben nemlich

1) eine Form, welche in der Allgemeinheit besteht,
und da ist die Formel des sittlichen Imperativs so ausge-
[5]drückt: daß die Maximen so müssen gewählt werden, als
ob sie wie allgemeine Naturgesetze gelten sollten;

2) eine Maxime, nemlich einen Zweck, und da sagt
die Formel: daß das vernünftige Wesen, als Zweck sei-
ner Natur nach, mithin als Zweck an sich selbst, jeder
[10]Maxime zur einschränkenden Bedingung aller bloß rela-
tiven und willkührlichen Zwecke dienen müsse;

3) eine vollständige Bestimmung aller Maxi-
men durch jene Formel, nemlich: daß alle Maximen
aus eigener Gesetzgebung zu einem möglichen Reiche der
[15]Zwecke, als einem Reiche der Natur *), zusammenstim-
men sollen. Der Fortgang geschieht hier, wie durch
die Categorien der Einheit der Form des Willens, (der
Allgemeinheit desselben,) der Vielheit der Materie, (der
Objecte, d. i. der Zwecke,) und der Allheit oder Tota-
[20]lität des Systems derselben. Man thut aber besser,
wenn man in der sittlichen Beurtheilung immer nach

*) Die Teleologie erwägt die Natur als ein Reich der Zwecke,
die Moral ein mögliches Reich der Zwecke als ein Reich
der Natur. Dort ist das Reich der Zwecke eine theoretische
[25]Idee, zu Erklärung dessen, was da ist. Hier ist es eine
practische Idee, um das, was nicht da ist, aber durch unser
Thun und Lassen wirklich werden kann, und zwar eben dieser
Idee gemäß, zu Stande zu bringen.


80 [4:436]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Zweyter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

der strengen Methode verfährt, und die allgemeine For-
mel des categorischen Imperativs zum Grunde legt:
handle nach der Maxime, die sich selbst zugleich zum
allgemeinen Gesetze machen kann. Will man aber
[5]dem sittlichen Gesetze zugleich Eingang verschaffen: so ist
sehr nützlich, ein und eben dieselbe Handlung durch be-
nannte drey Begriffe zu führen, und sie dadurch, so viel
sich thun läßt, der Anschauung zu nähern.

Wir können nunmehr da endigen, von wo wir im
[10]Anfange ausgingen, nemlich dem Begriffe eines unbe-
dingt guten Willens. Der Wille ist schlechterdings
gut, der nicht böse seyn, mithin dessen Maxime, wenn
sie zu einem allgemeinen Gesetze gemacht wird, sich selbst
niemals widerstreiten kann. Dieses Princip ist also auch
[15]sein oberstes Gesetz: handle jederzeit nach derjenigen Ma-
xime, deren Allgemeinheit als Gesetzes du zugleich wol-
len kannst; dieses ist die einzige Bedingung, unter der ein
Wille niemals mit sich selbst im Widerstreite seyn kann,
und ein solcher Imperativ ist categorisch. Weil die Gül-
[20]tigkeit des Willens, als eines allgemeinen Gesetzes für
mögliche Handlungen, mit der allgemeinen Verknüpfung
des Daseyns der Dinge nach allgemeinen Gesetzen, die
das Formale der Natur überhaupt ist, Analogie hat, so
kann der categorische Imperativ auch so ausgedrückt wer-
[25]den: Handle nach Maximen, die sich selbst zugleich
als allgemeine Naturgesetze zum Gegenstande haben

81 [4:436-437]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Zweyter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

können. So ist also die Formel eines schlechterdings
guten Willens beschaffen.

Die vernünftige Natur nimmt sich dadurch vor den
übrigen aus, daß sie ihr selbst einen Zweck setzt. Dieser
[5]würde die Materie eines jeden guten Willens seyn. Da
aber in der Idee eines ohne einschränkende Bedingung
(der Erreichung dieses oder jenes Zwecks) schlechterdings
guten Willens, durchaus von allem zu bewirkenden
Zwecke abstrahirt werden muß, (als der jeden Willen nur
[10]relativ gut machen würde,) so wird der Zweck hier nicht
als ein zu bewirkender, sondern selbstständiger Zweck,
mithin nur negativ, gedacht werden müssen, d. i. dem
niemals zuwider gehandelt, der also niemals bloß als
Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck in jedem Wol-
[15]len geschätzt werden muß. Dieser kann nun nichts anders
als das Subject aller möglichen Zwecke selbst seyn, weil
dieses zugleich das Subject eines möglichen schlechter-
dings guten Willens ist; denn dieser kann, ohne Wi-
derspruch, keinem andern Gegenstande nachgesetzt wer-
[20]den. Das Princip: handle in Beziehung auf ein je-
des vernünftiges Wesen (auf dich selbst und andere) so,
daß es in deiner Maxime zugleich als Zweck an sich selbst
gelte, ist demnach mit dem Grundsatze: handle nach ei-
ner Maxime, die ihre eigene allgemeine Gültigkeit für
[25]jedes vernünftige Wesen zugleich in sich enthält, im Grun-
de einerley. Denn, daß ich meine Maxime im Gebrau-

82 [4:437-438]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
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che der Mittel zu jedem Zwecke auf die Bedingung ihrer
Allgemeingültigkeit, als eines Gesetzes für jedes Subject
einschränken soll, sagt eben so viel, als das Subject der
Zwecke, d. i. das vernünftige Wesen selbst, muß niemals
[5]bloß als Mittel, sondern als oberste einschränkende Be-
dingung im Gebrauche aller Mittel, d. i. jederzeit zugleich
als Zweck, allen Maximen der Handlungen zum Grunde
gelegt werden.

Nun folgt hieraus unstreitig: daß jedes vernünf-
[10]tige Wesen, als Zweck an sich selbst, sich in Ansehung al-
ler Gesetze, denen es nur immer unterworfen seyn mag,
zugleich als allgemein gesetzgebend müsse ansehen können,
weil eben diese Schicklichkeit seiner Maximen zur allge-
meinen Gesetzgebung es als Zweck an sich selbst auszeich-
[15]net, imgleichen, daß dieses seine Würde (Prärogativ) vor
allen bloßen Naturwesen es mit sich bringe, seine Maximen
jederzeit aus dem Gesichtspuncte seiner selbst, zugleich
aber auch jedes andern vernünftigen als gesetzgebenden
Wesens, (die darum auch Personen heißen,) nehmen zu
[20]müssen. Nun ist auf solche Weise eine Welt vernünftiger
Wesen (mundus intelligibilis) als ein Reich der Zwecke
möglich, und zwar durch die eigene Gesetzgebung aller
Personen als Glieder. Demnach muß ein jedes vernünf-
tiges Wesen so handeln, als ob es durch seine Maximen
[25]jederzeit ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reiche der
Zwecke wäre. Das formale Princip dieser Maximen ist:

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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Zweyter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

handle so, als ob deine Maxime zugleich zum allgemei-
nen Gesetze (aller vernünftigen Wesen) dienen sollte.
Ein Reich der Zwecke ist also nur möglich nach der Ana-
logie mit einem Reiche der Natur, jenes aber nur nach
[5]Maximen, d. i. sich selbst auferlegten Regeln, diese
nur nach Gesetzen äußerlich genöthigter wirkenden Ur-
sachen. Dem unerachtet giebt man doch auch dem Na-
turganzen, ob es schon als Maschine angesehen wird,
dennoch, so fern es auf vernünftige Wesen, als seine
[10]Zwecke, Beziehung hat, aus diesem Grunde den Na-
men eines Reichs der Natur. Ein solches Reich der
Zwecke würde nun durch Maximen, deren Regel der ca-
tegorische Imperativ aller vernünftigen Wesen vorschreibt,
wirklich zu Stande kommen, wenn sie allgemein befolgt
[15]würden. Allein, obgleich das vernünftige Wesen darauf
nicht rechnen kann, daß, wenn es auch gleich diese Maxi-
me selbst pünctlich befolgte, darum jedes andere eben
derselben treu seyn würde, imgleichen, daß das Reich der
Natur und die zweckmäßige Anordnung desselben, mit
[20]ihm, als einem schicklichen Gliede, zu einem durch ihn selbst
möglichen Reiche der Zwecke zusammenstimmen, d. i. sei-
ne Erwartung der Glückseligkeit begünstigen werde; so
bleibt doch jenes Gesetz: handle nach Maximen eines all-
gemein gesetzgebenden Gliedes zu einem bloß möglichen
[25]Reiche der Zwecke, in seiner vollen Kraft, weil es ca-
tegorisch gebietend ist. Und hierin liegt eben das Para-
doxon: daß bloß die Würde der Menschheit, als vernünf-

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tiger Natur, ohne irgend einen andern dadurch zu erreichen-
den Zweck, oder Vortheil, mithin die Achtung für eine bloße
Idee, dennoch zur unnachlaßlichen Vorschrift des Wil-
lens dienen sollte, und daß gerade in dieser Unabhängig-
[5]keit der Maxime von allen solchen Triebfedern die Er-
habenheit derselben bestehe, und die Würdigkeit eines
jeden vernünftigen Subjects, ein gesetzgebendes Glied im
Reiche der Zwecke zu seyn; denn sonst würde es nur als
dem Naturgesetze seiner Bedürfniß unterworfen vorgestellt
[10]werden müssen. Obgleich auch das Naturreich sowol,
als das Reich der Zwecke, als unter einem Oberhaupte
vereinigt gedacht würde, und dadurch das letztere nicht
mehr bloße Idee bliebe, sondern wahre Realität erhielte,
so würde hiedurch zwar jener der Zuwachs einer starken
[15]Triebfeder, niemals aber Vermehrung ihres innern
Werths zu statten kommen; denn, diesem ungeachtet,
müßte doch selbst dieser alleinige unumschränkte Gesetzge-
ber immer so vorgestellt werden, wie er den Werth der
vernünftigen Wesen, nur nach ihrem uneigennützigen,
[20]bloß aus jener Idee ihnen selbst vorgeschriebenen Verhal-
ten, beurtheilte. Das Wesen der Dinge ändert sich durch
ihre äußere Verhältnisse nicht, und was, ohne an das
letztere zu denken, den absoluten Werth des Menschen
allein ausmacht, darnach muß er auch, von wem es auch
[25]sey, selbst vom höchsten Wesen, beurtheilt werden. Mo-
ralität ist also das Verhältniß der Handlungen zur Auto-
nomie des Willens, das ist, zur möglichen allgemeinen

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Gesetzgebung durch die Maximen desselben. Die Hand-
lung, die mit der Autonomie des Willens zusammen beste-
hen kann, ist erlaubt; die nicht damit stimmt, ist uner-
laubt. Der Wille, dessen Maximen nothwendig mit den
[5]Gesetzen der Autonomie zusammenstimmen, ist ein heili-
ger, schlechterdings guter Wille. Die Abhängigkeit ei-
nes nicht schlechterdings guten Willens vom Princip der
Autonomie (die moralische Nöthigung) ist Verbind-
lichkeit. Diese kann also auf ein heiliges Wesen nicht
[10]gezogen werden. Die objective Nothwendigkeit einer
Handlung aus Verbindlichkeit heißt Pflicht.

