Grundlegung

 
 
zur
 
 

Metaphysik

 
 

der Sitten

 
 
von
 
 

Immanuel Kant.

 
 
 
 
 Riga, 
     bey Johann Friedrich Hartknoch     
 1785. 
 

Inhaltsverzeichnis

Grundlegung · Vorrede · Erste Auflage 1785
 

Vorrede.

  
Die alte griechische Philosophie theilte sich  
in drey Wissenschaften ab: Die Phy-  
sik, die Ethik und die Logik.  
 [5]  Diese Eintheilung ist der Natur der Sache  
vollkommen angemessen und man hat an ihr  
nichts zu verbessern, als etwa nur das Prinzip  
derselben hinzu zu thun, um sich auf solche Art  
theils ihrer Vollständigkeit zu versichern, theils  
 [10]  die nothwendige Unterabtheilungen richtig be-  
stimmen zu können.  
     Alle Vernunfterkenntnis ist entweder ma-  
terial und betrachtet irgend ein Objekt, oder  
formal, und beschäftigt sich blos mit der Form  
 [15]  des Verstandes und der Vernunft selbst und  
den allgemeinen Regeln des Denkens überhaupt,  
ohne Unterschied der Objekte. Die formale  
Philosophie heißt Logik, die materiale aber,  
    
 
iii [4:387]
        

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Grundlegung · Vorrede · Erste Auflage 1785
 
welche es mit bestimmten Gegenständen und  
den Gesetzen zu thun hat, denen sie unterwor-  
fen sind, ist wiederum zwiefach. Denn diese  
Gesetze sind entweder Gesetze der Natur, oder  
 [5]  der Freiheit. Die Wissenschaft von der ersten  
heißt Physik, die der andern ist Ethik;  
jene wird auch Naturlehre, diese Sittenlehre  
genannt.  
     Die Logik kann keinen empirischen Theil  
 [10]  haben, d. i. einen solchen, da die allgemeinen  
und nothwendigen Gesetze des Denkens auf  
Gründen beruheten, die von der Erfahrung her-  
genommen wären; denn sonst wäre sie nicht  
Logik, d. i. ein Canon für den Verstand, oder  
 [15]  die Vernunft, der bey allem Denken gilt und  
demonstrirt werden muß. Dagegen können  
so wohl die natürliche, als sittliche Weltweis-  
heit, jede ihren empirischen Theil haben, weil  
jene der Natur, als einem Gegenstande der  
 [20]  Erfahrung, diese aber dem Willen des Men-  
schen, so fern er durch die Natur afficirt wird,  
ihre Gesetze bestimmen muß, die erstern zwar  
als Gesetze, nach denen alles geschieht, die  
    
 
iv [4:387-388]
        

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zweyten als solche, nach denen alles geschehen soll,  
aber doch auch mit Erwägung der Bedingun-  
gen, unter denen es öfters nicht geschieht.  
     Man kann alle Philosophie, so fern sie  
 [5]  sich auf Gründe der Erfahrung fußt, empiri-  
sche, die aber, so lediglich aus Prinzipien a  
priori ihre Lehren vorträgt, reine Philosophie  
nennen. Die letztere, wenn sie blos formal  
ist, heißt Logik, ist sie aber auf bestimmte Ge-  
 [10]  genstände des Verstandes eingeschränkt, heißt  
Metaphysik.  
     Auf solche Weise entspringt die Idee einer  
zwiefachen Metaphysik, einer Metaphysik der  
Natur und einer Metaphysik der Sitten.  
 [15]  Die Physik wird also ihren empirischen, aber  
auch einen rationalen Theil haben, die Ethik  
gleichfalls; wiewohl hier der empirische Theil  
besonders praktische Anthropologie, der ra-  
tionale aber eigentlich Moral heißen könnte.  
 [20]       Alle Gewerbe, Handwerke und Künste,  
haben durch die Vertheilung der Arbeiten ge-  
    
 
v [4:388]
        

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wonnen, da nämlich nicht einer alles macht,  
sondern jeder sich auf gewisse Arbeit, die sich  
ihrer Behandlungsweise nach, von andern  
merklich unterscheidet, einschränkt, um sie in  
 [5]  der größten Vollkommenheit und mit mehrerer  
Leichtigkeit leisten zu können. Wo die Arbei-  
ten so nicht unterschieden und vertheilt werden,  
wo jeder ein Tausendkünstler ist, da liegen die  
Gewerbe noch in der größten Barbarey. Aber  
 [10]  ob dieses zwar für sich ein der Erwägung nicht  
unwürdiges Objekt wäre, zu fragen: ob die  
reine Philosophie in allen ihren Theilen nicht  
ihren besondern Mann erheische und es um  
das Ganze des gelehrten Gewerbes nicht besser  
 [15]  stehen würde, wenn die, so das Empirische mit  
dem Rationalen, dem Geschmacke des Publi-  
cums gemäß, nach allerley ihnen selbst unbe-  
kannten Verhältnissen gemischt, zu verkaufen  
gewohnt sind, die sich Selbstdenker, andere  
 [20]  aber, die den blos rationalen Theil zubereiten,  
Grübler nennen, gewarnt würden, nicht zwey  
Geschäfte zugleich zu treiben, die in der Art, sie  
zu behandeln, gar sehr verschieden sind, zu de-  
ren jedem vielleicht ein besonderes Talent erfo-  
    
 
vi [4:388]
        

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dert wird und deren Verbindung in einer Per-  
son nur Stümper hervorbringt: so frage ich  
hier doch nur, ob nicht die Natur der Wissen-  
schaft es erfodere, den empirischen von dem  
 [5]  rationalen Theil jederzeit sorgfältig abzusondern  
und vor der eigentlichen (empirischen) Physik  
eine Metaphysik der Natur, vor der praktischen  
Anthropologie aber eine Metaphysik der Sitten  
voran zu schicken, die von allem empirischen  
 [10]  sorgfältig gesäubert seyn müßte, um zu wissen,  
wie viel reine Vernunft in beiden Fällen leisten  
könne und aus welchen Quellen sie selbst diese  
ihre Belehrung a priori schöpfe, es mag übri-  
gens das letztere Geschäfte von allen Sittenleh-  
 [15]  rern, (deren Nahme Legion heißt) oder nur  
von einigen, die Beruf dazu fühlen, getrieben  
werden.  
     Da meine Absicht hier eigentlich auf die  
sittliche Weltweisheit gerichtet ist, so schränke  
 [20]  ich die vorgelegte Frage nur darauf ein: ob  
man nicht meyne, daß es von der äußersten  
Nothwendigkeit sey, einmal eine reine Moral-  
philosophie zu bearbeiten, die von allem, was  
    
 
vii [4:388-389]
        

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nur empirisch seyn mag und zur Anthropologie  
gehört, völlig gesäubert wäre; denn, daß es eine  
solche geben müsse, leuchtet von selbst aus der  
gemeinen Idee der Pflicht und der sittlichen Ge-  
 [5]  setze ein. Jedermann muß eingestehen: daß  
ein Gesetz, wenn es moralisch, d. i. als Grund  
einer Verbindlichkeit, gelten soll, absolute  
Nothwendigkeit bey sich führen müsse, daß das  
Gebot: du sollt nicht lügen, nicht etwa blos  
 [10]  für Menschen gelte, andere vernünftige Wesen  
sich aber daran nicht zu kehren hätten, und so  
alle übrige eigentliche Sittengesetze, daß mithin  
der Grund der Verbindlichkeit hier nicht in der  
Natur des Menschen, oder den Umständen in  
 [15]  der Welt, darin er gesetzt ist, gesucht werden  
müsse, sondern a priori lediglich in Begriffen  
der reinen Vernunft, und daß jede andere Vor-  
schrift, die sich auf Prinzipien der bloßen Er-  
fahrung gründet und sogar eine, in gewissen  
 [20]  Betracht allgemeine Vorschrift, so fern sie sich  
dem mindesten Theile, vielleicht nur einem Be-  
wegungsgrunde nach, auf empirische Gründe  
stützt, zwar eine practische Regel, niemals aber  
ein moralisches Gesetz heißen kann.  
    
 
viii [4:389]
        

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     Also unterscheiden sich die moralischen Ge-  
setze, samt ihren Prinzipien, unter allem prak-  
tischen Erkenntnisse von allem übrigen, darinn  
irgend etwas Empirisches ist, nicht allein we-  
 [5]  sentlich, sondern alle Moralphilosophie beruht  
gänzlich auf ihrem reinen Theil und, auf den  
Menschen angewandt, entlehnt sie nicht das  
mindeste von der Kenntnis desselben, (Anthro-  
pologie), sondern giebt ihm, als vernünftigem  
 [10]  Wesen, Gesetze a priori, die freilich noch durch  
Erfahrung geschärfte Urtheilskraft erfodern, um  
theils zu unterscheiden, in welchen Fällen sie  
ihre Anwendung haben, theils ihnen Eingang  
in den Willen des Menschen und Nachdruck zur  
 [15]  Ausübung zu verschaffen, da diese, als selbst  
mit so viel Neigungen afficirt, der Idee einer  
praktischen reinen Vernunft zwar fähig, aber  
nicht so leicht vermögend ist, sie in seinem Le-  
benswandel in concreto wirksam zu machen.  
 [20]       Eine Metaphysik der Sitten ist also un-  
entbehrlich nothwendig, nicht blos aus einem  
Bewegungsgrunde der Speculation, um die  
Quelle der a priori in unser Vernunft liegen-  
    
 
ix [4:389-390]
        

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den praktischen Grundsätze zu erforschen, son-  
dern weil die Sitten selber allerley Verderbnis  
unterworfen bleiben, so lange jener Leitfaden  
und oberste Norm ihrer richtigen Beurtheilung  
 [5]  fehlt. Denn bey dem, was moralisch gut  
seyn soll, ist es nicht genug, daß es dem sittli-  
chen Gesetze gemäß sey, sondern es muß auch  
um desselben willen geschehen; widrigenfalls  
ist jene Gemäßheit nur sehr zufällig und mis-  
 [10]  lich, weil der unsittliche Grund zwar dann und  
wann gesetzmäßige, mehrmalen aber gesetzwi-  
drige Handlungen hervorbringen wird. Nun  
ist aber das sittliche Gesetz, in seiner Reinigkeit  
und Aechtheit (woran eben im Praktischen am  
 [15]  meisten gelegen ist), nirgend anders, als in einer  
reinen Philosophie zu suchen, also muß diese  
(Metaphysik) vorangehen und ohne sie kann es  
überall keine Moralphilosophie geben; selbst ver-  
dient diejenige, welche jene reine Prinzipien  
 [20]  unter die empirischen mischt, den Nahmen einer  
Philosophie nicht, (denn dadurch unterscheidet  
diese sich eben vom gemeinen Vernunfterkennt-  
nisse, daß sie, was diese nur vermengt be-  
greift, in abgesonderter Wissenschaft vorträgt),  
    
 
x [4:390]
        

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viel weniger einer Moralphilosophie, weil sie  
eben durch diese Vermengung so gar der Rei-  
nigkeit der Sitten selbst Abbruch thut und ihrem  
eigenen Zwecke zuwider verfährt.  
 [5]       Man denke doch ja nicht, daß man das,  
was hier gefodert wird, schon an der Propä-  
devtik des berühmten Wolf vor seiner Moral-  
philosophie, nämlich der von ihm so genannten  
allgemeinen praktischen Weltweisheit habe  
 [10]  und hier also nicht eben ein ganz neues Feld  
einzuschlagen sey. Eben darum, weil sie eine  
allgemeine praktische Weltweisheit seyn sollte,  
hat sie keinen Willen von irgend einer beson-  
dern Art, etwa einen solchen, der ohne alle  
 [15]  empirische Bewegungsgründe, völlig aus Prin-  
zipien a priori, bestimmt werde und den man  
einen reinen Willen nennen könnte, sondern  
das Wollen überhaupt in Betrachtung gezogen,  
mit allen Handlungen und Bedingungen, die  
 [20]  ihm in dieser allgemeinen Bedeutung zukom-  
men und dadurch unterscheidet sie sich von einer  
Metaphysik der Sitten, eben so wie die allge-  
meine Logik von der Transscendentalphiloso-  
    
 
xi [4:390]
        

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phie, von denen die erstere die Handlungen  
und Regeln des Denkens überhaupt, diese  
aber blos die besondern Handlungen und Re-  
geln des reinen Denkens, d. i. desjenigen,  
 [5]  wodurch Gegenstände völlig a priori erkannt  
werden, vorträgt. Denn die Metaphysik der  
Sitten soll die Idee und die Prinzipien eines  
möglichen reinen Willens untersuchen und  
nicht die Handlungen und Bedingungen des  
 [10]  menschlichen Wollens überhaupt, welche größ-  
tentheils aus der Psychologie geschöpft werden.  
Daß in der allgemeinen practischen Weltweis-  
heit (wiewohl wider alle Befugnis), auch von  
moralischen Gesetzen und Pflicht geredet wird,  
 [15]  macht keinen Einwurf wider meine Behaup-  
tung aus. Denn die Verfasser jener Wissen-  
schaft bleiben ihrer Idee von derselben auch  
hierin treu; sie unterscheiden nicht die Bewe-  
gungsgründe, die, als solche, völlig a priori  
 [20]  blos durch Vernunft vorgestellt werden und ei-  
gentlich moralisch sind, von den empirischen, die  
der Verstand blos durch Vergleichung der Er-  
fahrungen zu allgemeinen Begriffen erhebt,  
sondern betrachten sie, ohne auf den Unterschied  
    
 
xii [4:390-391]
        