Man kann aus dem kurz vorhergehenden sich es
jetzt leicht erklären, wie es zugehe: daß, ob wir gleich
unter dem Begriffe von Pflicht uns eine Unterwürfigkeit
[15]unter dem Gesetze denken, wir uns dadurch doch zugleich
eine gewisse Erhabenheit und Würde an derjenigen Per-
son vorstellen, die alle ihre Pflichten erfüllt. Denn so
fern ist zwar keine Erhabenheit an ihr, als sie dem mo-
ralischen Gesetze unterworfen ist, wol aber, so fern
[20]sie in Ansehung eben desselben zugleich gesetzgebend und
nur darum ihm untergeordnet ist. Auch haben wir oben
gezeigt, wie weder Furcht, noch Neigung, sondern le-
diglich Achtung fürs Gesetz, diejenige Triebfeder sey, die
der Handlung einen moralischen Werth geben kann. Un-
[25]ser eigener Wille, so fern er, nur unter der Bedingung
einer durch seine Maximen möglichen allgemeinen Gesetz-

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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Zweyter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

gebung, handeln würde, dieser uns mögliche Wille in der
Idee, ist der eigentliche Gegenstand der Achtung, und
die Würde der Menschheit besteht eben in dieser Fähig-
keit, allgemein gesetzgebend, obgleich mit dem Be-
[5]ding, eben dieser Gesetzgebung zugleich selbst unter-
worfen zu seyn.

Die Autonomie des Willens
als
oberstes Princip der Sittlichkeit.

[10]Autonomie des Willens ist die Beschaffenheit des
Willens, dadurch derselbe ihm selbst (unabhängig von
aller Beschaffenheit der Gegenstände des Wollens) ein
Gesetz ist. Das Princip der Autonomie ist also: nicht
anders zu wählen, als so, daß die Maximen seiner Wahl
[15]in demselben Wollen zugleich als allgemeines Gesetz mit
begriffen seyn. Daß diese practische Regel ein Imperativ
sey, d. i. der Wille jedes vernünftigen Wesens an sie
als Bedingung nothwendig gebunden sey, kann durch
bloße Zergliederung der in ihm vorkommenden Begriffe
[20]nicht bewiesen werden, weil es ein synthetischer Satz ist;
man müßte über die Erkenntniß der Objecte und zu einer
Critik des Subjects, d. i. der reinen practischen Ver-
nunft, hinausgehen, denn völlig a priori muß dieser syn-
thetische Satz, der apodictisch gebietet, erkannt werden
[25]können, dieses Geschäft aber gehört nicht in gegenwärti-

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gen Abschnitt. Allein, daß gedachtes Princip der Au-
tonomie das alleinige Princip der Moral sey, läßt sich
durch bloße Zergliederung der Begriffe der Sittlichkeit
gar wohl darthun. Denn dadurch findet sich, daß ihr
[5]Princip ein categorischer Imperativ seyn müsse, dieser
aber nichts mehr oder weniger als gerade diese Autono-
mie gebiete.

Die Heteronomie des Willens
als der Quell aller unächten Principien
[10]
der Sittlichkeit.

Wenn der Wille irgend worin anders, als in
der Tauglichkeit seiner Maximen zu seiner eigenen allge-
meinen Gesetzgebung, mithin, wenn er, indem er über sich
selbst hinausgeht, in der Beschaffenheit irgend eines seiner
[15]Objecte das Gesetz sucht, das ihn bestimmen soll, so kommt
jederzeit Heteronomie heraus. Der Wille giebt alsdenn
sich nicht selbst, sondern das Object durch sein Verhält-
niß zum Willen giebt diesem das Gesetz. Dies Verhält-
niß, es beruhe nun auf der Neigung, oder auf Vorstel-
[20]lungen der Vernunft, läßt nur hypothetische Imperati-
ven möglich werden: ich soll etwas thun darum, weil ich
etwas anderes will. Dagegen sagt der moralische, mit-
hin categorische Imperativ: ich soll so oder so handeln,
ob ich gleich nichts anderes wollte. Z. E. jener sagt: ich
[25]soll nicht lügen, wenn ich bey Ehren bleiben will; dieser

88 [4:440-441]
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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Zweyter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

aber: ich soll nicht lügen, ob es mir gleich nicht die min-
deste Schande zuzöge. Der letztere muß also von allem
Gegenstande so fern abstrahiren, daß dieser gar keinen
Einfluß auf den Willen habe, damit practische Vernunft
[5](Wille) nicht fremdes Interesse bloß administrire, sondern
bloß ihr eigenes gebietendes Ansehen, als oberste Gesetz-
gebung, beweise. So soll ich z.B. fremde Glückseligkeit
zu befördern suchen, nicht als wenn mir an deren Exi-
stenz was gelegen wäre, (es sey durch unmittelbare Nei-
[10]gung, oder irgend ein Wohlgefallen indirect durch Ver-
nunft,) sondern bloß deswegen, weil die Maxime, die sie
ausschließt, nicht in einem und demselben Wollen, als all-
gemeinen Gesetz, begriffen werden kann.

Eintheilung
[15]
aller möglichen Principien der Sittlichkeit
aus dem
angenommenen Grundbegriffe
der Heteronomie.

Die menschliche Vernunft hat hier, wie
[20]allerwärts in ihrem reinen Gebrauche, so lange es
ihr an Critik fehlt, vorher alle mögliche unrechte
Wege versucht, ehe es ihr gelingt, den einzigen
wahren zu treffen.

Alle Principien, die man aus diesem Gesichts-
[25]puncte nehmen mag, sind entweder empirisch oder ra-

89 [4:441]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Zweyter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

tional. Die ersteren, aus dem Princip der Glück-
seligkeit, sind aufs physische oder moralische Gefühl, die
zweyten, aus dem Princip der Vollkommenheit,
entweder auf den Vernunftbegriff derselben, als möglicher
[5]Wirkung, oder auf den Begriff einer selbstständigen Voll-
kommenheit (den Willen Gottes), als bestimmende Ur-
sache unseres Willens, gebauet.

Empirische Principien taugen überall nicht dazu,
um moralische Gesetze darauf zu gründen. Denn die
[10]Allgemeinheit, mit der sie für alle vernünftige Wesen
ohne Unterschied gelten sollen, die unbedingte practische
Nothwendigkeit, die ihnen dadurch auferlegt wird, fällt
weg, wenn der Grund derselben von der besonderen
Einrichtung der menschlichen Natur, oder den zu-
[15]fälligen Umständen hergenommen wird, darin sie gesetzt
ist. Doch ist das Princip der eigenen Glückseligkeit
am meisten verwerflich, nicht bloß deswegen, weil es
falsch ist, und die Erfahrung dem Vorgeben, als ob das
Wohlbefinden sich jederzeit nach dem Wohlverhalten rich-
[20]te, widerspricht, auch nicht bloß, weil es gar nichts zur
Gründung der Sittlichkeit beyträgt, indem es ganz was
anderes ist, einen glücklichen, als einen guten Menschen,
und diesen klug und auf seinen Vortheil abgewitzt, als
ihn tugendhaft zu machen: sondern, weil es der Sitt-
[25]lichkeit Triebfedern unterlegt, die sie eher untergraben und
ihre ganze Erhabenheit zernichten, indem sie die Beweg-

90 [4:441-442]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Zweyter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

ursachen zur Tugend mit denen zum Laster in eine Classe
stellen und nur den Calcul besser ziehen lehren, den spe-
cifischen Unterschied beider aber ganz und gar auslöschen;
dagegen das moralische Gefühl, dieser vermeyntliche be-
[5]sondere Sinn *), (so seicht auch die Berufung auf sel-
bigen ist, indem diejenigen, die nicht denken können,
selbst in dem, was bloß auf allgemeine Gesetze ankommt,
sich durchs Fühlen auszuhelfen glauben, so wenig auch
Gefühle, die dem Grade nach von Natur unendlich von
[10]einander unterschieden sind, einen gleichen Maaßstab
des Guten und Bösen abgeben, auch einer durch sein
Gefühl für andere gar nicht gültig urtheilen kann,) den-
noch der Sittlichkeit und ihrer Würde dadurch näher
bleibt, daß er der Tugend die Ehre beweist, das Wohl-
[15]gefallen und die Hochschätzung für sie ihr unmittelbar
zuzuschreiben, und ihr nicht gleichsam ins Gesicht sagt,
daß es nicht ihre Schönheit, ondern nur der Vortheil
sey, der uns an sie knüpfe.

Unter den rationalen, oder Vernunftgründen der
[20]Sittlichkeit, ist doch der ontologische Begriff der Voll-

*) Ich rechne das Princip des moralischen Gefühls zu dem der
Glückseligkeit, weil ein jedes empirisches Interesse durch die
Annehmlichkeit, die etwas nur gewährt, es mag nun unmit-
telbar und ohne Absicht auf Vortheile, oder in Rücksicht auf
[25]dieselbe geschehen, einen Beytrag zum Wohlbefinden verspricht.
Imgleichen muß mau das Princip der Theilnehmung an an-
derer Glückseligkeit, mit Hutcheson, zu demselben von ihm
angenommenen moralischen Sinne rechnen.


91 [4:442-443]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Zweyter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

kommenheit, (so leer, so unbestimmt, mithin unbrauch-
bar er auch ist, um in dem unermeßlichen Felde mög-
licher Realität die für uns schickliche größte Summe
auszufinden, so sehr er auch, um die Realität, von der
[5]hier die Rede ist, specifisch von jeder anderen zu unter-
scheiden, einen unvermeidlichen Hang hat, sich im Cirkel
zu drehen, und die Sittlichkeit, die er erklären soll, inge-
heim vorauszusetzen, nicht vermeiden kann,) dennoch
besser als der theologische Begriff, sie von einem gött-
[10]lichen allervollkommensten Willen abzuleiten, nicht bloß
deswegen, weil wir seine Vollkommenheit doch nicht an-
schauen, sondern sie von unseren Begriffen, unter denen
der der Sittlichkeit der vornehmste ist, allein ableiten kön-
nen, sondern weil, wenn wir dieses nicht thun, (wie es
[15]denn, wenn es geschähe, ein grober Cirkel im Erklären
seyn würde,) der uns noch übrige Begriff seines Willens
aus den Eigenschaften der Ehr- und Herrschbegierde, mit
den furchtbaren Vorstellungen der Macht und des Rach-
eifers verbunden, zu einem System der Sitten, welches
[20]der Moralität gerade entgegen gesetzt wäre, die Grund-
lage machen müßte.

Wenn ich aber zwischen dem Begriff des moralischen
Sinnes und dem der Vollkommenheit überhaupt, (die bei-
de der Sittlichkeit wenigstens nicht Abbruch thun, ob sie
[25]gleich dazu gar nichts taugen, sie als Grundlagen zu un-
terstützen,) wählen müßte: so würde ich mich für den letz-

92 [4:443]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Zweyter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

teren bestimmen, weil, da er wenigstens die Entschei-
dung der Frage von der Sinnlichkeit ab und an den Ge-
richtshof der reinen Vernunft zieht, ob er gleich auch
hier nichts entscheidet, dennoch die unbestimmte Idee (ei-
[5]nes an sich guten Willens) zur nähern Bestimmung un-
verfälscht aufbehält.

Uebrigens glaube ich einer weitläuftigen Widerle-
gung aller dieser Lehrbegriffe überhoben seyn zu können.
Sie ist so leicht, sie ist von denen selbst, deren Amt es
[10]erfodert, sich doch für eine dieser Theorien zu erklären,
(weil Zuhörer den Aufschub des Urtheils nicht wohl leiden
mögen,) selbst vermuthlich so wohl eingesehen, daß dadurch
nur überflüssige Arbeit geschehen würde. Was uns aber
hier mehr interessirt, ist, zu wissen: daß diese Principien
[15]überall nichts als Heteronomie des Willens zum ersten
Grunde der Sittlichkeit aufstellen, und eben darum noth-
wendig ihres Zwecks verfehlen müssen.

Allenthalben, wo ein Object des Willens zum Grun-
de gelegt werden muß, um diesem die Regel vorzuschrei-
[20]ben, die ihn bestimme, da ist die Regel nichts als He-
teronomie; der Imperativ ist bedingt, nemlich: wenn
oder weil man dieses Object will, soll man so oder so
handeln; mithin kann er niemals moralisch, d. i. cate-
gorisch, gebieten. Er mag nun das Object vermittelst
[25]der Neigung, wie beym Princip der eigenen Glückselig-

93 [4:443-444]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Zweyter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

keit, oder vermittelst der auf Gegenstände unseres mög-
lichen Wollens überhaupt gerichteten Vernunft, im Prin-
cip der Vollkommenheit, den Willen bestimmen, so be-
stimmt sich der Wille niemals unmittelbar selbst durch
[5]die Vorstellung der Handlung, sondern nur durch die
Triebfeder, welche die vorausgesehene Wirkung der
Handlung auf den Willen hat; ich soll etwas thun,
darum, weil ich etwas anderes will, und hier muß noch
ein anderes Gesetz in meinem Subject zum Grunde ge-
[10]legt werden, nach welchem ich dieses Andere nothwendig
will, welches Gesetz wiederum eines Imperativs bedarf,
der diese Maxime einschränke. Denn weil der Antrieb,
der die Vorstellung eines durch unsere Kräfte mög-
lichen Objects nach der Naturbeschaffenheit des Sub-
[15]jects auf seinen Willen ausüben soll, zur Natur des
Subjects gehöret, es sey der Sinnlichkeit, (der
Neigung und des Geschmacks,) oder des Verstandes
und der Vernunft, die nach der besonderen Einrich-
tung ihrer Natur an einem Objecte sich mit Wohlge-
[20]fallen üben, so gäbe eigentlich die Natur das Ge-
setz, welches, als ein solches, nicht allein durch
Erfahrung erkannt und bewiesen werden muß, mit-
hin an sich zufällig ist und zur apodictischen practischen
Regel, dergleichen die moralische seyn muß, dadurch un-
[25]tauglich wird, sondern es ist immer nur Heteronomie
des Willens, der Wille giebt sich nicht selbst, sondern
ein fremder Antrieb giebt ihm, vermittelst einer auf die

94 [4:444]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Zweyter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

Empfänglichkeit desselben gestimmten Natur des Sub-
jects, das Gesetz.

Der schlechterdings gute Wille, dessen Princip ein
categorischer Imperativ seyn muß, wird also, in Anse-
[5]hung aller Objecte unbestimmt, bloß die Form des
Wollens überhaupt enthalten, und zwar als Autonomie,
d. i. die Tauglichkeit der Maxime eines jeden guten Wil-
lens, sich selbst zum allgemeinen Gesetze zu machen, ist
selbst das alleinige Gesetz, das sich der Wille eines jeden
[10]vernünftigen Wesens selbst auferlegt, ohne irgend eine
Triebfeder und Interesse derselben als Grund unter-
zulegen.

Wie ein solcher synthetischer practischer Satz
a priori möglich und warum er nothwendig sey, ist eine
[15]Aufgabe, deren Auflösung nicht mehr binnen den Gren-
zen der Metaphysik der Sitten liegt, auch haben wir
seine Wahrheit hier nicht behauptet, vielweniger vorge-
geben, einen Beweis derselben in unserer Gewalt zu ha-
ben. Wir zeigten nur durch Entwickelung des einmal
[20]allgemein im Schwange gehenden Begriffs der Sittlich-
keit: daß eine Autonomie des Willens demselben, unver-
meidlicher Weise, anhänge, oder vielmehr zum Grunde
liege. Wer also Sittlichkeit für Etwas, und nicht für
eine chimärische Idee ohne Wahrheit, hält, muß das an-
[25]geführte Princip derselben zugleich einräumen. Dieser

95 [4:444-445]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Zweyter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

Abschnitt war also, eben so, wie der erste, bloß analy-
tisch. Daß nun Sittlichkeit kein Hirngespinst sey, wel-
ches alsdenn folgt, wenn der categorische Imperativ und
mit ihm die Autonomie des Willens wahr, und als ein
[5]Princip a priori schlechterdings nothwendig ist, erfodert
einen möglichen synthetischen Gebrauch der reinen
practischen Vernunft, den wir aber nicht wagen dür-
fen, ohne eine Critik dieses Vernunftvermögens selbst
voranzuschicken, von welcher wir in dem letzten Ab-
[10]schnitte die zu unserer Absicht hinlängliche Hauptzüge
darzustellen haben.


96 [4:445]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Dritter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

Dritter Abschnitt.

Uebergang
von der
Metaphysik der Sitten zur Critik
[5]
der reinen practischen Vernunft.

Der Begriff der Freyheit
ist der
Schlüssel zur Erklärung der Autonomie
des Willens.

[10]Der Wille ist eine Art von Caußalität lebender We-
sen, so fern sie vernünftig sind, und Freyheit wür-
de diejenige Eigenschaft dieser Caußalität seyn, da sie
unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen
wirkend seyn kann; so wie Naturnothwendigkeit die
[15]Eigenschaft der Caußalität aller vernunftlosen Wesen,
durch den Einfluß fremder Ursachen zur Thätigkeit be-
stimmt zu werden.

Die angeführte Erklärung der Freyheit ist negativ,
und daher, um ihr Wesen einzusehen, unfruchtbar; al-
[20]lein es fließt aus ihr ein positiver Begriff derselben, der
desto reichhaltiger und fruchtbarer ist. Da der Begriff
einer Caußalität den von Gesetzen bey sich führt, nach
welchen durch etwas, was wir Ursache nennen, etwas

97 [4:446]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Dritter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

anderes, nemlich die Folge, gesetzt werden muß: so ist
die Freyheit, ob sie zwar nicht eine Eigenschaft des Wil-
lens nach Naturgesetzen ist, darum doch nicht gar gesetz-
los, sondern muß vielmehr eine Caußalität nach unwan-
[5]delbaren Gesetzen, aber von besonderer Art, seyn; denn
sonst wäre ein freyer Wille ein Unding. Die Natur-
nothwendigkeit war eine Heteronomie der wirkenden Ur-
sachen; denn jede Wirkung war nur nach dem Gesetze
möglich, daß etwas anderes die wirkende Ursache zur
[10]Caußalität bestimmte; was kann denn wol die Freyheit
des Willens sonst seyn, als Autonomie, d. i. die Ei-
genschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu seyn? Der
Satz aber: der Wille ist in allen Handlungen sich selbst
ein Gesetz, bezeichnet nur das Princip, nach keiner an-
[15]deren Maxime zu handeln, als die sich selbst auch als
ein allgemeines Gesetz zum Gegenstande haben kann.
Dies ist aber gerade die Formel des categorischen Impe-
rativs und das Princip der Sittlichkeit: also ist ein
freyer Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen
[20]einerley.