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Grundlegung · Vorrede · Erste Auflage 1785
 
ihrer Quellen zu achten, nur nach der grösseren  
oder kleineren Summe derselben, (indem sie al-  
le als gleichartig angesehen werden), und ma-  
chen sich dadurch ihren Begriff von Verbind-  
 [5]  lichkeit, der freylich nichts weniger als mora-  
lisch, aber doch so beschaffen ist, als es in einer  
Philosophie, die über den Ursprung aller mög-  
lichen practischen Begriffe, ob sie auch a priori,  
oder blos a posteriori statt finden, gar nicht ur-  
 [10]  theilt, nur verlangt werden kan.  
     Im Vorsatze nun, eine Metaphysik der  
Sitten dereinst zu liefern, lasse ich diese Grund-  
legung voran gehen. Zwar giebt es eigentlich  
keine andere Grundlage derselben, als die Cri-  
 [15]  tik einer reinen practischen Vernunft, so  
wie zur Metaphysik die schon gelieferte Critik  
der reinen speculativen Vernunft. Allein, theils  
ist jene nicht von so äußerster Nothwendigkeit,  
als diese, weil die menschliche Vernunft im  
 [20]  Moralischen, selbst beym gemeinsten Verstan-  
de, leicht zu grosser Richtigkeit und Ausführ-  
lichkeit gebracht werden kann, da sie hingegen im  
theoretischen, aber reinen Gebrauch, ganz und  
    
 
xiii [4:391]
        

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Grundlegung · Vorrede · Erste Auflage 1785
 
gar dialectisch ist: theils erfodere ich zur Critik  
einer reinen practischen Vernunft, daß, wenn  
sie vollendet seyn soll, ihre Einheit mit der  
der speculativen in einem gemeinschaftlichen  
 [5]  Prinzip zugleich müsse dargestellt werden kön-  
nen; weil es doch am Ende nur eine und die-  
selbe Vernunft seyn kann, die blos in der An-  
wendung unterschieden seyn muß. Zu einer  
solchen Vollständigkeit konnte ich es aber hier  
 [10]  noch nicht bringen, ohne Betrachtungen von  
ganz anderer Art herbey zu ziehen und den Le-  
ser zu verwirren. Um deswillen habe ich mich,  
statt der Benennung einer Critik der reinen  
practischen Vernunft, der von einer Grund-  
 [15]  legung zur Metaphysik der Sitten bedient.  
     Weil aber drittens auch eine Metaphysik  
der Sitten, unerachtet des abschreckenden Ti-  
tels, dennoch eines grossen Grades der Popu-  
larität und Angemessenheit zum gemeinen Ver-  
 [20]  stande fähig ist, so finde ich für nützlich, diese  
Vorarbeitung der Grundlage davon abzuson-  
dern, um das Subtile, was darin unvermeid-  
lich ist, künftig nicht faßlichern Lehren beyfügen  
zu dürfen.  
    
 
xiv [4:391-392]
        

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Grundlegung · Vorrede · Erste Auflage 1785
 
     Gegenwärtige Grundlegung ist aber  
nichts mehr, als die Aufsuchung und Festse-  
tzung des obersten Prinzips der Moralität,  
welche allein ein, in seiner Absicht, ganzes und  
 [5]  von aller anderen sittlichen Untersuchung abzu-  
sonderndes Geschäfte ausmacht. Zwar wür-  
den meine Behauptungen, über diese wichtige  
und bisher bey weitem noch nicht zur Gnug-  
thuung erörterte Hauptfrage, durch Anwendung  
 [10]  desselben Prinzips auf das ganze System, viel  
Licht und, durch die Zulänglichkeit, die es al-  
lenthalben blicken läßt, große Bestätigung er-  
halten: allein ich mußte mich dieses Vortheils  
begeben, der auch im Grunde mehr eigenliebig,  
 [15]  als gemeinnützig seyn würde, weil die Leichtig-  
keit im Gebrauche und die scheinbare Zuläng-  
lichkeit eines Prinzips keinen ganz sicheren Be-  
weis von der Richtigkeit desselben abgiebt, viel-  
mehr eine gewisse Partheylichkeit erweckt, es  
 [20]  nicht für sich selbst, ohne alle Rücksicht auf die  
Folge, nach aller Strenge zu untersuchen und  
zu wägen.  
     Ich habe meine Methode in dieser Schrift  
so genommen, wie ich glaube, daß sie die schick-  
    
 
xv [4:392]
        

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Grundlegung · Vorrede · Erste Auflage 1785
 
lichste sey, wenn man vom gemeinen Erkennt-  
nisse zur Bestimmung des obersten Prinzips  
derselben analytisch und wiederum zurück von  
der Prüfung dieses Prinzips und den Quellen  
 [5]  desselben zur gemeinen Erkenntnis, darinn sein  
Gebrauch angetroffen wird, synthetisch den  
Weg nehmen will. Die Eintheilung ist daher  
so ausgefallen:  
     1. Erster Abschnitt: Uebergang von der  
 [10]          gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis  
        zur philosophischen.  
     2. Zweyter Abschnitt: Uebergang von der  
        populären Moralphilosophie zur Metaphy-  
        sik der Sitten.  
 [15]       3. Dritter Abschnitt: Letzter Schritt von  
        der Metaphysik der Sitten zur Critik der  
        reinen practischen Vernunft.  
 
 

  
    
 
xvi [4:392]
        

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Grundlegung · Erster Abschnitt · Erste Auflage 1785
 

Erster Abschnitt.

  
Uebergang  
von der gemeinen sittlichen Vernunfterkennt-  
niß zur philosophischen.

  
 [5]  Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt  
auch außer derselben zu denken möglich, was  
ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als  
allein ein guter Wille. Verstand, Witz, Urtheils-  
kraft und wie die Talente des Geistes sonst heissen mö-  
 [10]  gen, oder Muth, Entschlossenheit, Beharrlichkeit im  
Vorsatze, als Eigenschaften des Temperaments, sind  
ohne Zweifel in mancher Absicht gut und wünschens-  
werth; aber sie können auch äußerst böse und schädlich  
werden, wenn der Wille, der von diesen Naturgaben  
 [15]  Gebrauch machen soll und dessen eigenthümliche Beschaf-  
fenheit darum Character heißt, nicht gut ist. Mit den  
Glücksgaben ist es eben so bewandt. Macht, Reich-  
thum, Ehre, selbst Gesundheit und das ganze Wohlbe-  
finden und Zufriedenheit mit seinem Zustande, unter  
    
 
1 [4:393]
        

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Grundlegung · Erster Abschnitt · Erste Auflage 1785
 
dem Nahmen der Glückseligkeit, machen Muth und  
hiedurch öfters auch Uebermuth, wo nicht ein guter  
Wille da ist, der den Einflus derselben aufs Gemüth,  
und hiemit auch das ganze Prinzip zu handeln, berich-  
 [5]  tige und allgemein-zweckmäßig mache, ohne zu erwäh-  
nen: daß ein vernünftiger unpartheischer Zuschauer sogar  
am Anblicke eines ununterbrochenen Wohlergehens eines  
Wesens, das kein Zug eines reinen und guten Willens  
zieret, nimmermehr ein Wohlgefallen haben kann und  
 [10]  so der gute Wille die unerlaßliche Bedingung selbst der  
Würdigkeit glücklich zu seyn auszumachen scheint.  
     Einige Eigenschaften sind sogar diesem guten Wil-  
len selbst beförderlich und können sein Werk sehr erleich-  
tern, haben aber dem ungeachtet keinen innern unbe-  
 [15]  dingten Werth, sondern setzen immer noch einen guten  
Willen voraus, der die Schätzung, die man übrigens mit  
Recht für sie trägt, einschränkt und es nicht erlaubt, sie  
für schlechthin gut zu halten. Mäßigung in Affecten  
und Leidenschaften, Selbstbeherrschung und nüchterne  
 [20]  Ueberlegung sind nicht allein in vielerley Absicht gut, son-  
dern scheinen sogar einen Theil vom innern Werthe der  
Person auszumachen; allein es fehlt viel daran, um sie  
ohne Einschränkung für gut zu erklären, (so unbedingt  
sie auch von den Alten gepriesen worden). Denn ohne  
 [25]  Grundsätze eines guten Willens können sie höchst böse  
werden und das kalte Blut eines Bösewichts macht ihn  
    
 
2 [4:393-394]
        

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Grundlegung · Erster Abschnitt · Erste Auflage 1785
 
nicht allein weit gefährlicher, sondern auch unmittelbar  
in unsern Augen noch verabscheuungswürdiger, als er  
ohne dieses dafür würde gehalten werden.  
     Der gute Wille ist nicht durch das, was er be-  
 [5]  wirkt, oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zu  
Erreichung irgend eines vorgesetzten Zweckes, sondern  
allein durch das Wollen, d. i. an sich gut und, für sich  
selbst betrachtet, ohne Vergleich weit höher zu schätzen,  
als alles, was durch ihn zu Gunsten irgend einer Nei-  
 [10]  gung, ja wenn man will, der Summe aller Neigungen  
nur immer zu Stande gebracht werden könnte. Wenn  
gleich durch eine besondere Ungunst des Schicksals, oder  
durch kärgliche Ausstattung einer stiefmütterlichen Natur,  
es diesem Willen gänzlich an Vermögen fehlete, seine Ab-  
 [15]  sicht durchzusetzen, wenn bey seiner größten Bestrebung  
dennoch nichts von ihm ausgerichtet würde und nur der  
gute Wille (freylich nicht etwa ein bloßer Wunsch, son-  
dern als die Aufbietung aller Mittel, so weit sie in un-  
serer Gewalt sind,) übrig bliebe: so würde er wie ein  
 [20]  Juwel doch für sich selbst glänzen, als etwas, das seinen  
vollen Werth in sich selbst hat. Die Nützlichkeit oder  
Fruchtlosigkeit kann diesem Werthe weder etwas zusetzen,  
noch abnehmen. Sie würde gleichsam nur die Einfassung  
seyn, um ihn im gemeinen Verkehr besser handhaben zu  
 [25]  können, oder die Aufmerksamkeit derer, die noch nicht  
gnug Kenner sind, auf sich zu ziehen, nicht aber um  
    
 
3 [4:394]
        

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Grundlegung · Erster Abschnitt · Erste Auflage 1785
 
ihn Kennern zu empfehlen, und seinen Werth zu be-  
stimmen.  
     Es liegt gleichwohl in dieser Idee von dem abso-  
luten Werthe des bloßen Willens, ohne einigen Nutzen  
 [5]  bey Schätzung desselben in Anschlag zu bringen, etwas  
so befremdliches, daß, unerachtet aller Einstimmung  
selbst der gemeinen Vernunft mit derselben, dennoch ein  
Verdacht entspringen muß, daß vielleicht blos hochflie-  
gende Phantasterey ingeheim zum Grunde liege und die  
 [10]  Natur in ihrer Absicht, warum sie unserm Willen Ver-  
nunft zur Regiererin beigelegt habe, falsch verstanden  
seyn möge. Daher wollen wir diese Idee aus diesem  
Gesichtspunkte auf die Prüfung stellen.  
     In den Naturanlagen eines organisirten, d. i.  
 [15]  zweckmäßig zum Leben eingerichteten Wesens, nehmen  
wir es als Grundsatz an, daß kein Werkzeug zu irgend  
einem Zwecke in demselben angetroffen werde, als was  
auch zu demselben das schicklichste und ihm am meisten  
angemessen ist. Wäre nun an einem Wesen, das Vernunft  
 [20]  und einen Willen hat, seine Erhaltung, sein Wohl-  
ergehen, mit einem Worte seine Glückseligkeit der ei-  
gentliche Zweck der Natur, so hätte sie ihre Veranstal-  
tung dazu sehr schlecht getroffen, sich die Vernunft des  
Geschöpfs zur Ausrichterin dieser ihrer Absicht zu ersehen.  
 [25]  Denn alle Handlungen, die es in dieser Absicht auszu-  
    
 
4 [4:394-395]
        

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Grundlegung · Erster Abschnitt · Erste Auflage 1785
 