Wenn also Freyheit des Willens vorausgesetzt wird,
so folgt die Sittlichkeit samt ihrem Princip daraus,
durch bloße Zergliederung ihres Begriffs. Indessen ist
das letztere doch immer ein synthetischer Satz: ein schlech-
[25]terdings guter Wille ist derjenige, dessen Maxime jeder-
zeit sich selbst, als allgemeines Gesetz betrachtet, in sich

98 [4:446-447]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Dritter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

enthalten kann, denn durch Zergliederung des Begriffs
von einem schlechthin guten Willen, kann jene Eigen-
schaft der Maxime nicht gefunden werden. Solche syn-
thetische Sätze sind aber nur dadurch möglich, daß bei-
[5]de Erkenntnisse durch die Verknüpfung mit einem dritten,
darin sie beiderseits anzutreffen sind, unter einander
verbunden werden. Der positive Begriff der Freyheit
schafft dieses dritte, welches nicht, wie bey den physi-
schen Ursachen, die Natur der Sinnenwelt seyn kann,
[10](in deren Begriff die Begriffe von etwas als Ursach, in
Verhältniß auf etwas anderes als Wirkung, zusammen-
kommen). Was dieses dritte sey, worauf uns die Frey-
heit weiset, und von dem wir a priori eine Idee haben,
läßt sich hier sofort noch nicht anzeigen, und die Dedu-
[15]ction des Begriffs der Freyheit aus der reinen practischen
Vernunft, mit ihr auch die Möglichkeit eines categori-
schen Imperativs, begreiflich machen, sondern bedarf noch
einiger Vorbereitung.

Freyheit
[20]
muß als Eigenschaft des Willens
aller vernünftigen Wesen
vorausgesetzt werden.

Es ist nicht genug, daß wir unserem Willen, es
sey aus welchem Grunde, Freyheit zuschreiben, wenn
[25]wir nicht ebendieselbe auch allen vernünftigen Wesen bey-

99 [4:447]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Dritter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

zulegen hinreichenden Grund haben. Denn da Sittlich-
keit für uns bloß als für vernünftige Wesen zum Gesetze
dient, so muß sie auch für alle vernünftige Wesen gelten, und
da sie lediglich aus der Eigenschaft der Freyheit abgelei-
[5]tet werden muß, so muß auch Freyheit als Eigenschaft
des Willens aller vernünftigen Wesen bewiesen werden,
und es ist nicht genug, sie aus gewissen vermeintlichen
Erfahrungen von der menschlichen Natur darzuthun,
(wiewol dieses auch schlechterdings unmöglich ist und le-
[10]diglich a priori dargethan werden kann,) sondern man
muß sie als zur Thätigkeit vernünftiger und mit einem
Willen begabter Wesen überhaupt beweisen. Ich sage
nun: Ein jedes Wesen, das nicht anders als unter
der Idee der Freyheit handeln kann, ist eben darum,
[15]in practischer Rücksicht, wirklich frey, d. i. es gelten für
dasselbe alle Gesetze, die mit der Freyheit unzertrennlich ver-
bunden sind, eben so, als ob sein Wille auch an sich
selbst, und in der theoretischen Philosophie gültig, für frey
erklärt würde *). Nun behaupte ich: daß wir jedem

[20]*) Diesen Weg, die Freyheit nur, als von vernünftigen Wesen
bey ihren Handlungen bloß in der Idee zum Grunde gelegt,
zu unserer Absicht hinreichend anzunehmen, schlage ich deswe-
gen ein, damit ich mich nicht verbindlich machen dürfte, die
Freyheit auch in ihrer theoretischen Absicht zu beweisen. Denn
[25]wenn dieses letztere auch unausgemacht gelassen wird, so gelten
doch dieselben Gesetze für ein Wesen, das nicht anders als un-
ter der Idee seiner eigenen Freyheit handeln kann, die ein
Wesen, das wirklich frey wäre, verbinden würden. Wir kön-
nen uns hier also von der Last befreyen, die die Theorie drückt.


100 [4:447-448]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Dritter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

vernünftigen Wesen, das einen Willen hat, nothwendig
auch die Idee der Freyheit leihen müssen, unter der es
allein handle. Denn in einem solchen Wesen denken wir
uns eine Vernunft, die practisch ist, d. i. Caußalität in
[5]Ansehung ihrer Objecte hat. Nun kann man sich un-
möglich eine Vernunft denken, die mit ihrem eigenen
Bewußtseyn in Ansehung ihrer Urtheile anderwärts her
eine Lenkung empfienge, denn alsdenn würde das Sub-
ject nicht seiner Vernunft, sondern einem Antriebe, die
[10]Bestimmung der Urtheilskraft zuschreiben. Sie muß
sich selbst als Urheberin ihrer Principien ansehen, unab-
hängig von fremden Einflüssen, folglich muß sie als pra-
ctische Vernunft, oder als Wille eines vernünftigen We-
sens, von ihr selbst als frey angesehen werden; d. i. der
[15]Wille desselben kann nur unter der Idee der Freyheit ein
eigener Wille seyn, und muß also in practischer Absicht
allen vernünftigen Wesen beygelegt werden.

Von dem Interesse,
welches den Ideen der Sittlichkeit
[20]
anhängt.

Wir haben den bestimmten Begriff der Sittlich-
keit auf die Idee der Freyheit zuletzt zurückgeführt; diese
aber konnten wir, als etwas Wirkliches, nicht einmal
in uns selbst und in der menschlichen Natur beweisen; wir
[25]sahen nur, daß wir sie voraussetzen müssen, wenn wir

101 [4:448-449]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Dritter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

uns ein Wesen als vernünftig und mit Bewußtseyn seiner
Caußalität in Ansehung der Handlungen, d. i. mit einem
Willen begabt, uns denken wollen, und so finden wir,
daß wir aus eben demselben Grunde jedem mit Vernunft
[5]und Willen begabten Wesen diese Eigenschaft, sich unter
der Idee seiner Freyheit zum Handeln zu bestimmen, bey-
legen müssen.

Es floß aber aus der Voraussetzung dieser Ideen
auch das Bewußtseyn eines Gesetzes zu handeln: daß die
[10]subjectiven Grundsätze der Handlungen, d. i. Maximen,
jederzeit so genommen werden müssen, daß sie auch ob-
jectiv, d. i. allgemein als Grundsätze, gelten, mithin
zu unserer eigenen allgemeinen Gesetzgebung dienen kön-
nen. Warum aber soll ich mich denn diesem Princip
[15]unterwerfen und zwar als vernünftiges Wesen überhaupt,
mithin auch dadurch alle andere mit Vernunft begabte
Wesen? Ich will einräumen, daß mich hiezu kein In-
teresse treibt, denn das würde keinen categorischen Im-
perativ geben; aber ich muß doch hieran nothwendig ein
[20]Interesse nehmen, und einsehen, wie das zugeht; denn
dieses Sollen ist eigentlich ein Wollen, das unter der
Bedingung für jedes vernünftige Wesen gilt, wenn die
Vernunft bey ihm ohne Hindernisse practisch wäre; für
Wesen, die, wie wir, noch durch Sinnlichkeit, als Trieb-
[25]federn anderer Art, afficirt werden, bey denen es nicht
immer geschieht, was die Vernunft für sich allein thun

102 [4:449]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Dritter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

würde, heißt jene Nothwendigkeit der Handlung nur ein
Sollen, und die subjective Nothwendigkeit wird von der
objectiven unterschieden.

Es scheint also, als setzten wir in der Idee der
[5]Freyheit eigentlich das moralische Gesetz, nemlich das
Princip der Autonomie des Willens selbst, nur voraus,
und könnten seine Realität und objective Nothwendigkeit
nicht für sich beweisen, und da hätten wir zwar noch im-
mer etwas ganz Beträchtliches dadurch gewonnen, daß
[10]wir wenigstens das ächte Princip genauer, als wol sonst
geschehen, bestimmt hätten, in Ansehung seiner Gültig-
keit aber, und der practischen Nothwendigkeit, sich ihm
zu unterwerfen, wären wir um nichts weiter gekommen;
denn wir könnten dem, der uns fragte, warum denn die
[15]Allgemeingültigkeit unserer Maxime, als eines Gesetzes,
die einschränkende Bedingung unserer Handlungen seyn
müsse, und worauf wir den Werth gründen, den wir
dieser Art zu handeln beylegen, der so groß seyn soll, daß
es überall kein höheres Interesse geben kann, und wie es
[20]zugehe, daß der Mensch dadurch allein seinen persönli-
chen Werth zu fühlen glaubt, gegen den der, eines an-
genehmen oder unangenehmen Zustandes, für nichts
zu halten sey, keine genugthuende Antwort geben.

Zwar finden wir wol, daß wir an einer persönli-
[25]chen Beschaffenheit ein Interesse nehmen können, die gar

103 [4:449-450]
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kein Interesse des Zustandes bey sich führt, wenn jene
uns nur fähig macht, des letzteren theilhaftig zu werden,
im Falle die Vernunft die Austheilung desselben bewirken
sollte, d. i. daß die bloße Würdigkeit, glücklich zu seyn,
[5]auch ohne den Bewegungsgrund, dieser Glückseligkeit
theilhaftig zu werden, für sich interessiren könne: aber
dieses Urtheil ist in der That nur die Wirkung von der
schon vorausgesetzten Wichtigkeit moralischer Gesetze,
(wenn wir uns durch die Idee der Freyheit von allem
[10]empirischen Interesse trennen,) aber, daß wir uns von
diesem trennen, d. i. uns als frey im Handeln betrach-
ten, und so uns dennoch für gewissen Gesetzen unterwor-
fen halten sollen, um einen Werth bloß in unserer Per-
son zu finden, der uns allen Verlust dessen, was unse-
[15]rem Zustande einen Werth verschafft, vergüten könne,
und wie dieses möglich sey, mithin woher das morali-
sche Gesetz verbinde, können wir auf solche Art noch
nicht einsehen.

Es zeigt sich hier, man muß es frey gestehen, eine
[20]Art von Cirkel, aus dem, wie es scheint, nicht heraus
zu kommen ist. Wir nehmen uns in der Ordnung der
wirkenden Ursachen als frey an, um uns in der Ord-
nung der Zwecke unter sittlichen Gesetzen zu denken, und
wir denken uns nachher als diesen Gesetzen unterworfen,
[25]weil wir uns die Freyheit des Willens beygelegt haben, denn
Freyheit und eigene Gesetzgebung des Willens sind bei-

104 [4:450]
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des Autonomie, mithin Wechselbegriffe, davon aber
einer eben um deswillen nicht dazu gebraucht werden
kann, um den anderen zu erklären und von ihm Grund
anzugeben, sondern höchstens nur, um, in logischer Ab-
[5]sicht, verschieden scheinende Vorstellungen von eben dem-
selben Gegenstande auf einen einzigen Begriff (wie ver-
schiedne Brüche gleiches Inhalts auf die kleinsten Aus-
drücke,) zu bringen.

Eine Auskunft bleibt uns aber noch übrig, nem-
[10]lich zu suchen: ob wir, wenn wir uns, durch Freyheit,
als a priori wirkende Ursachen denken, nicht einen
anderen Standpunct einnehmen, als wenn wir uns selbst
nach unseren Handlungen als Wirkungen, die wir vor un-
seren Augen sehen, uns vorstellen.

[15]Es ist eine Bemerkung, welche anzustellen eben
kein subtiles Nachdenken erfodert wird, sondern von der
man annehmen kann, daß sie wol der gemeinste Ver-
stand, obzwar, nach seiner Art, durch eine dunkele
Unterscheidung der Urtheilskraft, die er Gefühl nennt,
[20]machen mag: daß alle Vorstellungen, die uns ohne un-
sere Willkühr kommen, (wie die der Sinne,) uns die Ge-
genstände nicht anders zu erkennen geben, als sie uns
afficiren, wobey, was sie an sich seyn mögen, uns un-
bekannt bleibt, mithin daß, was diese Art Vorstellungen
[25]betrifft, wir dadurch, auch bey der angestrengtesten Auf-

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merksamkeit und Deutlichkeit, die der Verstand nur im-
mer hinzufügen mag, doch bloß zur Erkenntniß der Er-
scheinungen, niemals der Dinge an sich selbst ge-
langen können. Sobald dieser Unterschied (allenfalls
[5]bloß durch die bemerkte Verschiedenheit zwischen den Vor-
stellungen, die uns anders woher gegeben werden, und
dabey wir leidend sind, von denen, die wir lediglich aus
uns selbst hervorbringen, und dabey wir unsere Thätigkeit
beweisen,) einmal gemacht ist, so folgt von selbst, daß
[10]man hinter den Erscheinungen doch noch etwas anderes,
was nicht Erscheinung ist, nemlich die Dinge an sich, ein-
räumen und annehmen müsse, ob wir gleich uns von
selbst bescheiden, daß, da sie uns niemals bekannt wer-
den können, sondern immer nur, wie sie uns afficiren,
[15]wir ihnen nicht näher treten, und was sie an sich sind, nie-
mals wissen können. Dieses muß eine, obzwar rohe, Un-
terscheidung einer Sinnenwelt von der Verstandes-
welt abgeben, davon die erstere, nach Verschiedenheit der
Sinnlichkeit in mancherley Weltbeschauern, auch sehr
[20]verschieden seyn kann, indessen die zweyte, die ihr zum
Grunde liegt, immer dieselbe bleibt. So gar sich selbst
und zwar nach der Kenntniß, die der Mensch durch in-
nere Empfindung von sich hat, darf er sich nicht an-
maßen zu erkennen, wie er an sich selbst sey. Denn da
[25]er doch sich selbst nicht gleichsam schafft, und seinen Begriff
nicht a priori, sondern empirisch bekömmt, so ist natür-
lich, daß er auch von sich durch den innern Sinn und

106 [4:451]
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folglich nur durch die Erscheinung seiner Natur, und die
Art, wie sein Bewußtseyn afficirt wird, Kundschaft ein-
ziehen könne, indessen er doch nothwendiger Weise über
diese aus lauter Erscheinungen zusammengesetzte Beschaf-
[5]fenheit seines eigenen Subjects noch etwas anderes zum
Grunde liegendes, nemlich sein Ich, so wie es an sich
selbst beschaffen seyn mag, annehmen, und sich also in
Absicht auf die bloße Wahrnehmung und Empfänglichkeit
der Empfindungen zur Sinnenwelt, in Ansehung dessen
[10]aber, was in ihm reine Thätigkeit seyn mag, (dessen, was
gar nicht durch Afficirung der Sinne, sondern unmit-
telbar zum Bewußtseyn gelangt,) sich zur intellectuellen
Welt zählen muß, die er doch nicht weiter kennt.

Dergleichen Schluß muß der nachdenkende Mensch
[15]von allen Dingen, die ihm vorkommen mögen, fällen;
vermuthlich ist er auch im gemeinsten Verstande anzutref-
fen, der, wie bekannt, sehr geneigt ist, hinter den Ge-
genständen der Sinne noch immer etwas Unsichtbares,
für sich selbst Thätiges, zu erwarten, es aber wiederum
[20]dadurch verdirbt, daß er dieses Unsichtbare sich bald
wiederum versinnlicht, d. i. zum Gegenstande der An-
schauung machen will, und dadurch also nicht um einen
Grad klüger wird.

Nun findet der Mensch in sich wirklich ein Vermö-
[25]gen, dadurch er sich von allen andern Dingen, ja von

107 [4:451-452]
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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Dritter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

sich selbst, so fern er durch Gegenstände afficirt wird,
unterscheidet, und das ist die Vernunft. Diese, als
reine Selbstthätigkeit, ist sogar darin noch über den Ver-
stand erhoben: daß, obgleich dieser auch Selbstthätig-
[5]keit ist, und nicht, wie der Sinn, bloß Vorstellungen
enthält, die nur entspringen, wenn man von Dingen
afficirt (mithin leidend) ist, er dennoch aus seiner Thä-
tigkeit keine andere Begriffe hervorbringen kann, als die,
so bloß dazu dienen, um die sinnlichen Vorstellungen
[10]unter Regeln zu bringen und sie dadurch in einem
Bewußtseyn zu vereinigen, ohne welchen Gebrauch der
Sinnlichkeit er gar nichts denken würde, da hingegen die
Vernunft unter dem Namen der Ideen eine so reine
Spontaneität zeigt, daß er dadurch weit über alles,
[15]was ihm Sinnlichkeit nur liefern kann, hinausgeht, und
ihr vornehmstes Geschäfte darin beweiset, Sinnenwelt
und Verstandeswelt von einander zu unterscheiden, da-
durch aber dem Verstande selbst seine Schranken vor-
zuzeichnen.

[20]Um deswillen muß ein vernünftiges Wesen sich
selbst, als Intelligenz, (also nicht von Seiten seiner
untern Kräfte,) nicht als zur Sinnen-, sondern zur Ver-
standeswelt gehörig, ansehen; mithin hat es zwey Stand-
puncte, daraus es sich selbst betrachten, und Gesetze des
[25]Gebrauchs seiner Kräfte, folglich aller seiner Handlun-
gen, erkennen kann, einmal, so fern es zur Sinnenwelt

108 [4:452]
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gehört, unter Naturgesetzen (Heteronomie), zweytens,
als zur intelligibelen Welt gehörig, unter Gesetzen, die,
von der Natur unabhängig, nicht empirisch, sondern
bloß in der Vernunft gegründet seyn.

[5]Als ein vernünftiges, mithin zur intelligibelen
Welt gehöriges Wesen, kann der Mensch die Caußalität
seines eigenen Willens niemals anders als unter der Idee
der Freyheit denken; denn Unabhängigkeit von den be-
stimmten Ursachen der Sinnenwelt, (dergleichen die Ver-
[10]nunft jederzeit sich selbst beylegen muß,) ist Freyheit.
Mit der Idee der Freyheit ist nun der Begriff der Au-
tonomie unzertrennlich verbunden, mit diesem aber das
allgemeine Princip der Sittlichkeit, welches in der Idee
allen Handlungen vernünftiger Wesen eben so zum
[15]Grunde liegt, als Naturgesetz allen Erscheinungen.

Nun ist der Verdacht, den wir oben rege machten,
gehoben, als wäre ein geheimer Cirkel in unserem
Schlusse aus der Freyheit auf die Autonomie und aus
dieser aufs sittliche Gesetz enthalten, daß wir nemlich
[20]vielleicht die Idee der Freyheit nur um des sittlichen Ge-
setzes willen zum Grunde legten, um dieses nachher aus
der Freyheit wiederum zu schließen, mithin von jenem
gar keinen Grund angeben könnten, sondern es nur als
Erbittung eines Princips, das uns gutgesinnte Seelen
[25]wol gerne einräumen werden, welches wir aber nie-

109 [4:452-453]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
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mals als einen erweislichen Satz aufstellen könnten. Denn
jetzt sehen wir, daß, wenn wir uns als frey denken, so
versetzen wir uns als Glieder in die Verstandeswelt, und
erkennen die Autonomie des Willens, samt ihrer Fol-
[5]ge, der Moralität; denken wir uns aber als verpflichtet,
so betrachten wir uns als zur Sinnenwelt und doch
zugleich zur Verstandeswelt gehörig.

Wie ist ein categorischer Imperativ
möglich?

[10]Das vernünftige Wesen zählt sich als Intelligenz
zur Verstandeswelt, und, bloß als eine zu dieser gehörige
wirkende Ursache, nennt es seine Caußalität einen Wil-
len. Von der anderen Seite ist es sich seiner doch auch
als eines Stücks der Sinnenwelt bewußt, in welcher seine
[15]Handlungen, als bloße Erscheinungen jener Caußalität,
angetroffen werden, deren Möglichkeit aber aus dieser,
die wir nicht kennen, nicht eingesehen werden kann, son-
dern an deren Statt jene Handlungen als bestimmt durch
andere Erscheinungen, nemlich Begierden und Neigun-
[20]gen, als zur Sinnenwelt gehörig, eingesehen werden müssen.
Als bloßen Gliedes der Verstandeswelt würden also alle
meine Handlungen dem Princip der Autonomie des rei-
nen Willens vollkommen gemäß seyn; als bloßen Stücks
der Sinnenwelt würden sie gänzlich dem Naturgesetz der
[25]Begierden und Neigungen, mithin der Heteronomie der

110 [4:453]
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Natur gemäß genommen werden müssen. (Die ersteren
würden auf dem obersten Princip der Sittlichkeit, die
zweyten der Glückseligkeit, beruhen.) Weil aber die
Verstandeswelt den Grund der Sinnenwelt, mit-
[5]hin auch der Gesetze derselben, enthält, also in Anse-
hung meines Willens (der ganz zur Verstandeswelt ge-
hört,) unmittelbar gesetzgebend ist, und also auch als solche
gedacht werden muß, so werde ich mich als Intelligenz,
obgleich andererseits wie ein zur Sinnenwelt gehöriges
[10]Wesen, dennoch dem Gesetze der ersteren, d. i. der Ver-
nunft, die in der Idee der Freyheit das Gesetz derselben
enthält, und also der Autonomie des Willens unterwor-
fen erkennen, folglich die Gesetze der Verstandeswelt für
mich als Imperativen und die diesem Princip gemäße
[15]Handlungen als Pflichten ansehen müssen.