üben hat und die ganze Regel seines Verhaltens würden  
ihm weit genauer durch Instinkt vorgezeichnet und jener  
Zweck weit sicherer dadurch haben erhalten werden kön-  
nen, als es jemals durch Vernunft geschehen kann und,  
 [5]  sollte diese ja obenein dem begünstigten Geschöpf ertheilt  
worden seyn, so würde sie ihm nur dazu haben dienen  
müssen, um über die glückliche Anlage seiner Natur Be-  
trachtungen anzustellen, sie zu bewundern, sich ihrer zu  
erfreuen und der wohlthätigen Ursache dafür dankbar zu  
 [10]  seyn; nicht aber, um sein Begehrungsvermögen jener  
schwachen und trüglichen Leitung zu unterwerfen und in  
der Naturabsicht zu pfuschen, mit einem Worte, sie wür-  
de verhütet haben, daß Vernunft nicht in praktischen  
Gebrauch ausschlüge, und die Vermessenheit hätte, mit  
 [15]  ihren schwachen Einsichten ihr selbst den Entwurf der  
Glückseligkeit und der Mittel dazu zu gelangen auszuden-  
ken, die Natur würde nicht allein die Wahl der Zwecke,  
sondern auch der Mittel selbst übernommen und beyde  
mit weiser Vorsorge lediglich dem Instinkte anvertraut  
 [20]  haben.  
     In der That finden wir auch, daß, je mehr eine  
cultivirte Vernunft sich mit der Absicht auf den Genuß  
des Lebens und der Glückseligkeit abgiebt, desto weiter  
der Mensch von der wahren Zufriedenheit abkomme, wor-  
 [25]  aus bey vielen, und zwar den versuchtesten im Gebrau-  
che derselben, wenn sie nur aufrichtig genug sind, es  
    
 
5 [4:395]
        

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Grundlegung · Erster Abschnitt · Erste Auflage 1785
 
zugestehen, ein gewisser Grad von Misologie, d. i.  
Haß der Vernunft entspringt, weil sie nach dem Ueber-  
schlage alles Vortheils, den sie, ich will nicht sagen von  
der Erfindung aller Künste des gemeinen Luxus, sondern  
 [5]  so gar von den Wissenschaften, (die ihnen am Ende auch  
ein Luxus des Verstandes zu seyn scheint) ziehen, den-  
noch finden, daß sie sich in der That nur mehr an Müh-  
seligkeit auf den Hals gezogen, als Glückseligkeit gewon-  
nen haben und darüber endlich den gemeinern Schlag der  
 [10]  Menschen, welcher der Leitung des bloßen Naturinstinkts  
näher ist und der seiner Vernunft nicht viel Einflus auf  
sein Thun und Lassen verstattet, eher beneiden, als gering-  
schätzen. Und so weit muß man gestehen, daß das Ur-  
theil derer, die die ruhmredige Hochpreisungen der  
 [15]  Vortheile, die uns die Vernunft in Ansehung der Glück-  
seligkeit und Zufriedenheit des Lebens verschaffen sollte,  
sehr mäßigen und sogar unter Null herabsetzen, keines-  
weges grämisch, oder gegen die Güte der Weltregierung  
undankbar sey, sondern daß diesen Urtheilen ingeheim  
 [20]  die Idee von einer andern und viel würdigern Absicht ih-  
rer Existenz zum Grunde liege, zu welcher und nicht der  
Glückseligkeit, die Vernunft ganz eigentlich bestimmt sey  
und welcher darum, als oberster Bedingung, die Pri-  
vatabsicht des Menschen größtentheils nachstehen muß.  
 [25]       Denn da die Vernunft dazu nicht tauglich genug  
ist, um den Willen in Ansehung der Gegenstände dessel-  
    
 
6 [4:395-396]
        

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Grundlegung · Erster Abschnitt · Erste Auflage 1785
 
ben und der Befriedigung aller unserer Bedürfnisse (die  
sie zum Theil selbst vervielfältigt) sicher zu leiten, als  
zu welchem Zwecke ein eingepflanzter Naturinstinkt viel  
gewisser geführt haben würde, gleichwohl aber uns Ver-  
 [5]  nunft als practisches Vermögen, d. i. als ein solches,  
das Einflus auf den Willen haben soll, dennoch zuge-  
theilt ist, so muß die wahre Bestimmung derselben seyn,  
einen, nicht etwa in anderer Absicht als Mittel, son-  
dern an sich selbst guten Willen hervorzubringen, wo-  
 [10]  zu schlechterdings Vernunft nöthig war, wo anders die  
Natur überall in Austheilung ihrer Anlagen zweckmäßig  
zu Werke gegangen ist. Dieser Wille darf also zwar  
nicht das einzige und das ganze, aber er muß doch das  
höchste Gut und zu allem Uebrigen, selbst allen Verlan-  
 [15]  gen nach Glückseligkeit, die Bedingung seyn, in welchem  
Falle es sich mit der Weisheit der Natur gar wohl ver-  
einigen läßt, wenn man wahrnimmt, daß die Cultur  
der Vernunft, die zur erstern und unbedingten Absicht  
erforderlich ist, die Erreichung der zweyten, die jederzeit  
 [20]  bedingt ist, nämlich der Glückseligkeit wenigstens in die-  
sem Leben, auf mancherley Weise einschränke, ja sie selbst  
unter Nichts herabbringen könne, ohne daß die Natur  
darinn unzweckmäßig verfahre, weil die Vernunft, die  
ihre höchste practische Bestimmung in der Gründung eines  
 [25]  guten Willens erkennt, bey Erreichung dieser Absicht nur  
einer Zufriedenheit nach ihrer eigenen Art, nämlich aus  
der Erfüllung des Zwecks, den wiederum nur Vernunft  
    
 
7 [4:396]
        

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Grundlegung · Erster Abschnitt · Erste Auflage 1785
 
bestimmt, fähig ist, sollte dieses auch mit manchem Ab-  
bruch, der den Zwecken der Neigung geschieht, verbun-  
den seyn.  
     Um aber den Begriff eines an sich selbst hochzuschä-  
 [5]  tzenden und ohne weitere Absicht guten Willens, so wie  
er dem natürlichen gesunden Verstande beywohnet und  
nicht so wohl gelehret als vielmehr nur aufgeklärt zu wer-  
den bedarf, diesen Begriff, der in der Schätzung des ganzen  
Werths unserer Handlungen immer obenan steht und die  
 [10]  Bedingung alles übrigen ausmacht, zu entwickeln: wollen  
wir den Begriff der Pflicht vor uns nehmen, der den  
eines guten Willens, obzwar unter gewissen subiectiven  
Einschränkungen und Hindernissen, enthält, die aber  
doch, weit gefehlt, daß sie ihn verstecken und unkenntlich  
 [15]  machen sollten, ihn vielmehr durch Abstechung heben und  
desto heller hervorscheinen lassen.  
     Ich übergehe hier alle Handlungen, die schon als  
pflichtwidrig erkannt werden, ob sie gleich in dieser oder  
jener Absicht nützlich seyn mögen; denn bey denen ist  
 [20]  gar nicht einmal die Frage, ob sie aus Pflicht geschehen  
seyn mögen, da sie dieser so gar widerstreiten. Ich  
setze auch die Handlungen bey Seite, die würklich pflicht-  
mäßig sind, zu denen aber Menschen unmittelbar keine  
Neigung haben, sie aber dennoch ausüben, weil sie  
 [25]  durch eine andere Neigung dazu getrieben werden. Denn  
    
 
8 [4:396-397]
        

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da läßt sich leicht unterscheiden, ob die pflichtmäßige  
Handlung aus Pflicht oder aus selbstsüchtiger Absicht  
geschehen sey. Weit schwerer ist dieser Unterschied zu  
bemerken, wo die Handlung pflichtmäßig ist und das  
 [5]  Subiect noch überdem unmittelbare Neigung zu ihr hat.  
z.B. Es ist allerdings pflichtmäßig, daß der Krämer  
seinen unerfahrnen Käufer nicht übertheure und, wo viel  
Verkehr ist, thut dieses auch der kluge Kaufmann nicht,  
sondern hält einen festgesetzten allgemeinen Preis für je-  
 [10]  dermann, so daß ein Kind eben so gut bey ihm kauft,  
als jeder anderer. Man wird also ehrlich bedient;  
allein das ist lange nicht gnug, um deswegen zu glau-  
ben, der Kaufmann habe aus Pflicht und Grundsätzen  
der Ehrlichkeit so verfahren; sein Vortheil erfoderte es;  
 [15]  daß er aber überdem noch eine unmittelbare Neigung zu  
den Käufern haben sollte, um gleichsam aus Liebe keinem  
vor dem andern im Preise den Vorzug zu geben, läßt sich  
hier nicht annehmen. Also war die Handlung weder aus  
Pflicht, noch aus unmittelbarer Neigung, sondern blos  
 [20]  in eigennütziger Absicht geschehen.  
     Dagegen sein Leben zu erhalten, ist Pflicht und über-  
dem hat jedermann dazu noch eine unmittelbare Neigung.  
Aber um deswillen hat die oft ängstliche Sorgfalt, die  
der größte Theil der Menschen dafür trägt, doch keinen  
 [25]  innern Werth und die Maxime derselben keinen morali-  
schen Gehalt. Sie bewahren ihr Leben zwar pflicht-  
    
 
9 [4:397-398]
        

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mäßig, aber nicht aus Pflicht. Dagegen, wenn Wi-  
derwärtigkeiten und hoffnungsloser Gram den Geschmack  
am Leben gänzlich weggenommen haben, wenn der Un-  
glückliche, stark an Seele, über sein Schicksal mehr ent-  
 [5]  rüstet, als kleinmüthig oder niedergeschlagen, den Tod  
wünscht, und sein Leben doch erhält, ohne es zu lieben,  
nicht aus Neigung, oder Furcht, sondern aus Pflicht,  
alsdenn hat seine Maxime einen moralischen Gehalt.  
     Wohlthätig seyn, wo man kann, ist Pflicht und  
 [10]  überdem giebt es manche so theilnehmend gestimmte See-  
len, daß sie, auch ohne einen andern Bewegungsgrund  
der Eitelkeit, oder des Eigennutzes, ein inneres Vergnü-  
gen daran finden, Freude um sich zu verbreiten und die  
sich an der Zufriedenheit anderer, so fern sie ihr Werk  
 [15]  ist, ergötzen können. Aber ich behaupte, daß in solchem  
Falle dergleichen Handlung, so pflichtmäßig, so liebens-  
würdig sie auch ist, dennoch keinen wahren sittlichen  
Werth habe, sondern mit andern Neigungen zu gleichen  
Paaren gehe, z. E. der Neigung nach Ehre, die, wenn  
 [20]  sie glücklicherweise auf das trift, was in der That ge-  
meinnützig und pflichtmäßig, mithin ehrenwerth ist, Lob  
und Aufmunterung, aber nicht Hochschätzung verdient;  
denn der Maxime fehlt der sittliche Gehalt, nämlich sol-  
che Handlungen nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht  
 [25]  zu thun. Gesetzt also, das Gemüth jenes Menschen-  
freundes wäre vom eigenen Gram umwölkt, der alle  
    
 
10 [4:398]
        

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Theilnehmung an anderer Schicksal auslöscht, er hätte  
immer noch Vermögen, andern Nothleidenden wohlzu-  
thun, aber fremde Noth rührte ihn nicht, weil er mit  
seiner eigenen gnug beschäftigt wäre und nun, da keine  
 [5]  Neigung ihn mehr dazu anreitzt, risse er sich doch aus  
dieser tödtlichen Unempfindlichkeit heraus und thäte die  
Handlung ohne alle Neigung, lediglich aus Pflicht, als-  
denn hat sie allererst ihren ächten moralischen Werth.  
Noch mehr: wenn die Natur diesem oder jenem überhaupt  
 [10]  wenig Sympathie ins Herz gelegt hätte, wenn er (übri-  
gens ein ehrlicher Mann) von Temperament kalt und  
gleichgültig gegen die Leiden anderer wäre, vielleicht,  
weil er selbst gegen seine eigene mit der besondern Gabe  
der Geduld und aushaltenden Stärke versehen, derglei-  
 [15]  chen bey jedem andern auch voraussetzt, oder gar fodert,  
wenn die Natur einen solchen Mann (welcher warlich  
nicht ihr schlechtstes Produkt seyn würde) nicht eigentlich  
zum Menschenfreunde gebildet hätte, würde er denn  
nicht noch in sich einen Quell finden, sich selbst einen weit  
 [20]  höhern Werth zu geben, als der eines gutartigen Tem-  
peraments seyn mag? Allerdings! gerade da hebt der  
Werth des Charakters an, der moralisch und ohne alle  
Vergleichung der höchste ist, nämlich daß er wohlthue,  
nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht.  
 [25]       Seine eigene Glückseligkeit sichern, ist Pflicht, (we-  
nigstens indirect,) denn der Mangel der Zufriedenheit  
    
 
11 [4:398-399]
        