Und so sind categorische Imperativen möglich, da-
durch, daß die Idee der Freyheit mich zu einem Gliede
einer intelligibelen Welt macht, wodurch, wenn ich sol-
ches allein wäre, alle meine Handlungen der Autonomie
[20]des Willens jederzeit gemäß seyn würden, da ich mich
aber zugleich als Glied der Sinnenwelt anschaue, gemäß
seyn sollen, welches categorische Sollen einen syntheti-
schen Satz a priori vorstellt, dadurch, daß über meinen
durch sinnliche Begierden afficirten Willen noch die Idee
[25]ebendesselben, aber zur Verstandeswelt gehörigen, rei-
nen, für sich selbst practischen Willens hinzukommt, wel-

111 [4:453-454]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Dritter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

cher die oberste Bedingung des ersteren nach der Ver-
nunft enthält; ohngefähr so, wie zu den Anschauungen
der Sinnenwelt Begriffe des Verstandes, die für sich
selbst nichts als gesetzliche Form überhaupt bedeuten,
[5]hinzu kommen, und dadurch synthetische Sätze a priori,
auf welchen alle Erkenntniß einer Natur beruht, mög-
lich machen.

Der practische Gebrauch der gemeinen Menschen-
vernunft bestätigt die Richtigkeit dieser Deduction. Es
[10]ist niemand, selbst der ärgste Bösewicht, wenn er nur
sonst Vernunft zu brauchen gewohnt ist, der nicht, wenn
man ihm Beyspiele der Redlichkeit in Absichten, der
Standhaftigkeit in Befolgung guter Maximen, der Theil-
nehmung und des allgemeinen Wohlwollens, (und noch
[15]dazu mit großen Aufopferungen von Vortheilen und Ge-
mächlichkeit verbunden,) vorlegt, nicht wünsche, daß er
auch so gesinnt seyn möchte. Er kann es aber nur we-
gen seiner Neigungen und Antriebe nicht wohl in sich zu
Stande bringen; wobey er dennoch zugleich wünscht, von
[20]solchen ihm selbst lästigen Neigungen frey zu seyn. Er
beweiset hiedurch also, daß er mit einem Willen, der
von Antrieben der Sinnlichkeit frey ist, sich in Gedanken
in eine ganz andere Ordnung der Dinge versetze, als die
seiner Begierden im Felde der Sinnlichkeit, weil er von
[25]jenem Wunsche keine Vergnügung der Begierden, mit-
hin keinen für irgend eine seiner wirklichen oder sonst

112 [4:454]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Dritter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

erdenklichen Neigungen befriedigenden Zustand, (denn
dadurch würde selbst die Idee, welche ihm den Wunsch
ablockt, ihre Vorzüglichkeit einbüßen,) sondern nur einen
größeren inneren Werth seiner Person erwarten kann. Diese
[5]bessere Person glaubt er aber zu seyn, wenn er sich in den
Standpunct eines Gliedes der Verstandeswelt versetzt, dazu
die Idee der Freyheit d. i. Unabhängigkeit von bestimmen-
den Ursachen der Sinnenwelt ihn unwillkührlich nöthigt, und
in welchem er sich eines guten Willens bewußt ist, der
[10]für seinen bösen Willen, als Gliedes der Sinnenwelt,
nach seinem eigenen Geständnisse das Gesetz ausmacht,
dessen Ansehen er kennt, indem er es übertritt. Das
moralische Sollen ist also eigenes nothwendiges Wollen
als Gliedes einer intelligibelen Welt, und wird nur so fern
[15]von ihm als Sollen gedacht, als er sich zugleich wie ein
Glied der Sinnenwelt betrachtet.

Von
der äußersten Grenze
aller practischen Philosophie.

[20]Alle Menschen denken sich dem Willen nach als
frey. Daher kommen alle Urtheile über Handlungen
als solche, die hätten geschehen sollen, ob sie gleich
nicht geschehen sind. Gleichwol ist diese Freyheit kein
Erfahrungsbegriff, und kann es auch nicht seyn, weil er
[25]immer bleibt, obgleich die Erfahrung das Gegentheil

113 [4:454-455]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Dritter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

von denjenigen Foderungen zeigt, die unter Vorausse-
tzung derselben als nothwendig vorgestellt werden. Auf
der anderen Seite ist es eben so nothwendig, daß alles,
was geschieht, nach Naturgesetzen unausbleiblich bestimmt
[5]sey, und diese Naturnothwendigkeit ist auch kein Erfah-
rungsbegriff, eben darum, weil er den Begriff der Noth-
wendigkeit, mithin einer Erkenntniß a priori, bey sich
führet. Aber dieser Begriff von einer Natur wird durch
Erfahrung bestätigt, und muß selbst unvermeidlich voraus-
[10]gesetzt werden, wenn Erfahrung, d. i. nach allgemeinen
Gesetzen zusammenhängende Erkenntniß der Gegenstände
der Sinne, möglich seyn soll. Daher ist Freyheit nur
eine Idee der Vernunft, deren objective Realität an
sich zweifelhaft ist, Natur aber ein Verstandesbegriff,
[15]der seine Realität an Beyspielen der Erfahrung beweiset
und nothwendig beweisen muß.

Ob nun gleich hieraus eine Dialectik der Vernunft
entspringt, da in Ansehung des Willens die ihm beyge-
legte Freyheit mit der Naturnothwendigkeit im Wider-
[20]spruch zu stehen scheint, und, bey dieser Wegescheidung,
die Vernunft in speculativer Absicht den Weg der Na-
turnothwendigkeit viel gebähnter und brauchbarer findet,
als den der Freyheit: so ist doch in practischer Absicht
der Fußsteig der Freyheit der einzige, auf welchem es
[25]möglich ist, von seiner Vernunft bey unserem Thun und
Lassen Gebrauch zu machen; daher wird es der subtilsten

114 [4:455-456]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Dritter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

Philosophie eben so unmöglich, wie der gemeinsten Men-
schenvernunft, die Freyheit wegzuvernünfteln. Diese
muß also wol voraussetzen: daß kein wahrer Wider-
spruch zwischen Freyheit und Naturnothwendigkeit eben-
[5]derselben menschlichen Handlungen angetroffen werde,
denn sie kann eben so wenig den Begriff der Natur, als
den der Freyheit aufgeben.

Indessen muß dieser Scheinwiderspruch wenigstens
auf überzeugende Art vertilgt werden, wenn man gleich,
[10]wie Freyheit möglich sey, niemals begreifen könnte.
Denn, wenn sogar der Gedanke von der Freyheit sich
selbst, oder der Natur, die eben so nothwendig ist, wi-
derspricht, so mußte sie gegen die Naturnothwendigkeit
durchaus aufgegeben werden.

[15]Es ist aber unmöglich, diesem Widerspruch zu entge-
hen, wenn das Subject, was sich frey dünkt, sich selbst
in demselben Sinne, oder in eben demselben Ver-
hältnisse dächte, wenn es sich frey nennt, als wenn es
sich in Absicht auf die nemliche Handlung dem Naturge-
[20]setze unterworfen annimmt. Daher ist es eine unnach-
laßliche Aufgabe der speculativen Philosophie: wenigstens
zu zeigen, daß ihre Täuschung wegen des Widerspruchs
darin beruhe, daß wir den Menschen in einem anderen
Sinne und Verhältnisse denken, wenn wir ihn frey nen-
[25]nen, als wenn wir ihn, als Stück der Natur, dieser

115 [4:456]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Dritter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

ihren Gesetzen für unterworfen halten, und daß beide
nicht allein gar wohl beysammen stehen können, sondern
auch als nothwendig vereinigt, in demselben Subject
gedacht werden müssen, weil sonst nicht Grund angege-
[5]ben werden könnte, warum wir die Vernunft mit einer
Idee belästigen sollten, die, ob sie sich gleich ohne Wi-
derspruch mit einer anderen genugsam bewährten verei-
nigen läßt, dennoch uns in ein Geschäfte verwickelt, wo-
durch die Vernunft in ihrem theoretischen Gebrauche sehr
[10]in die Enge gebracht wird. Diese Pflicht liegt aber bloß
der speculativen Philosophie ob, damit sie der practi-
schen freye Bahn schaffe. Also ist es nicht in das Belie-
ben des Philosophen gesetzt, ob er den scheinbaren Wider-
streit heben, oder ihn unangerührt lassen will; denn im
[15]letzteren Falle ist die Theorie hierüber bonum vacans, in
dessen Besitz sich der Fatalist mit Grunde setzen und alle
Moral aus ihrem ohne Titel besessenem vermeinten Ei-
genthum verjagen kann.

Doch kann man hier noch nicht sagen, daß die
[20]Grenze der practischen Philosophie anfange. Denn jene
Beylegung der Streitigkeit gehört gar nicht ihr zu, son-
dern sie fodert nur von der speculativen Vernunft, daß
diese die Uneinigkeit, darin sie sich in theoretischen Fra-
gen selbst verwickelt, zu Ende bringe, damit practische
[25]Vernunft Ruhe und Sicherheit für äußere Angriffe habe,
die ihr den Boden, worauf sie sich anbauen will, strei-
tig machen könnten.

116 [4:456-457]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Dritter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

Der Rechtsanspruch aber, selbst der gemeinen Men-
schenvernunft, auf Freyheit des Willens, gründet sich auf
das Bewußtseyn und die zugestandene Voraussetzung
der Unabhängigkeit der Vernunft, von bloß subjectiv-
[5]bestimmten Ursachen, die insgesamt das ausmachen,
was bloß zur Empfindung, mithin unter die allgemeine
Benennung der Sinnlichkeit, gehört. Der Mensch, der
sich auf solche Weise als Intelligenz betrachtet, setzt sich
dadurch in eine andere Ordnung der Dinge und in ein
[10]Verhältniß zu bestimmenden Gründen von ganz ande-
rer Art, wenn er sich als Intelligenz mit einem Willen,
folglich mit Caußalität begabt, denkt, als wenn er sich
wie Phänomen in der Sinnenwelt (welches er wirklich
auch ist,) wahrnimmt, und seine Caußalität, äußerer Be-
[15]stimmung nach, Naturgesetzen unterwirft. Nun wird
er bald inne, daß beides zugleich stattfinden könne, ja
sogar müsse. Denn, daß ein Ding in der Erscheinung,
(das zur Sinnenwelt gehörig,) gewissen Gesetzen unter-
worfen ist, von welchen eben dasselbe, als Ding oder
[20]Wesen an sich selbst, unabhängig ist, enthält nicht den
mindesten Widerspruch; daß er sich selbst aber auf diese
zwiefache Art vorstellen und denken müsse, beruht, was
das erste betrifft, auf dem Bewußtseyn seiner selbst als
durch Sinne afficirten Gegenstandes, was das zweyte
[25]anlangt, auf dem Bewußtseyn seiner selbst als Intelli-
genz, d. i. als unabhängig im Vernunftgebrauch von sinnli-
chen Eindrücken, (mithin als zur Verstandeswelt gehörig).