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mit seinem Zustande, in einem Gedränge von vielen Sor-  
gen und mitten unter unbefriedigten Bedürfnissen, könn-  
te leicht eine große Versuchung zu Uebertretung der  
Pflichten werden. Aber, auch ohne hier auf Pflicht  
 [5]  zu sehen, haben alle Menschen schon von selbst die mäch-  
tigste und innigste Neigung zur Glückseligkeit, weil sich  
gerade in dieser Idee alle Neigungen zu einer Summe  
vereinigen. Nur ist die Vorschrift der Glückseligkeit  
mehrentheils so beschaffen, daß sie einigen Neigungen  
 [10]  großen Abbruch thut und doch der Mensch sich von der  
Summe der Befriedigung aller unter dem Nahmen der  
Glückseligkeit keinen bestimmten und sichern Begriff ma-  
chen kann; daher nicht zu verwundern ist, wie eine ein-  
zige, in Ansehung dessen, was sie verheißt, und der  
 [15]  Zeit, worinn ihre Befriedigung erhalten werden kann,  
bestimmte Neigung, eine schwankende Idee überwiegen  
könne und der Mensch z.B. ein Podagrist wählen könne,  
zu genießen was ihm schmeckt und zu leiden was er kann,  
weil er, nach seinem Ueberschlage, hier wenigstens, sich  
 [20]  nicht durch vielleicht grundlose Erwartungen eines Glücks,  
das in der Gesundheit stecken soll, um den Genuß des  
gegenwärtigen Augenblicks gebracht hat. Aber auch in  
diesem Falle, wenn die allgemeine Neigung zur Glück-  
seligkeit seinen Willen nicht bestimmte, wenn Gesundheit  
 [25]  für ihn wenigstens nicht so nothwendig in diesen Ueber-  
schlag gehörete, so bleibt noch hier, wie in allen andern  
Fällen, ein Gesetz übrig, nämlich seine Glückseligkeit zu  
    
 
12 [4:399]
        

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befördern, nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht, und  
da hat sein Verhalten allererst den eigentlichen morali-  
schen Werth.  
     So sind ohne Zweifel auch die Schriftstellen zu ver-  
 [5]  stehen, darinn geboten wird, seinen Nächsten, selbst  
unsern Feind, zu lieben. Denn Liebe als Neigung kann  
nicht geboten werden, aber Wohlthun aus Pflicht selbst,  
wenn dazu gleich gar keine Neigung treibt, ja gar na-  
türliche und unbezwingliche Abneigung widersteht, ist  
 [10]  practische und nicht pathologische Liebe, die im Willen  
liegt und nicht im Hange der Empfindung, in Grund-  
sätzen der Handlung und nicht schmelzender Theilneh-  
mung; jene aber allein kann geboten werden.  
     Der zweyte Satz ist: eine Handlung aus Pflicht  
 [15]  hat ihren moralischen Werth nicht in der Absicht, wel-  
che dadurch erreicht werden soll, und er hängt also nicht  
von der Wirklichkeit des Gegenstandes der Handlung ab,  
sondern blos von dem Prinzip des Wollens, nach  
welchem die Handlung, unangesehen aller Gegenstände  
 [20]  des Begehrungsvermögens, geschehen ist. Daß die Ab-  
sichten, die wir bey Handlungen haben mögen, und ihre  
Wirkungen, als Zwecke und Triebfedern des Willens,  
den Handlungen keinen unbedingten und moralischen  
Werth ertheilen können, ist aus dem vorigen klar. Wor-  
 [25]  inn kann also dieser Werth liegen, wenn er nicht im  
    
 
13 [4:399-400]
        

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Willen, in Beziehung auf deren verhofte Wirkung, be-  
stehen soll? Er kann nirgend anders liegen, als im  
Prinzip des Willens, unangesehen der Zwecke, die  
durch solche Handlung bewirkt werden können; denn der  
 [5]  Wille ist mitten inne zwischen seinem Prinzip a priori,  
welches formell ist, und zwischen seiner Triebfeder a po-  
steriori, welche materiell ist, gleichsam auf einem Schei-  
dewege und, da er doch irgend wodurch muß bestimmt  
werden, so wird er durch das formelle Prinzip des Wol-  
 [10]  lens überhaupt bestimmt werden müssen, wenn eine  
Handlung aus Pflicht geschieht, da ihm alles materielle  
Prinzip entzogen worden.  
     Den dritten Satz, als Folgerung aus beiden vori-  
gen würde ich so ausdrücken: Pflicht ist die Nothwen-  
 [15]  digkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz.  
Zum Objekte als Wirkung meiner vorhabenden Handlung  
kann ich zwar Neigung haben, aber niemals Achtung,  
eben darum, weil sie blos eine Wirkung meines Willens  
ist. Eben so kann ich für Neigung überhaupt, sie mag  
 [20]  nun meine oder eines andern seine seyn, nicht Achtung  
haben, ich kann sie höchstens im ersten Falle billigen, im  
zweyten bisweilen selbst lieben, d. i. sie als meinem eige-  
nen Vortheile günstig ansehen. Nur das, was blos als  
Grund, niemals aber als Wirkung mit meinem Willen  
 [25]  verknüpft ist, was nicht meiner Neigung dient, sondern  
sie überwiegt, wenigstens diese von deren Ueberschlage  
    
 
14 [4:400]
        

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Grundlegung · Erster Abschnitt · Erste Auflage 1785
 
bey der Wahl ganz ausschließt, mithin das bloße Gesetz  
für sich, kann ein Gegenstand der Achtung und hiemit  
ein Gebot seyn. Nun soll eine Handlung aus Pflicht  
den Einfluß der Neigung, und mit ihr jeden Gegenstand  
 [5]  des Willens ganz absondern, also bleibt nichts für den  
Willen übrig, was ihn bestimmen könne, als, obiectiv,  
das Gesetz, und subiectiv, reine Achtung für dieses  
practische Gesetz, mithin die Maxime *), einem solchen  
Gesetze, selbst mit Abbruch aller meiner Neigungen, Fol-  
 [10]  ge zu leisten.  
     Es liegt also der moralische Werth der Handlung  
nicht in der Wirkung, die daraus erwartet wird, also  
auch nicht in irgend einem Prinzip der Handlung, wel-  
ches seinen Bewegungsgrund von dieser erwarteten Wir-  
 [15]  kung zu entlehnen bedarf. Denn alle diese Würkungen  
(Annehmlichkeit seines Zustandes, ja gar Beförderung  
fremder Glückseligkeit) konnten auch durch andere Ursa-  
chen zu Stande gebracht werden und es brauchte also  
dazu nicht des Willens eines vernünftigen Wesens; wor-  
 [20]  inn gleichwohl das höchste und unbedingte Gute allein  
angetroffen werden kann. Es kann also nichts anders  
als die Vorstellung des Gesetzes an sich selbst, die  
    
    *) Maxime ist das subiective Prinzip des Wollens; das obiective  
        Prinzip, (d. i. dasjenige, was allen vernünftigen Wesen auch  
 [25]         subiectiv zum practischen Prinzip dienen würde, wenn Ver-  
        nunft volle Gewalt über das Begehrungsvermögen hätte) ist  
        das practische Gesetz.  
 
 
15 [4:400-401]
        

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freilich nur im vernünftigen Wesen statt findet, so  
fern sie, nicht aber die verhofte Wirkung, der Bestim-  
mungsgrund des Willens ist, das so vorzügliche Gute,  
welches wir sittlich nennen, ausmachen, welches in der  
 [5]  Person selbst schon gegenwärtig ist, die darnach handelt,  
nicht aber allererst aus der Wirkung erwartet werden  
darf *).  
    
    *) Man könnte mir vorwerfen, als suchte ich hinter dem Worte  
        Achtung nur Zuflucht in einem dunkelen Gefühle, anstatt  
 [10]         durch einen Begriff der Vernunft in der Frage deutliche Aus-  
        kunft zu geben. Allein wenn Achtung gleich ein Gefühl ist,  
        so ist es doch kein durch Einflus empfangenes, sondern durch  
        einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl und daher von  
        allen Gefühlen der ersteren Art, die sich auf Neigung oder  
 [15]         Furcht bringen lassen, specifisch unterschieden. Was ich un-  
        mittelbar als Gesetz für mich erkenne, erkenne ich mit Ach-  
        tung, welche blos das Bewustseyn der Unterordnung meines  
        Willens unter einem Gesetze, ohne Vermittelung anderer Ein-  
        flüsse auf meinen Sinn, bedeutet. Die unmittelbare Bestim-  
 [20]         mung des Willens durchs Gesetz und das Bewustseyn derselben  
        heißt Achtung, so daß diese als Wirkung des Gesetzes aufs  
        Subiect und nicht als Ursache desselben angesehen wird. Ei-  
        gentlich ist Achtung die Vorstellung von einem Werthe, der  
        meiner Selbstliebe Abbruch thut. Also ist es etwas, was we-  
 [25]         der als Gegenstand der Neigung, noch der Furcht betrachtet  
        wird, obgleich es mit beyden zugleich etwas analogisches hat.  
        Der Gegenstand der Achtung ist also lediglich das Gesetz und  
        zwar dasjenige, das wir uns selbst und doch als an sich noth-  
        wendig auferlegen. Als Gesetz sind wir ihm unterworfen, ohne  
 [30]         die Selbstliebe zu befragen; als uns von uns selbst auferlegt  
        ist es doch eine Folge unseres Willens und hat in der ersten  
        Rücksicht Analogie mit Furcht, in der zweyten mit Neigung.  
    
 
16 [4:401]
        

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Grundlegung · Erster Abschnitt · Erste Auflage 1785
 
     Was kann das aber wohl für ein Gesetz seyn, des-  
sen Vorstellung, auch ohne auf die daraus erwartete  
Wirkung Rücksicht zu nehmen, den Willen bestimmen  
muß, damit dieser schlechterdings und ohne Einschrän-  
 [5]  kung gut heißen könne. Da ich den Willen aller Antrie-  
be beraubet habe, die ihm aus der Befolgung irgend  
eines Gesetzes entspringen könnten, so bleibt nichts als  
die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Handlungen überhaupt  
übrig, welche allein dem Willen zum Prinzip dienen soll,  
 [10]  d. i. ich soll niemals anders verfahren, als so, daß ich  
auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemei-  
nes Gesetz werden. Hier ist nun die bloße Gesetzmäßig-  
keit überhaupt, (ohne irgend ein auf gewisse Handlun-  
gen bestimmtes Gesetz zum Grunde zu legen), das, was  
 [15]  dem Willen zum Prinzip dient und ihm auch dazu dienen  
muß, wenn Pflicht nicht überall ein leerer Wahn und  
chimärischer Begriff seyn soll, hiemit aber stimmt die ge-  
meine Menschenvernunft in ihrer practischen Beurthei-  
lung auch vollkommen überein und hat das gedachte  
 [20]  Princip jederzeit vor Augen.  
    
        Alle Achtung für eine Person ist eigentlich nur Achtung fürs  
        Gesetz (der Rechtschaffenheit etc.), wovon jene uns das Beyspiel  
        giebt. Weil wir Erweiterung unserer Talente auch als Pflicht  
        ansehen, so stellen wir uns an einer Person von Talenten auch  
 [25]         gleichsam das Beyspiel eines Gesetzes vor und das macht un-  
        sere Achtung aus. Alles moralische so genannte Interesse be-  
        steht lediglich in der Achtung fürs Gesetz.  
 
 
17 [4:402]
        

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Grundlegung · Erster Abschnitt · Erste Auflage 1785
 
     Die Frage sey z.B. darf ich, wenn ich im Ge-  
dränge bin, nicht ein Versprechen thun, in der Absicht,  
es nicht zu halten? Ich mache hier leicht den Unterschied,  
den die Bedeutung der Frage haben kann, ob es klüg-  
 [5]  lich, oder ob es pflichtmäßig sey, ein falsches Verspre-  
chen zu thun. Das erstere kann ohne Zweifel öfters  
statt finden. Zwar sehe ich wohl, daß es nicht gnug  
sey, mich vermittelst dieser Ausflucht aus einer gegenwär-  
tigen Verlegenheit zu ziehen, sondern wohl überlegt wer-  
 [10]  den müsse, ob mir aus dieser Lüge nicht hinter her viel  
größere Ungelegenheit entspringen könne, als die sind,  
von denen ich mich jetzt befreye, und, da die Folgen  
bei aller meiner vermeinten Schlauigkeit, nicht so leicht  
vorauszusehen sind, daß nicht ein einmal verlohrnes Zu-  
 [15]  trauen mir weit nachtheiliger werden könnte, als alles  
Uebel, das ich jetzt zu vermeiden gedenke, ob es nicht  
klüglicher gehandelt sey, hiebey nach einer allgemeinen  
Maxime zu verfahren und es sich zur Gewohnheit zu  
machen, nichts zu versprechen, als in der Absicht, es zu  
 [20]  halten. Allein es leuchtet mir hier bald ein, daß eine  
solche Maxime doch immer nur die besorglichen Folgen  
zum Grunde habe. Nun ist es doch etwas ganz anders,  
aus Pflicht wahrhaft zu seyn, als aus Besorgnis der  
nachtheiligen Folgen; indem im ersten Falle, der Be-  
 [25]  griff der Handlung an sich selbst schon ein Gesetz für mich  
enthält, im zweyten ich mich allererst anderwärtsher  
umsehen muß, welche Wirkungen für mich wohl damit  
    
 
18 [4:402]
        

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Grundlegung · Erster Abschnitt · Erste Auflage 1785
 
verbunden seyn möchten. Denn, wenn ich von dem  
Princip der Pflicht abweiche, so ist es ganz gewis böse,  
werde ich aber meiner Maxime der Klugheit abtrünnig,  
so kann das mir doch manchmal sehr vortheilhaft seyn,  
 [5]  wiewohl es freylich sicherer ist, bey ihr zu bleiben. Um  
indessen mich in Ansehung der Beantwortung dieser Auf-  
gabe, ob ein lügenhaftes Versprechen pflichtmäßig sey,  
auf die allerkürzeste und doch untrügliche Art zu belehren,  
so frage ich mich selbst: würde ich wohl damit zufrieden  
 [10]  seyn, daß meine Maxime (mich durch ein unwahres  
Versprechen aus Verlegenheit zu ziehen) als ein allge-  
meines Gesetz (so wohl für mich als andere), gelten solle,  
und würde ich wohl zu mir sagen können: es mag jeder-  
mann ein unwahres Versprechen thun, wenn er sich in  
 [15]  Verlegenheit befindet, daraus er sich auf andere Art  
nicht ziehen kann? so werde ich bald inne, daß ich zwar  
die Lüge, aber ein allgemeines Gesetz zu lügen gar nicht  
wollen könne; denn nach einem solchen würde es eigent-  
lich gar kein Versprechen geben, weil es vergeblich wäre,  
 [20]  meinen Willen in Ansehung meiner künftigen Handlungen  
andern vorzugeben, die diesem Vorgeben doch nicht glau-  
ben, oder, wenn sie es übereilter Weise thäten, mich  
doch mit gleicher Münze bezahlen würden, mithin meine  
Maxime, so bald sie zum allgemeinen Gesetze gemacht  
 [25]  würde, sich selbst zerstöhren müsse.  
     Was ich also zu thun habe, damit mein Wollen  
sittlich gut sey, darzu brauche ich gar keine weit ausho-  
    
 
19 [4:402-403]
        

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Grundlegung · Erster Abschnitt · Erste Auflage 1785
 
lende Scharfsinnigkeit. Unerfahren in Ansehung des  
Weltlaufs, unfähig auf alle sich eräugnende Vorfälle  
desselben gefaßt zu seyn, frage ich mich nur: Kanst du  
auch wollen, daß deine Maxime ein allgemeines Gesetz  
 [5]  werde? wo nicht, so ist sie verwerflich und das zwar  
nicht, um eines dir, oder auch anderen, daraus bevor-  
stehenden Nachtheils willen, sondern weil sie nicht als  
Princip in eine mögliche allgemeine Gesetzgebung passen  
kann, für diese aber zwingt mir die Vernunft unmittel-  
 [10]  bare Achtung ab, von der ich zwar jetzt noch nicht ein-  
sehe, worauf sie sich gründe (welches der Philosoph un-  
tersuchen mag), wenigstens aber doch so viel verstehe:  
daß es eine Schätzung des Werthes sey, welche allen  
Werth dessen, was durch Neigung angepriesen wird,  
 [15]  weit überwiegt, und daß die Nothwendigkeit meiner  
Handlungen aus reiner Achtung fürs practische Gesetz  
dasjenige sey, was die Pflicht ausmacht, der jeder an-  
dere Bewegungsgrund weichen muß, weil sie die Bedin-  
gung eines an sich guten Willens ist, dessen Werth über  
 [20]  alles geht.  
     So sind wir denn in der moralischen Erkenntnis  
der gemeinen Menschenvernunft bis zu ihrem Princip  
gelangt, welches sie sich zwar freylich nicht so in einer  
allgemeinen Form abgesondert denkt, aber doch jederzeit  
 [25]  wirklich vor Augen hat und zum Richtmaaße ihrer Be-  
urtheilung braucht. Es wäre hier leicht zu zeigen, wie  
    
 
20 [4:403-404]
        

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Grundlegung · Erster Abschnitt · Erste Auflage 1785
 
sie, mit diesem Compasse in der Hand, in allen vorkom-  
menden Fällen sehr gut Bescheid wisse, zu unterscheiden  
was gut, was böse, pflichtmäßig, oder pflichtwidrig  
sey, wenn man, ohne sie im mindesten etwas neues zu  
 [5]  lehren, sie nur, wie Socrates that, auf ihr eigenes Prin-  
cip aufmerksam macht, und daß es also keiner Wissen-  
schaft und Philosophie bedürfe, um zu wissen, was man  
zu thun habe, um ehrlich und gut, ja so gar um weise  
und tugendhaft zu seyn. Das liesse sich auch wohl schon  
 [10]  zum voraus vermuthen, daß die Kenntnis dessen, was  
zu thun, mithin auch zu wissen jedem Menschen obliegt,  
auch jedes, selbst des gemeinsten Menschen Sache seyn  
werde. Gleichwohl kann man es doch nicht ohne Be-  
wunderung ansehen, wie das practische Beurtheilungs-  
 [15]  vermögen vor dem theoretischen im gemeinen Menschen-  
verstande so gar viel voraus habe. In dem letzteren,  
wenn die gemeine Vernunft es wagt, von den Erfahrungs-  
gesetzen und den Wahrnehmungen der Sinne abzugehen,  
geräth sie in lauter Unbegreiflichkeiten und Widersprüche  
 [20]  mit sich selbst, wenigstens in ein Chaos von Ungewisheit,  
Dunkelheit und Unbestand. Im practischen aber fängt  
die Beurtheilungskraft denn eben allererst an, sich recht  
vortheilhaft zu zeigen, wenn der gemeine Verstand alle  
sinnliche Triebfedern von practischen Gesetzen ausschließt.  
 [25]  Er wird alsdenn so gar subtil, es mag seyn, daß er  
mit seinem Gewissen, oder anderen Ansprüchen in Be-  
ziehung auf das, was recht heissen soll, chicaniren, oder  
    
 
21 [4:404]
        

Ganz Nach Oben      Inhaltsverzeichnis

Grundlegung · Erster Abschnitt · Erste Auflage 1785
 
auch den Werth der Handlungen zu seiner eigenen Be-  
lohnung aufrichtig bestimmen will und, was das meiste  
ist, er kann im letzteren Falle sich eben so gut Hoffnung  
machen, es recht zu treffen, als es sich immer ein Phi-  
 [5]  losoph versprechen mag, ja ist beynahe noch sicherer hier-  
in, als selbst der letztere, weil dieser doch kein anderes  
Princip als jener haben kann, sein Urtheil aber, durch  
eine Menge fremder, nicht zur Sache gehöriger Erwä-  
gungen, leicht verwirren und von der geraden Richtung  
 [10]  abweichend machen kann. Wäre es demnach nicht rath-  
samer, es in moralischen Dingen bey dem gemeinen Ver-  
nunfturtheil bewenden zu lassen, und höchstens nur Phi-  
losophie anzubringen, um das System der Sitten desto  
vollständiger und faßlicher, imgleichen die Regeln dersel-  
 [15]  ben zum Gebrauche, (noch mehr aber zum Disputiren,)  
bequemer darzustellen, nicht aber um selbst in practischer  
Absicht den gemeinen Menschenverstand von seiner glück-  
lichen Einfalt abzubringen und ihn durch Philosophie  
auf einen neuen Weg der Untersuchung und Belehrung  
 [20]  zu bringen.  
     Es ist eine herrliche Sache um die Unschuld, nur  
es ist auch wiederum sehr schlimm, daß sie sich nicht wohl  
bewahren läßt und leicht verführt wird. Deswegen be-  
darf selbst die Weisheit — die sonst wohl mehr in Thun  
 [25]  und Lassen, als im Wissen besteht, — doch auch der  
Wissenschaft, nicht, um von ihr zu lernen, sondern ih-  
    
 
22 [4:404-405]
        

Ganz Nach Oben      Inhaltsverzeichnis

Grundlegung · Erster Abschnitt · Erste Auflage 1785
 
rer Vorschrift Eingang und Dauerhaftigkeit zu verschaf-  
fen. Der Mensch fühlt in sich selbst ein mächtiges Ge-  
gengewicht gegen alle Gebote der Pflicht, die ihm die  
Vernunft so hochachtungswürdig vorstellt, an seinen  
 [5]  Bedürfnissen und Neigungen, deren ganze Befriedigung  
er unter dem Nahmen der Glückseligkeit zusammen faßt.  
Nun gebietet die Vernunft, ohne doch dabey den Neigun-  
gen etwas zu verheissen, unnachlaßlich, mithin gleichsam  
mit Zurüksetzung und Nichtachtung jener so ungestümen  
 [10]  und dabey so billig scheinenden Ansprüche, (die sich durch  
kein Gebot wollen aufheben lassen), ihre Vorschriften.  
Hieraus entspringt aber eine natürliche Dialectik, d. i.  
ein Hang, wider jene strenge Gesetze der Pflicht zu ver-  
nünfteln, und ihre Gültigkeit, wenigstens ihre Reinig-  
 [15]  keit und Strenge in Zweifel zu ziehen, wenigstens sie,  
wo möglich, unsern Wünschen und Neigungen angemes-  
sener zu machen, d. i. sie im Grunde zu verderben und  
um ihre ganze Würde zu bringen, welches denn doch selbst  
die gemeine practische Vernunft am Ende nicht gut heissen  
 [20]  kann.  
     So wird also die gemeine Menschenvernunft  
nicht durch irgend ein Bedürfnis der Speculation (wel-  
ches ihr, so lange sie sich genügt, blosse gesunde Vernunf  
zu seyn, niemals anwandelt), sondern selbst aus practi-  
 [25]  schen Gründen angetrieben, aus ihrem Creise zu gehen,  
und einen Schritt ins Feld einer practischen Philosophie  
zu thun, um daselbst, wegen der Quelle ihres Princips  
    
 
23 [4:405]
        

Ganz Nach Oben      Inhaltsverzeichnis

Grundlegung · Erster Abschnitt · Erste Auflage 1785
 
und richtigen Bestimmung desselben in Gegenhaltung mit  
den Maximen, die sich auf Bedürfnis und Neigung fus-  
sen, Erkundigung und deutliche Anweisung zu bekommen,  
damit sie aus der Verlegenheit wegen beyderseitiger An-  
 [5]  sprüche komme und nicht Gefahr lauffe, durch die Zwey-  
deutigkeit, in die sie leicht geräth, um alle ächte sittliche  
Grundsätze gebracht zu werden. Also entspinnt sich eben  
so wohl in der practischen gemeinen Vernunft, wenn sie  
sich cultivirt, unvermerkt eine Dialectik, welche sie nö-  
 [10]  thigt, in der Philosophie Hülfe zu suchen, als es ihr im  
theoretischen Gebrauche wiederfährt, und die erstere wird  
daher wohl eben so wenig, als die andere, irgendwo  
sonst, als in einer vollständigen Critik unserer Vernunft  
Ruhe finden.  
 
 

  
    
 
24 [4:405]
        

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Grundlegung · Zweyter Abschnitt · Erste Auflage 1785
 

Zweyter Abschnitt.

  
Uebergang  
von der populären sittlichen Weltweisheit  
zur  
 [5]  Metaphysik der Sitten.

  
Wenn wir unsern bisherigen Begriff der Pflicht aus  
dem gemeinen Gebrauche unserer practischen Ver-  
nunft gezogen haben, so ist daraus keinesweges zu schlies-  
sen, als hätten wir ihn als einen Erfahrungsbegriff be-  
 [10]  handelt. Vielmehr, wenn wir auf die Erfahrung vom  
Thun und Lassen der Menschen Acht haben, treffen wir  
häufige und, wie wir selbst einräumen, gerechte Klagen  
an, daß man von der Gesinnung, aus reiner Pflicht zu  
handeln, so gar keine sichere Beyspiele anführen könne,  
 [15]  daß, wenn gleich manches dem, was Pflicht gebietet,  
gemäß geschehen mag, dennoch es so zweifelhaft sey, daß  
es eigentlich aus Pflicht geschehe und also einen morali-  
schen Werth habe, daß es zu aller Zeit Philosophen ge-  
geben hat, welche die Wirklichkeit dieser Gesinnung in  
 [20]  den menschlichen Handlungen schlechterdings abgeleugnet,  
und alles der mehr oder weniger verfeinerten Selbstliebe  
zugeschrieben haben, ohne doch deswegen die Richtigkeit  
des Begriffs von Sittlichkeit in Zweifel zu ziehen, viel-  
mehr mit inniglichem Bedauren der Gebrechlichkeit und  
 [25]  Unlauterkeit der menschlichen Natur, die zwar edel gnug  
    
 
25 [4:406]
        

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Grundlegung · Zweyter Abschnitt · Erste Auflage 1785
 
ist, sich eine so achtungswürdige Idee zu ihrer Vorschrift  
zu machen, aber zugleich zu schwach, um sie zu befolgen  
und welche die Vernunft, die ihr zur Gesetzgebung die-  
nen sollte, nur dazu braucht, um das Interesse der Nei-  
 [5]  gungen, es sey einzeln oder, wenn es hoch kommt, in  
ihrer größten Verträglichkeit unter einander, zu besorgen.  
     In der That ist es schlechterdings unmöglich, durch  
Erfahrung einen einzigen Fall mit völliger Gewißheit aus-  
zumachen, da die Maxime einer sonst pflichtmäßigen Hand-  
 [10]  lung lediglich auf moralischen Gründen und auf der Vor-  
stellung seiner Pflicht beruhet habe. Denn es ist zwar  
bisweilen der Fall, daß wir bey der schärfsten Selbstprü-  
fung gar nichts antreffen, was ausser dem moralischen  
Grunde der Pflicht mächtig genug hätte seyn können, uns  
 [15]  zu dieser oder jener guten Handlung und so großer Auf-  
opferung zu bewegen, es kann aber daraus gar nicht mit  
Sicherheit geschlossen werden, daß wirklich gar kein ge-  
heimer Antrieb der Selbstliebe unter der Vorspiegelung  
jener Idee, die eigentliche bestimmende Ursache des Wil-  
 [20]  lens gewesen sey, dafür wir denn gerne uns mit einem  
uns fälschlich angemaßten edlern Bewegungsgrunde  
schmeicheln, in der That aber selbst durch die angestreng-  
ste Prüfung hinter die geheime Triebfedern niemals völ-  
lig kommen können, weil, wenn vom moralischen Wer-  
 [25]  the die Rede ist, es nicht auf die Handlungen ankommt,  
die man sieht, sondern auf jene innere Principien dersel-  
ben, die man nicht sieht.  
    