117 [4:457]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
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Daher kommt es, daß der Mensch sich eines Wil-
lens anmaßt, der nichts auf seine Rechnung kommen
läßt, was bloß zu seinen Begierden und Neigungen ge-
hört, und dagegen Handlungen durch sich als möglich, ja
[5]gar als nothwendig, denkt, die nur mit Hintansetzung
aller Begierden und sinnlichen Anreizungen geschehen können.
Die Caußalität derselben liegt in ihm als Intelligenz und
in den Gesetzen der Wirkungen und Handlungen nach
Principien einer intelligibelen Welt, von der er wol
[10]nichts weiter weiß, als daß darin lediglich die Vernunft,
und zwar reine, von Sinnlichkeit unabhängige Vernunft,
das Gesetz gebe, imgleichen da er daselbst nur als In-
telligenz das eigentliche Selbst (als Mensch hingegen nur
Erscheinung seiner selbst) ist, jene Gesetze ihn unmittel-
[15]bar und categorisch angehen, so daß, wozu Neigungen
und Antriebe (mithin die ganze Natur der Sinnenwelt)
anreizen, den Gesetzen seines Wollens, als Intelligenz,
keinen Abbruch thun können, so gar, daß er die erstere
nicht verantwortet und seinem eigentlichen Selbst, d. i.
[20]seinem Willen nicht zuschreibt, wol aber die Nachsicht,
die er gegen sie tragen möchte, wenn er ihnen, zum Nach-
theil der Vernunftgesetze des Willens, Einfluß auf seine
Maximen einräumete.

Dadurch, daß die practische Vernunft sich in eine
[25]Verstandeswelt hinein denkt; überschreitet sie gar nicht
ihre Grenzen, wol aber, wenn sie sich hineinschauen,
hineinempfinden wollte. Jenes ist nur ein negativer

118 [4:457-458]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
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Gedanke, in Ansehung der Sinnenwelt, die der Ver-
nunft in Bestimmung des Willens keine Gesetze giebt, und
nur in diesem einzigen Puncte positiv, daß jene Freyheit,
als negative Bestimmung, zugleich mit einem (positiven)
[5]Vermögen und sogar mit einer Caußalität der Vernunft
verbunden sey, welche wir einen Willen nennen, so zu
handeln, daß das Princip der Handlungen der wesent-
lichen Beschaffenheit einer Vernunftursache, d. i. der
Bedingung der Allgemeingültigkeit der Maxime, als
[10]eines Gesetzes, gemäß sey. Würde sie aber noch ein Ob-
ject des Willens, d. i. eine Bewegursache aus der
Verstandeswelt herholen, so überschritte sie ihre Grenzen,
und maßte sich an, etwas zu kennen, wovon sie nichts
weiß. Der Begriff einer Verstandeswelt ist also nur
[15]ein Standpunct, den die Vernunft sich genöthigt sieht
außer den Erscheinungen zu nehmen, um sich selbst als
practisch zu denken, welches, wenn die Einflüsse der
Sinnlichkeit für den Menschen bestimmend wären, nicht
möglich seyn würde, welches aber doch nothwendig ist,
[20]wofern ihm nicht das Bewußtseyn seiner selbst, als In-
telligenz, mithin als vernünftige und durch Vernunft
thätige, d. i. frey wirkende Ursache, abgesprochen wer-
den soll. Dieser Gedanke führt freylich die Idee einer
anderen Ordnung und Gesetzgebung, als die des Na-
[25]turmechanismus, der die Sinnenwelt trifft, herbey, und
macht den Begriff einer intelligibelen Welt (d. i. das
Ganze vernünftiger Wesen, als Dinge an sich selbst,) noth-

119 [4:458]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
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wendig, aber ohne die mindeste Anmaßung, hier weiter,
als bloß ihrer formalen Bedingung nach, d. i. der All-
gemeinheit der Maxime des Willens, als Gesetze, mithin
der Autonomie des letzteren, die allein mit der Freyheit
[5]desselben bestehen kann, gemäß zu denken; da hinge-
gen alle Gesetze, die auf ein Object bestimmt sind, He-
teronomie geben, die nur an Naturgesetzen angetroffen
werden und auch nur die Sinnenwelt treffen kann.

Aber alsdenn würde die Vernunft alle ihre Grenze
[10]überschreiten, wenn sie es sich zu erklären unterfinge,
wie reine Vernunft practisch seyn könne, welches völlig
einerley mit der Aufgabe seyn würde, zu erklären, wie
Freyheit möglich sey.

Denn wir können nichts erklären, als was wir auf
[15]Gesetze zurückführen können, deren Gegenstand in irgend
einer möglichen Erfahrung gegeben werden kann. Frey-
heit aber ist eine bloße Idee, deren objective Realität
auf keine Weise nach Naturgesetzen, mithin auch nicht
in irgend einer möglichen Erfahrung, dargethan werden
[20]kann, die also darum, weil ihr selbst niemals nach ir-
gend einer Analogie ein Beyspiel untergelegt werden mag,
niemals begriffen, oder auch nur eingesehen werden kann.
Sie gilt nur als nothwendige Voraussetzung der Ver-
nunft in einem Wesen, das sich eines Willens, d. i. ei-
[25]nes vom bloßen Begehrungsvermögen noch verschiedenen
Vermögens, (nemlich sich zum Handeln als Intelligenz,
mithin nach Gesetzen der Vernunft, unabhängig von

120 [4:458-459]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Dritter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

Naturinstincten, zu bestimmen,) bewußt zu seyn glaubt.
Wo aber Bestimmung nach Naturgesetzen aufhört, da
hört auch alle Erklärung auf, und es bleibt nichts übrig,
als Vertheidigung, d. i. Abtreibung der Einwürfe de-
[5]rer, die tiefer in das Wesen der Dinge geschaut zu ha-
ben vorgeben, und darum die Freyheit dreust vor unmög-
lich erklären. Man kann ihnen nur zeigen, daß der
vermeintlich von ihnen darin entdeckte Widerspruch nir-
gend anders liege, als darin, daß, da sie, um das
[10]Naturgesetz in Ansehung menschlicher Handlungen gel-
tend zu machen, den Menschen nothwendig als Erschei-
nung betrachten mußten, und nun, da man von ihnen
fodert, daß sie ihn als Intelligenz auch als Ding
an sich selbst, denken sollten, sie ihn immer auch da noch
[15]als Erscheinung betrachten, wo denn freylich die Abson-
derung seiner Caußalität (d. i. seines Willens) von allen
Naturgesetzen der Sinnenwelt in einem und demselben
Subjecte im Widerspruche stehen würde, welcher aber
wegfällt, wenn sie sich besinnen, und, wie billig, einge-
[20]stehen wollten, daß hinter den Erscheinungen doch die
Sachen an sich selbst (obzwar verborgen,) zum Grunde
liegen müssen, von deren Wirkungsgesetzen man nicht ver-
langen kann, daß sie mit denen einerley seyn sollten, un-
ter denen ihre Erscheinungen stehen.

[25]Die subjective Unmöglichkeit, die Freyheit des
Willens zu erklären, ist mit der Unmöglichkeit, ein In-

121 [4:459]
Ganz Nach ObenInhaltsverzeichnis
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten · Dritter Abschnitt · Zweyte Auflage (unverbessert) 1786

teresse *) ausfindig und begreiflich zu machen, welches
der Mensch an moralischen Gesetzen nehmen könne, einer-
ley; und gleichwol nimmt er wirklich daran ein Inter-
esse, wozu wir die Grundlage in uns das moralische Ge-
[5]fühl nennen, welches fälschlich für das Richtmaaß un-
serer sittlichen Beurtheilung von einigen ausgegeben wor-
den, da es vielmehr als die subjective Wirkung, die
das Gesetz auf den Willen ausübt, angesehen werden muß,
wozu Vernunft allein die objectiven Gründe hergiebt.

[10]Um das zu wollen, wozu die Vernunft allein dem
sinnlich-afficirten vernünftigen Wesen das Sollen vor-
schreibt, dazu gehört freylich ein Vermögen der Vernunft,
ein Gefühl der Lust oder des Wohlgefallens an der
Erfüllung der Pflicht einzuflößen, mithin eine Caußali-

[15]*) Interesse ist das, wodurch Vernunft practisch, d. i. eine den
Willen bestimmende Ursache wird. Daher sagt man nur von
einem, vernünftigen Wesen, daß es woran ein Interesse nehme,
vernunftlose Geschöpfe fühlen nur sinnliche Antriebe. Ein un-
mittelbares Interesse nimmt die Vernunft nur alsdenn an der
[20]Handlung, wenn die Allgemeingültigkeit der Maxime derselben
ein gnugsamer Bestimmungsgrund des Willens ist. Ein solches
Interesse ist allein rein. Wenn sie aber den Willen nur vermittelst
eines anderen Objects des Begehrens, oder unter Voraussetzung
eines besonderen Gefühls des Subjects bestimmen kann, so nimmt
[25]die Vernunft nur ein mittelbares Interesse an der Handlung, und,
da Vernunft für sich allein weder Objecte des Willens, noch ein
besonderes ihm zu Grunde liegendes Gefühl ohne Erfahrung
ausfindig machen kann, so würde das letztere Interesse nur
empirisch und kein reines Vernunftinteresse seyn. Das logische
[30]Interesse der Vernunft (ihre Einsichten zu befördern,) ist niemals
unmittelbar, sondern setzt Absichten ihres Gebrauchs voraus.