 
26 [4:406-407]
        

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     Man kann auch denen, die alle Sittlichkeit, als  
bloßes Hirngespinst einer durch Eigendünkel sich selbst über-  
steigenden menschlichen Einbildung verlachen, keinen ge-  
wünschteren Dienst thun, als ihnen einzuräumen: daß  
 [5]  die Begriffe der Pflicht (so wie man sich auch aus Ge-  
mächlichkeit gerne überredet, daß es auch mit allen übri-  
gen Begriffen bewandt sey), lediglich aus der Erfahrung  
gezogen werden mußten; denn da bereitet man jenen ei-  
nen sichern Triumph. Ich will aus Menschenliebe einräu-  
 [10]  men, daß noch die meisten unserer Handlungen pflichtmäs-  
sig seyn; sieht man aber ihr Tichten und Trachten näher  
an, so stößt man allenthalben auf das liebe Selbst, was  
immer hervorsticht, worauf, und nicht auf das strenge  
Gebot der Pflicht, welches mehrmalen Selbstverläugnung  
 [15]  erfodern würde, sich ihre Absicht stützet. Man braucht  
auch eben kein Feind der Tugend, sondern nur ein kalt-  
blütiger Beobachter zu seyn, der den lebhaftesten Wunsch  
für das Gute nicht so fort für dessen Wirklichkeit hält,  
um (vornämlich mit zunehmenden Jahren und einer durch  
 [20]  Erfahrung theils gewitzigten, theils zum Beobachten ge-  
schärften Urtheilskraft), in gewissen Augenblicken zweifel-  
haft zu werden, ob auch wirklich in der Welt irgend  
wahre Tugend angetroffen werde. Und hier kann uns  
nun nichts für den gänzlichen Abfall von unseren Ideen  
 [25]  der Pflicht bewahren und gegründete Achtung gegen ihr  
Gesetz in der Seele erhalten, als die klare Ueberzeugung,  
daß, wenn es auch niemals Handlungen gegeben habe,  
    
 
27 [4:407]
        

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die aus solchen reinen Quellen entsprungen wären, den-  
noch hier auch davon gar nicht die Rede sey: ob dies  
oder jenes geschehe, sondern die Vernunft für sich selbst  
und unabhängig von allen Erscheinungen gebiete, was  
 [5]  geschehen soll, mithin Handlungen, von denen die Welt  
vielleicht bisher noch gar kein Beyspiel gegeben hat, an  
deren Thunlichkeit so gar der, so alles auf Erfahrung  
gründet, sehr zweifeln möchte, dennoch durch Vernunft  
unnachlaßlich geboten sey, und daß z.B. reine Redlich-  
 [10]  keit in der Freundschaft um nichts weniger von jedem  
Menschen gefodert werden könne, wenn es gleich bis jetzt  
gar keinen redlichen Freund gegeben haben möchte, weil  
diese Pflicht als Pflicht überhaupt, vor aller Erfahrung  
in der Idee einer den Willen durch Gründe a priori be-  
 [15]  stimmenden Vernunft liegt.  
     Setzet man hinzu, daß, wenn man dem Begriffe  
von Sittlichkeit nicht gar alle Wahrheit und Beziehung  
auf irgend ein mögliches Obiect streiten will, man nicht  
in Abrede ziehen könne, daß sein Gesetz von so ausge-  
 [20]  breiteter Bedeutung sey, daß es nicht blos für Menschen,  
sondern alle vernünftige Wesen überhaupt, nicht  
blos unter zufälligen Bedingungen und mit Ausnahmen,  
sondern schlechterdings nothwendig gelten müsse, so  
ist klar, daß keine Erfahrung selbst, auch nur auf die Mög-  
 [25]  lichkeit solcher apodictischen Gesetze zu schließen, Anlas  
geben könne. Denn mit welchem Rechte können wir das,  
    
 
28 [4:407-408]
        

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was vielleicht nur unter den zufälligen Bedingungen der  
Menschheit gültig ist, als allgemeine Vorschrift für jede  
vernünftige Natur, in unbeschränkte Achtung bringen  
und wie sollen Gesetze der Bestimmung unseres Willens,  
 [5]  für Gesetze der Bestimmung des Willens eines vernünfti-  
gen Wesens überhaupt und, nur als solche, auch für  
den unsrigen gehalten werden, wenn sie blos empirisch  
wären und nicht völlig a priori aus reiner, aber practi-  
scher Vernunft ihren Ursprung nähmen.  
 [10]       Man könnte auch der Sittlichkeit nicht übler rathen,  
als wenn man sie von Beyspielen entlehnen wollte. Denn  
jedes Beyspiel, was mir davon vorgestellt wird, muß  
selbst zuvor nach Prinzipien der Moralität beurtheilt wer-  
den, ob es auch würdig sey, zum ächten Beyspiele, d. i.  
 [15]  zum Muster zu dienen, keinesweges aber kann es den  
Begriff derselben zu oberst an die Hand geben. Selbst  
der Heilige des Evangelii muß zuvor mit unserm Ideal  
der sittlichen Vollkommenheit verglichen werden, ehe  
man ihn dafür erkennt; auch sagt er von sich selbst: was  
 [20]  nennt ihr mich, (den ihr sehet), gut, niemand ist gut  
(das Urbild des Guten) als der einige Gott, (den ihr nicht  
sehet). Woher haben wir aber den Begriff von Gott,  
als dem höchsten Gut? Lediglich aus der Idee, die die  
Vernunft a priori von sittlicher Vollkommenheit entwirft,  
 [25]  und mit dem Begriffe eines freyen Willens unzertrenn-  
lich verknüpft. Nachahmung findet im Sittlichen gar  
    
 
29 [4:408-409]
        

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nicht statt und Beyspiele dienen nur zur Aufmunterung,  
d. i. sie setzen die Thunlichkeit dessen, was das Gesetz ge-  
bietet, ausser Zweifel, sie machen das, was die practi-  
sche Regel allgemeiner ausdrückt, anschaulich, können  
 [5]  aber niemals berechtigen, ihr wahres Original, das in  
der Vernunft liegt, bey Seite zu setzen und sich nach  
Beyspielen zu richten.  
     Wenn es denn keinen ächten obersten Grundsatz  
der Sittlichkeit giebt, der nicht unabhängig von aller  
 [10]  Erfahrung blos auf reiner Vernunft beruhen müßte, so  
glaube ich, es sey nicht nöthig, auch nur zu fragen, ob  
es gut sey, diese Begriffe, so wie sie, samt denen ihnen  
zugehörigen Prinzipien, a priori feststehen, im allge-  
meinen (in abstracto) vorzutragen, wofern das Erkennt-  
 [15]  nis sich vom gemeinen unterscheiden und philosophisch  
heissen soll. Aber in unsern Zeiten möchte dieses wohl  
nöthig seyn. Denn wenn man Stimmen sammelte: ob  
reine von allem Empirischen abgesonderte Vernunfter-  
kenntnis, mithin Metaphysik der Sitten, oder popu-  
 [20]  läre practische Philosophie vorzuziehen sey, so räth man  
bald, auf welche Seite die Wahrheit fallen werde.  
     Diese Herablassung zu Volksbegriffen ist allerdings  
sehr rühmlich, wenn die Erhebung zu den Prinzipien  
der reinen Vernunft zuvor geschehen und zur völligen Be-  
 [25]  friedigung erreicht ist, und das würde heissen, die Leh-  
    
 
30 [4:409]
        

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re der Sitten zuvor auf Metaphysik gründen, ihr aber,  
wenn sie fest steht, nachher durch Popularität Eingang  
verschaffen. Es ist aber äußerst ungereimt, dieser in  
der ersten Untersuchung, worauf alle Richtigkeit der  
 [5]  Grundsätze ankommt, schon willfahren zu wollen. Nicht  
allein, daß dieses Verfahren auf das höchst seltene Ver-  
dienst einer wahren philosophischen Popularität nie-  
mals Anspruch machen kann, indem es gar keine Kunst  
ist, gemeinverständlich zu seyn, wenn man dabey auf  
 [10]  alle gründliche Einsicht Verzicht thut, so bringt es einen  
ekelhaften Mischmasch von zusammengestoppelten Beob-  
achtungen und halbvernünftelnden Prinzipien zum Vor-  
schein, daran sich schaale Köpfe laben, weil es doch et-  
was gar brauchbares fürs alltägliche Geschwätz ist, wo  
 [15]  einsehende aber Verwirrung fühlen und unzufrieden, oh-  
ne sich doch helfen zu können, ihre Augen wegwenden,  
Philosophen aber das Blendwerk ganz wohl durchschauen,  
aber wenig Gehör finden, wenn sie auf einige Zeit von  
der vorgeblichen Popularität abrufen, um nur allererst  
 [20]  nach erworbener bestimmter Einsicht mit Recht populär  
seyn zu dürfen.  
     Man darf nur die Versuche über die Sittlichkeit  
in jenem beliebten Geschmacke ansehen, so wird man  
bald die besondere Bestimmung der menschlichen Natur,  
 [25]  (mit unter aber auch die Idee von einer vernünftigen  
Natur überhaupt,) bald Vollkommenheit, bald Glückse-  
    
 
31 [4:409-410]
        

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ligkeit, hier moralisches Gefühl, dort Gottesfurcht, von  
diesem etwas, von jenem auch etwas, in wunderbarem  
Gemische antreffen, ohne daß man sich einfallen läßt zu  
fragen, ob auch überall in der Kenntnis der menschlichen  
 [5]  Natur (die wir doch nur von der Erfahrung herhaben  
können), die Prinzipien der Sittlichkeit zu suchen seyn  
und, wenn dieses nicht ist, wenn die letztere völlig a  
priori, frey von allem Empirischen, schlechterdings in  
reinen Vernunftbegriffen und nirgend anders, auch nicht  
 [10]  dem mindesten Theile nach, anzutreffen seyn, den An-  
schlag zu fassen, diese Untersuchung als reine practische  
Weltweisheit, oder, (wenn man einen so verschrieenen  
Nahmen nennen darf), als Metaphysik *) der Sitten, lie-  
ber ganz abzusondern, sie für sich allein zu ihrer ganzen  
 [15]  Vollständigkeit zu bringen und das Publicum, das Po-  
pularität verlangt, bis zum Ausgange dieses Unterneh-  
mens zu vertrösten.  
     Es ist aber eine solche völlig isolirte Meta-  
physik der Sitten, die mit keiner Anthropologie, mit  
    
 [20]     *) Man kann, wenn man will, (so wie die reine Mathematik  
        von der angewandten, die reine Logik von der angewandten  
        unterschieden wird, also) die reine Philosophie der Sitten (Me-  
        taphysik) von der angewandten (nämlich auf die menschliche  
        Natur) unterscheiden. Durch diese Benennung wird man auch  
 [25]         so fort erinnert, daß die sittliche Prinzipien nicht auf die Ei-  
        genheiten der menschlichen Natur gegründet, sondern für sich  
        a priori bestehend seyn müssen, aus solchen aber, wie für jede  
        vernünftige Natur, also auch für die menschliche, practische  
        Regeln müssen abgeleitet werden können.  
 
 
32 [4:410]
        

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Grundlegung · Zweyter Abschnitt · Erste Auflage 1785
 
keiner Theologie, mit keiner Physik, oder Hyperphysik,  
noch weniger mit verborgenen Qualitäten, (die man hy-  
pophysisch nennen könnte), vermischt ist, nicht allein ein  
unentbehrliches Substrat aller theoretischen sicher bestimm-  
 [5]  ten Erkenntnis der Pflichten, sondern zugleich ein Desi-  
derat von der höchsten Wichtigkeit zur wirklichen Vollzie-  
hung ihrer Vorschriften. Denn die reine und mit kei-  
nem fremden Zusatze von empirischen Anreitzen vermischte  
Vorstellung der Pflicht und überhaupt des sittlichen Ge-  
 [10]  setzes hat auf das menschliche Herz durch den Weg der  
Vernunft allein, (die hiebey zuerst inne wird, daß sie  
für sich selbst auch practisch seyn kann), einen so viel mäch-  
tigern Einfluß, als alle andere Triebfedern *), die man  
aus dem empirischen Felde aufbieten mag, daß sie im  
 [15]  Bewustseyn ihrer Würde die letzteren, verachtet und nach  
und nach ihr Meister werden kann, an dessen Statt eine  
vermischte Sittenlehre, die aus Triebfedern von Gefüh-  
len und Neigungen und zugleich aus Vernunftbegriffen  
    
    *) Ich habe einen Brief vom sel. vortreflichen Sulzer, worinn er  
 [20]         mich frägt: was doch die Ursache seyn möge, warum die Leh-  
        ren der Tugend, so viel Ueberzeugendes sie auch für die Ver-  
        nunft haben, doch so wenig ausrichten. Meine Antwort wurde  
        durch die Zurüstung dazu, um sie vollständig zu geben, ver-  
        spätet. Allein es ist keine andere, als daß die Lehrer selbst  
 [25]         ihre Begriffe nicht ins Reine gebracht haben und, indem sie es  
        zu gut machen wollen, dadurch, daß sie allerwerts Bewegur-  
        sachen zum Sittlichguten auftreiben, um die Arzney recht  
        kräftig zu machen, sie sie verderben. Denn die gemeinste  
    
 
33 [4:410-411]
        

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zusammengesetzt ist, das Gemüth zwischen Bewegursachen,  
die sich unter kein Prinzip bringen lassen, die nur sehr  
zufällig zum Guten, öfters aber auch zum Bösen leiten  
können, verwirrt machen muß.  
 [5]       Aus dem angeführten erhellet: daß alle sittliche  
Begriffe völlig a priori in der Vernunft ihren Sitz und  
Ursprung haben und dieses zwar in der gemeinsten Men-  
schenvernunft, eben so wohl als der im höchsten Maaße  
speculativen, daß sie von keinem empirischen und darum  
 [10]  blos zufälligen Erkenntnisse abstrahirt werden könne, daß  
in dieser Reinigkeit ihres Ursprunges eben ihre Würde  
liege, uns zu obersten praktischen Prinzipien zu dienen,  
daß man jedesmal so viel, als man Empirisches hinzu  
thut, so viel auch ihrem ächten Einflusse und dem unein-  
 [15]  geschränkten Werthe der Handlungen entziehe, daß es  
nicht allein die größte Nothwendigkeit in theoretischer  
Absicht, wenn es blos auf Speculation ankommt, er-  
    
        Beobachtung zeigt, daß, wenn man eine Handlung der Recht-  
        schaffenheit vorstellt, wie sie von aller Absicht auf irgend einen  
 [20]         Vortheil, in dieser oder einer anderen Welt, abgesondert, selbst  
        unter den größten Versuchungen der Noth, oder der Anlockung,  
        mit standhafter Seele ausgeübt worden, sie jede ähnliche  
        Handlung, die nur im mindesten durch eine fremde Triebfeder  
        afficirt war, weit hinter sich lasse und verdunkle, die Seele  
 [25]         erhebe und den Wunsch errege, auch so handeln zu können.  
        Selbst Kinder von mittlerem Alter fühlen diesen Eindruck und  
        ihnen sollte man Pflichten auch niemals anders vorstellen.  
 
 
34 [4:411]
        

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fodere, sondern auch von der größten practischen Wich-  
tigkeit sey, ihre Begriffe und Gesetze aus reiner Ver-  
nunft zu schöpfen, rein und unvermengt vorzutragen, ja  
den Umfang dieses ganzen practischen oder reinen Ver-  
 [5]  nunfterkenntnisses, d. i. das ganze Vermögen der rei-  
nen practischen Vernunft, zu bestimmen, hierin aber  
nicht, wie es wohl die speculative Philosophie erlaubt,  
ja gar bisweilen nothwendig findet, die Prinzipien von  
der besondern Natur der menschlichen Vernunft abhängig  
 [10]  zu machen, sondern darum, weil moralische Gesetze für  
jedes vernünftige Wesen überhaupt gelten sollen, sie  
schon aus dem allgemeinen Begriffe eines vernünftigen  
Wesens überhaupt abzuleiten und auf solche Weise alle  
Moral, die zu ihrer Anwendung auf Menschen der An-  
 [15]  thropologie bedarf, zuerst unabhängig von dieser als rei-  
ne Philosophie, d. i. als Metaphysik vollständig (welches  
sich in dieser Art ganz abgesonderter Erkenntnisse wohl  
thun läßt), vorzutragen, wohl bewußt, daß es, ohne  
im Besitze derselben zu seyn, vergeblich sey, ich will nicht  
 [20]  sagen, das Moralische der Pflicht in allem, was pflicht-  
mäßig ist, genau für die speculative Beurtheilung zu be-  
stimmen, sondern so gar im blos gemeinen und practi-  
schen Gebrauche, vornemlich der moralischen Unterwei-  
sung, unmöglich sey, die Sitten auf ihre ächte Prinzi-  
 [25]  pien zu gründen und dadurch reine moralische Gesinnun-  
gen zu bewirken und zum höchsten Weltbesten den Ge-  
müthern einzupfropfen.  
    
 
35 [4:411-412]
        

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     Um aber in dieser Bearbeitung nicht blos von der  
gemeinen sittlichen Beurtheilung (die hier sehr achtungs-  
würdig ist), zur philosophischen, wie sonst geschehen ist,  
sondern von einer populären Philosophie, die nicht wei-  
 [5]  ter geht, als sie durch Tappen vermittelst der Beyspiele  
kommen kann, bis zur Metaphysik, (die sich durch nichts  
Empirisches weiter zurückhalten läßt und, indem sie den  
ganzen Inbegriff der Vernunfterkenntniß dieser Art aus-  
messen muß, allenfalls bis zu Ideen geht, wo selbst die  
 [10]  Beyspiele, die denen adäquart waren, uns verlassen), durch  
die natürliche Stuffen fortzuschreiten; müssen wir das  
practische Vernunftvermögen von seinen allgemeinen Be-  
stimmungsregeln an, bis dahin, wo aus ihm der Be-  
griff der Pflicht entspringt, verfolgen und deutlich dar-  
 [15]  stellen.  
     Ein jedes Ding der Natur wirkt nach Gesetzen.  
Nur ein vernünftiges Wesen hat das Vermögen, nach  
der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Principien, zu  
handeln oder einen Willen. Da zur Ableitung der Hand-  
 [20]  lungen von Gesetzen Vernunft erfodert wird, so ist der  
Wille nichts anders, als practische Vernunft. Wenn  
die Vernunft den Willen unausbleiblich bestimmt, so sind  
die Handlungen eines solchen Wesens, die als obiectiv  
nothwendig erkannt werden, auch subiectiv nothwendig,  
 [25]  d. i. der Wille ist ein Vermögen, nur dasienige zu wäh-  
len, was die Vernunft, unabhängig von der Neigung,  
    
 
36 [4:412]
        

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als practisch nothwendig, d. i. als gut erkennt. Be-  
stimmt aber die Vernunft für sich allein den Willen nicht  
hinlänglich, ist dieser noch subiectiven Bedingungen (ge-  
wissen Triebfedern) unterworfen, die nicht immer mit  
 [5]  den obiectiven übereinstimmen, mit einem Worte, ist der  
Wille nicht an sich völlig der Vernunft gemäß, (wie es  
bey Menschen wirklich ist), so sind die Handlungen, die  
obiectiv als nothwendig erkannt werden, subiectiv zufäl-  
lig, und die Bestimmung eines solchen Willens, obiectiven  
 [10]  Gesetzen gemäß, ist Nöthigung, d. i. das Verhältnis  
der obiectiven Gesetze zu einem nicht durchaus guten Wil-  
len wird vorgestellt als die Bestimmung des Willens ei-  
nes vernünftigen Wesens zwar durch Gründe der Ver-  
nunft, denen aber dieser Wille seiner Natur nach nicht  
 [15]  nothwendig folgsam ist.  
     Die Vorstellung eines obiectiven Prinzips, sofern  
es für einen Willen nöthigend ist, heißt ein Geboth (der  
Vernunft), und die Formel des Gebots heißt Impe-  
rativ.  
 [20]       Alle Imperativen werden durch ein Sollen ausge-  
drukt, und zeigen dadurch das Verhältnis eines obiecti-  
ven Gesetzes der Vernunft zu einem Willen an, der sei-  
ner subiectiven Beschaffenheit nach dadurch nicht nothwen-  
dig bestimmt wird, (eine Nöthigung). Sie sagen, daß  
 [25]  etwas zu thun oder zu unterlassen gut seyn würde, allein  
    
 
37 [4:412-413]
        

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sie sagen es einem Willen, der nicht immer darum etwas  
thut, weil ihm vorgestellt wird, daß es zu thun gut sey.  
Practisch gut ist aber, was vermittelst der Vorstellungen  
der Vernunft, mithin nicht aus subiectiven Ursachen, son-  
 [5]  dern obiectiv, d. i. aus Gründen, die für jedes vernünf-  
tige Wesen, als ein solches, gültig sind, den Willen be-  
stimmt. Es wird vom Angenehmen unterschieden, als  
demjenigen, was nur vermittelst der Empfindung aus blos  
subjectiven Ursachen, die nur für dieses oder jenes seinen  
 [10]  Sinn gelten, und nicht als Prinzip der Vernunft, das  
für jedermann gilt, auf den Willen Einfluß hat *).  
    
    *) Die Abhängigkeit des Begehrungsvermögens von Empfindungen  
        heißt Neigung, und diese beweiset also jederzeit ein Bedürfnis.  
        Die Abhängigkeit des Willens aber von Prinzipien der Ver-  
 [15]         nunft heißt ein Interesse. Dieses findet also nur bey einem ab-  
        hängigen Willen statt, der nicht von selbst jederzeit der Vernunft  
        gemäß ist; beym göttlichen Willen kann man sich kein Interesse  
        gedenken. Aber auch der menschliche Wille kann woran ein In-  
        teresse nehmen, ohne darum aus Interesse zu handeln. Das  
 [20]         erste bedeutet das practische Interesse an der Handlung, das zwey-  
        te das pathologische Interesse am Gegenstande der Handlung.  
        Das erste zeigt nur Abhängigkeit des Willens von Principien der  
        Vernunft an sich selbst, das zweyte von den Prinzipien derselben  
        zum Behuf der Neigung an, da nämlich die Vernunft nur die  
 [25]         practische Regel angiebt, wie dem Bedürfnisse der Neigung ab-  
        geholfen werde. Im ersten Falle interessirt mich die Handlung,  
        im zweyten der Gegenstand der Handlung, (so fern er mir ange-  
        nehm ist). Wir haben im ersten Abschnitte gesehen: daß bey ei-  
        ner Handlung aus Pflicht nicht auf das Interesse am Gegen-  
 [30]         stande, sondern blos an der Handlung selbst und ihrem Princip  
        in der Vernunft (dem Gesetz) gesehen werden müsse.  
 