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tät derselben, die Sinnlichkeit ihren Principien gemäß
zu bestimmen. Es ist aber gänzlich unmöglich, einzusehen,
d. i. a priori begreiflich zu machen, wie ein bloßer Ge-
danke, der selbst nichts Sinnliches in sich enthält, eine
[5]Empfindung der Lust oder Unlust hervorbringe; denn
das ist eine besondere Art von Caußalität, von der, wie
von aller Caußalität, wir gar nichts a priori bestimmen
können, sondern darum allein die Erfahrung befragen
müssen. Da diese aber kein Verhältniß der Ursache zur
[10]Wirkung, als zwischen zwey Gegenständen der Erfahrung,
an die Hand geben kann, hier aber reine Vernunft durch
bloße Ideen (die gar keinen Gegenstand für Erfahrung
abgeben,) die Ursache von einer Wirkung, die freylich in
der Erfahrung liegt, seyn soll, so ist die Erklä-
[15]rung, wie und warum uns die Allgemeinheit der Maxi-
me als Gesetzes, mithin die Sittlichkeit, interessire, uns
Menschen gänzlich unmöglich. So viel ist nur gewiß:
daß es nicht darum für uns Gültigkeit hat, weil es in-
teressirt, (denn das ist Heteronomie und Abhängigkeit
[20]der practischen Vernunft von Sinnlichkeit, nemlich einem
zum Grunde liegenden Gefühl, wobey sie niemals sittlich
gesetzgebend seyn könnte,) sondern daß es interessirt, weil
es für uns als Menschen gilt, da es aus unserem Willen
als Intelligenz, mithin aus unserem eigentlichen Selbst,
[25]entsprungen ist; was aber zur bloßen Erscheinung
gehört, wird von der Vernunft nothwendig der Be-
schaffenheit der Sache an sich selbst untergeordnet.

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Die Frage also: wie ein categorischer Imperativ
möglich sey, kann zwar so weit beantwortet werden, als
man die einzige Voraussetzung angeben kann, unter der
er allein möglich ist, nemlich die Idee der Freyheit, im-
[5]gleichen als man die Nothwendigkeit dieser Voraussetzung
einsehen kann, welches zum practischen Gebrauche der
Vernunft, d. i. zur Ueberzeugung von der Gültigkeit
dieses Imperativs, mithin auch des sittlichen Gesetzes,
hinreichend ist, aber wie diese Voraussetzung selbst mög-
[10]lich sey, läßt sich durch keine menschliche Vernunft jemals
einsehen. Unter Voraussetzung der Freyheit des Willens
einer Intelligenz aber ist die Autonomie desselben, als
die formale Bedingung, unter der er allein bestimmt wer-
den kann, eine nothwendige Folge. Diese Freyheit des
[15]Willens vorauszusetzen, ist auch, nicht allein (ohne in
Widerspruch mit dem Princip der Naturnothwendigkeit
in der Verknüpfung der Erscheinungen der Sinnenwelt zu
gerathen,) ganz wohl möglich, (wie die speculative
Philosophie zeigen kann,) sondern auch sie practisch, d. i.
[20]in der Idee allen seinen willkührlichen Handlungen, als
Bedingung, unterzulegen, ist einem vernünftigen Wesen,
das sich seiner Caußalität durch Vernunft, mithin eines
Willens (der von Begierden unterschieden ist,) bewußt ist,
ohne weitere Bedingung nothwendig. Wie nun aber
[25]reine Vernunft, ohne andere Triebfedern, die irgend
woher sonsten genommen seyn mögen, für sich selbst pra-
ctisch seyn, d. i. wie das bloße Princip der Allgemein-

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gültigkeit aller ihrer Maximen als Gesetze, (welches
freylich die Form einer reinen practischen Vernunft seyn
würde,) ohne alle Materie (Gegenstand) des Willens,
woran man zum voraus irgend ein Interesse nehmen dür-
[5]fe, für sich selbst eine Triebfeder abgeben, und ein Inter-
esse, welches rein moralisch heißen würde, bewirken,
oder mit anderen Worten: wie reine Vernunft pra-
ctisch seyn könne, das zu erklären, dazu ist alle mensch-
liche Vernunft gänzlich unvermögend, und alle Mühe und
[10]Arbeit, hievon Erklärung zu suchen, ist verlohren.

Es ist eben dasselbe, als ob ich zu ergründen suchte,
wie Freyheit selbst als Caußalität eines Willens möglich
sey. Denn da verlasse ich den philosophischen Erklärungs-
grund, und habe keinen anderen. Zwar könnte ich nun
[15]in der intelligibelen Welt, die mir noch übrig bleibt, in
der Welt der Intelligenzen herumschwärmen; aber, ob ich
gleich davon eine Idee habe, die ihren guten Grund hat,
so habe ich doch von ihr nicht die mindeste Kenntniß,
und kann auch zu dieser durch alle Bestrebung meines
[20]natürlichen Vernunftvermögens niemals gelangen. Sie
bedeutet nur ein Etwas, das da übrig bleibt, wenn ich
alles, was zur Sinnenwelt gehöret, von den Bestim-
mungsgründen meines Willens ausgeschlossen habe, bloß
um das Princip der Bewegursachen aus dem Felde der
[25]Sinnlichkeit einzuschränken, dadurch, daß ich es begrenze,
und zeige, daß es nicht Alles in Allem in sich fasse, son-
dern daß außer ihm noch mehr sey; dieses Mehrere aber

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kenne ich nicht weiter. Von der reinen Vernunft, die
dieses Ideal denkt, bleibt nach Absonderung aller Mate-
rie, d. i. Erkenntniß der Objecte, mir nichts, als die Form
übrig, nemlich das practische Gesetz der Allgemeingültig-
[5]keit der Maximen, und, diesem gemäß, die Vernunft
in Beziehung auf eine reine Verstandeswelt als mögliche
wirkende, d. i. als den Willen bestimmende, Ursache zu
denken; die Triebfeder muß hier gänzlich fehlen; es müßte
denn diese Idee einer intelligibelen Welt selbst die Triebfeder,
[10]oder dasjenige seyn, woran die Vernunft ursprünglich
ein Interesse nähme; welches aber begreiflich zu machen
gerade die Aufgabe ist, die wir nicht auflösen können.

Hier ist nun die oberste Grenze aller moralischen
Nachforschung; welche aber zu bestimmen, auch schon dar-
[15]um von großer Wichtigkeit ist, damit die Vernunft nicht
einerseits in der Sinnenwelt, auf eine den Sitten schäd-
liche Art, nach der obersten Bewegursache und einem be-
greiflichen aber empirischen Interesse herumsuche, anderer
Seits aber, damit sie auch nicht in dem für sie leeren
[20]Raum transscendenter Begriffe, unter dem Namen der
intelligibelen Welt, kraftlos ihre Flügel schwinge, ohne
von der Stelle zu kommen, und sich unter Hirngespinsten
verliere. Uebrigens bleibt die Idee einer reinen Verstan-
deswelt, als eines Ganzen aller Intelligenzen, wozu wir
[25]selbst, als vernünftige Wesen, (obgleich andererseits
zugleich Glieder der Sinnenwelt,) gehören, immer eine
brauchbare und erlaubte Idee zum Behufe eines vernünf-

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tigen Glaubens, wenn gleich alles Wissen an der Grenze
derselben ein Ende hat, um durch das herrliche Ideal
eines allgemeinen Reichs der Zwecke an sich selbst, (ver-
nünftiger Wesen,) zu welchen wir nur alsdann als Glie-
[5]der gehören können, wenn wir uns nach Maximen der
Freyheit, als ob sie Gesetze der Natur wären, sorgfältig
verhalten, ein lebhaftes Interesse an dem moralischen
Gesetze in uns zu bewirken.

Schlußanmerkung.

[10]Der speculative Gebrauch der Vernunft, in Anse-
hung der Natur, führt auf absolute Nothwendigkeit
irgend einer obersten Ursache der Welt; der practische
Gebrauch der Vernunft, in Absicht auf die Freyheit,
führt auch auf absolute Nothwendigkeit, aber nur der
[15]Gesetze der Handlungen eines vernünftigen Wesens,
als eines solchen. Nun ist es ein wesentliches Princip
alles Gebrauchs unserer Vernunft, ihr Erkenntniß bis zum
Bewußtseyn ihrer Nothwendigkeit zu treiben, (denn
ohne diese wäre sie nicht Erkenntniß der Vernunft). Es
[20]ist aber auch eine eben so wesentliche Einschränkung
eben derselben Vernunft, daß sie weder die Nothwen-
digkeit dessen, was da ist, oder was geschieht, noch des-
sen, was geschehen soll, einsehen kann, wenn nicht eine
Bedingung, unter der es da ist, oder geschieht, oder
[25]geschehen soll, zum Grunde gelegt wird. Auf diese Weise
aber wird durch die beständige Nachfrage nach der Be-

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digung, die Befriedigung der Vernunft nur immer wei-
ter aufgeschoben. Daher sucht sie rastlos das Unbedingt-
nothwendige, und sieht sich genöthigt, es anzunehmen, ohne
irgend ein Mittel, es sich begreiflich zu machen; glücklich
[5]gnug, wenn sie nur den Begriff ausfindig machen kann,
der sich mit dieser Voraussetzung verträgt. Es ist also
kein Tadel für unsere Deduction des obersten Princips
der Moralität, sondern ein Vorwurf, den man der
menschlichen Vernunft überhaupt machen müßte, daß sie
[10]ein unbedingtes practisches Gesetz (dergleichen der cate-
gorische Imperativ seyn muß,) seiner absoluten Nothwen-
digkeit nach nicht begreiflich machen kann; denn, daß sie
dieses nicht durch eine Bedingung, nemlich vermittelst
irgend eines zum Grunde gelegten Interesse, thun will,
[15]kann ihr nicht verdacht werden, weil es alsdenn kein mo-
ralisches, d. i. oberstes Gesetz der Freyheit, seyn würde.
Und so begreifen wir zwar nicht die practische unbedingte
Nothwendigkeit des moralischen Imperativs, wir begrei-
fen aber doch seine Unbegreiflichkeit, welches alles ist,
[20]was billigermaßen von einer Philosophie, die bis zur
Grenze der menschlichen Vernunft in Principien strebt,
gefodert werden kann.


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