 
38 [4:413-414]
        

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     Ein vollkommen guter Wille würde also eben so  
wohl unter obiectiven Gesetzen (des Guten) stehen, aber  
nicht dadurch als zu gesetzmäßigen Handlungen genöthigt  
vorgestellt werden können, weil er von selbst, nach seiner  
 [5]  subiectiven Beschaffenheit, nur durch die Vorstellung des  
Guten bestimmt werden kann. Daher gelten für den  
göttlichen und überhaupt für einen heiligen Willen keine  
Imperativen; das Sollen ist hier am unrechten Orte,  
weil das Wollen schon von selbst mit dem Gesetz noth-  
 [10]  wendig einstimmig ist. Daher sind Imperativen nur  
Formeln, das Verhältnis obiectiver Gesetze des Wollens  
überhaupt zu der subiectiven Unvollkommenheit des Wil-  
lens dieses oder jenes vernünftigen Wesens, z.B. des  
menschlichen Willens, auszudrücken.  
 [15]       Alle Imperativen nun gebieten entweder hypo-  
thetisch, oder categorisch. Jene stellen die practische  
Nothwendigkeit einer möglichen Handlung als Mittel zu  
etwas anderem, was man will (oder doch möglich ist, daß  
man es wolle), zu gelangen vor. Der categorische Im-  
 [20]  perativ würde der seyn, welcher eine Handlung als für  
sich selbst, ohne Beziehung auf einen andern Zweck, als  
obiectiv-nothwendig vorstellte.  
     Weil jedes practische Gesetz eine mögliche Hand-  
lung als gut und darum, für ein durch Vernunft prac-  
 [25]  tisch bestimmbares Subiect, als nothwendig vorstellt, so  
    
 
39 [4:414]
        

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sind alle Imperativen Formeln der Bestimmung der Hand-  
lung, die nach dem Prinzip eines in irgend einer Absicht  
guten Willens nothwendig ist. Wenn nun die Handlung  
blos wozu Anderes, als Mittel, gut seyn würde, so  
 [5]  ist der Imperativ hypothetisch, wird sie als an sich  
gut vorgestellt, mithin als nothwendig in einem an sich  
der Vernunft gemäßen Willen, als Prinzip desselben, so  
ist er categorisch.  
     Der Imperativ sagt also, welche durch mich mög-  
 [10]  liche Handlung gut wäre und stellt die practische Regel in  
Verhältnis auf den Willen vor, der darum nicht sofort  
eine Handlung thut, weil sie gut ist, theils weil das  
Subiect nicht immer weiß, daß sie gut sey, theils weil,  
wenn es dieses auch wüßte, die Maximen desselben doch  
 [15]  den obiectiven Principien einer practischen Vernunft zu-  
wider seyn könnten.  
     Der hypothetische Imperativ sagt also nur, daß  
die Handlung zu irgend einer möglichen oder wirklichen  
Absicht gut sey. Im erstern Falle ist er ein proble-  
 [20]  matisch, im zweyten assertorisch-practisches  
Prinzip. Der categorische Imperativ, der die Hand-  
lung ohne Beziehung auf irgend eine Absicht, d. i. auch  
ohne irgend einen andern Zweck für sich als obiectiv noth-  
wendig erklärt, gilt als ein apodictisch (practisches)  
 [25]  Prinzip.  
    
 
40 [4:414-415]
        

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     Man kann sich das, was nur durch Kräfte irgend  
eines vernünftigen Wesens möglich ist, auch für irgend  
einen Willen als mögliche Absicht denken und daher sind  
der Prinzipien der Handlung, so fern sie als nothwendig  
 [5]  vorgestellt wird, um irgend eine dadurch zu bewirkende  
mögliche Absicht zu erreichen, in der That unendlich viel.  
Alle Wissenschaften haben irgend einen practischen Theil,  
der aus Aufgaben besteht, daß irgend ein Zweck für uns  
möglich sey, und aus Imperativen, wie er erreicht wer-  
 [10]  den könne. Diese können daher überhaupt Imperativen  
der Geschicklichkeit heissen. Ob der Zweck ver-  
nünftig und gut sey, davon ist hier gar nicht die Frage,  
sondern nur was man thun müsse, um ihn zu erreichen.  
Die Vorschriften für den Arzt, um seinen Mann auf  
 [15]  gründliche Art gesund zu machen, und für einen Giftmischer,  
um ihn sicher zu tödten, sind so fern von gleichem Werth,  
als eine jede dazu dient, ihre Absicht vollkommen zu be-  
wirken. Weil man in der frühen Jugend nicht weiß,  
welche Zwecke uns im Leben aufstoßen dürften, so suchen  
 [20]  Eltern vornemlich ihre Kinder recht vielerley lernen zu  
lassen und sorgen für die Geschicklichkeit, im Gebrauch  
der Mittel zu allerley beliebigen Zwecken, von deren kei-  
nem sie bestimmen können, ob er nicht etwa wirklich künf-  
tig eine Absicht ihres Zöglings werden könne, wovon es  
 [25]  indessen doch möglich ist, daß er sie einmal haben möch-  
te und diese Sorgfalt ist so groß, daß sie darüber gemei-  
niglich verabsäumen, ihnen das Urtheil über den Werth  
    
 
41 [4:415]
        

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der Dinge, die sie sich etwa zu Zwecken machen möchten,  
zu bilden und zu berichtigen.  
     Es ist gleichwohl ein Zweck, den man bey allen  
vernünftigen Wesen (so fern Imperative auf sie, näm-  
 [5]  lich als abhängige Wesen passen), als wirklich voraussetzen  
kann und also eine Absicht, die sie nicht etwa blos haben  
können, sondern von der man sicher voraussetzen kann,  
daß sie solche insgesamt nach einer Naturnothwendigkeit  
haben, und das ist die Absicht auf Glückseligkeit. Der  
 [10]  hypothetische Imperativ, der die practische Nothwendig-  
keit der Handlung, als Mittel zur Beförderung der Glück-  
seligkeit, vorstellt, ist assertorisch. Man darf ihn  
nicht blos als nothwendig zu einer ungewissen, blos mög-  
lichen Absicht, vortragen, sondern zu einer Absicht, die  
 [15]  man sicher bei jedem Menschen voraussetzen kann, weil  
sie zu seiner Natur gehört. Nun kann man die Geschick-  
lichkeit in der Wahl der Mittel zu seinem eigenen größten  
Wohlseyn Klugheit *) im engsten Verstande nennen. Al-  
    
    *) Das Wort Klugheit wird in zwiefachem Sinn genommen, ein-  
 [20]         mal kann es den Namen Weltklugheit, im zweyten den der Pri-  
        vatklugheit führen. Die erste ist die Geschicklichkeit eines Men-  
        schen, auf andere Einfluß zu haben, um sie zu seinen Absichten  
        zu gebrauchen. Die zweyte die Einsicht, alle diese Absichten zu  
        seinem eigenen daurenden Vortheil zu vereinigen. Die letztere  
 [25]         ist eigentlich diejenige, worauf selbst der Werth der erstern zurück-  
        geführt wird und, wer in der erstern Art klug ist, nicht aber in  
        der zweyten, von dem könnte man besser sagen: er ist gescheut  
        und verschlagen, im ganzen aber doch unklug.  
 
 
42 [4:415-416]
        

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so ist der Imperativ, der sich auf die Wahl der Mittel  
zur eigenen Glückseligkeit bezieht, d. i., die Vorschrift  
der Klugheit, noch immer hypothetisch; die Handlung  
wird nicht schlechthin, sondern nur als Mittel zu einer  
 [5]  andern Absicht geboten.  
     Endlich giebt es einen Imperativ, der, ohne ir-  
gend eine andere durch ein gewisses Verhalten zu errei-  
chende Absicht als Bedingung zum Grunde zu legen, die-  
ses Verhalten unmittelbar gebietet. Dieser Imperativ  
 [10]  ist categorisch. Er betrift nicht die Materie der  
Handlung und das, was aus ihr erfolgen soll, sondern  
die Form und das Prinzip, woraus sie selbst folgt, und  
das Wesentlich-Gute derselben besteht in der Gesinnung,  
der Erfolg mag seyn, welcher er wolle. Dieser Impera-  
 [15]  tiv mag der der Sittlichkeit heissen.  
     Das Wollen nach diesen dreyerley Prinzipien wird  
auch durch die Ungleichheit der Nöthigung des Willens  
deutlich unterschieden. Um diese nun auch merklich zu  
machen, glaube ich, daß man sie in ihrer Ordnung am  
 [20]  angemessensten so benennen würde, wenn man sagte: sie  
wären entweder Regeln der Geschicklichkeit, oder Rath-  
schläge der Klugheit, oder Gebote (Gesetze) der Sitt-  
lichkeit. Denn nur das Gesetz führt den Begriff einer  
unbedingten und zwar obiectiven und mithin allgemein  
 [25]  gültigen Nothwendigkeit bey sich, und Gebote sind Ge-  
    
 
43 [4:416]
        

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setze, denen gehorcht, d. i. auch wider Neigung Folge  
geleistet werden muß. Die Rathgebung enthält zwar  
Nothwendigkeit, die aber blos unter subiectiver gefälliger  
Bedingung, ob dieser oder jene Mensch dieses oder je-  
 [5]  nes zu seiner Glückseligkeit zähle, gelten kann; dagegen  
der categorische Imperativ durch keine Bedingung einge-  
schränkt wird und als absolut- obgleich practisch noth-  
wendig ganz eigentlich ein Gebot heissen kann. Man  
könnte die ersteren Imperative auch technisch (zur Kunst  
 [10]  gehörig), die zweyten pragmatisch *) (zur Wohlfarth),  
die dritten moralisch (zum freyen Verhalten überhaupt,  
d. i. zu den Sitten gehörig), nennen.  
     Nun entsteht die Frage: wie sind alle diese Impe-  
rative möglich? Diese Frage verlangt nicht zu wissen,  
 [15]  wie die Vollziehung der Handlung, welche der Impera-  
tiv gebietet, sondern wie blos die Nöthigung des Willens,  
die der Imperativ in der Aufgabe ausdrückt, gedacht  
werden könne. Wie ein Imperativ der Geschicklichkeit  
möglich sey, bedarf wohl keiner besondern Erörterung.  
 [20]  Wer den Zweck will, will (so fern die Vernunft auf sei-  
    
    *) Mich deucht, die eigentliche Bedeutung des Worts pragmatisch  
        könne so am genauesten bestimmt werden. Denn pragmatisch  
        werden die Sanctionen genannt, welche eigentlich nicht aus  
        dem Rechte der Staaten, als nothwendige Gesetze, sondern  
 [25]         aus der Vorsorge für die allgemeine Wohlfarth fließen.  
        Pragmatisch ist eine Geschichte abgefaßt, wenn sie klug macht,  
        d. i. die Welt belehrt, wie sie ihren Vortheil besser, oder we-  
        nigstens eben so gut, als die Vorwelt, besorgen könne.  
 
 
44 [4:416-417]
        

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ne Handlungen entscheidenden Einfluß hat), auch das dazu  
unentbehrlich nothwendige Mittel, das in seiner Gewalt  
ist. Dieser Satz ist, was das Wollen betrift, analy-  
tisch; denn in dem Wollen eines Obiects, als meiner  
 [5]  Wirkung, wird schon meine Caussalität, als handelnder  
Ursache, d. i. der Gebrauch der Mittel, gedacht und  
der Imperativ zieht den Begriff nothwendiger Handlun-  
gen zu diesem Zwecke schon aus dem Begriff eines Wol-  
lens dieses Zwecks heraus, (die Mittel selbst zu einer vor-  
 [10]  gesetzten Absicht zu bestimmen, dazu gehören allerdings  
synthetische Sätze, die aber nicht den Grund betreffen, den  
Actus des Willens, sondern das Obiect wirklich zu machen).  
Daß, um eine Linie nach einem sichern Prinzip in zwey  
gleiche Theile zu theilen, ich aus den Enden derselben  
 [15]  zwey Creutzbogen machen müsse, das lehrt die Mathema-  
tik freylich nur durch synthetische Sätze; aber daß, wenn  
ich weiß, durch solche Handlung allein könne die gedach-  
te Wirkung geschehen, ich, wenn ich die Wirkung voll-  
ständig will, auch die Handlung wolle, die dazu erfoder-  
 [20]  lich ist, ist ein analytischer Satz, denn etwas als eine  
auf gewisse Art durch mich mögliche Wirkung und mich,  
in Ansehung ihrer, auf dieselbe Art handelnd vorstellen,  
ist ganz einerley.  
     Die Imperativen der Klugheit würden, wenn es  
 [25]  nur so leicht wäre, einen bestimmten Begriff von Glück-  
seligkeit zu geben, mit denen der Geschicklichkeit ganz  
    
 
45 [4:417]
        

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und gar übereinkommen, und eben so wohl analytisch  
seyn. Denn es würde eben so wohl hier, als dort,  
heissen: wer den Zweck will, will auch (der Vernunft  
gemäß nothwendig) die einzigen Mittel, die dazu in sei-  
 [5]  ner Gewalt sind. Allein es ist ein Unglück, daß der  
Begriff der Glückseligkeit ein so unbestimmter Begriff ist,  
daß, obgleich jeder Mensch zu dieser zu gelangen wünscht,  
er doch niemals bestimmt und mit sich selbst einstimmig  
sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle. Die  
 [10]  Ursache davon ist: daß alle Elemente, die zum Begriff  
der Glückseligkeit gehören, insgesammt empirisch sind,  
d. i. aus der Erfahrung müssen entlehnt werden, daß  
gleich wohl zur Idee der Glückseligkeit ein absolutes Gan-  
ze, ein Maximum des Wohlbefindens, in meinem gegen-  
 [15]  wärtigen und jedem zukünftigen Zustande erforderlich ist.  
Nun ists unmöglich, daß das einsehendeste und zugleich  
allervermögendste, aber doch endliche Wesen sich einen  
bestimmten Begriff von dem mache, was er hier eigent-  
lich wolle. Will er Reichthum, wie viel Sorge, Neid und  
 [20]  Nachstellung könnte er sich dadurch nicht auf den Hals  
ziehen. Will er viel Erkenntniß und Einsicht, vielleicht  
könnte das ein nur um desto schärferes Auge werden, um  
die Uebel, die sich für ihn jetzt noch verbergen und doch  
nicht vermieden werden können, ihm nur um desto schreck-  
 [25]  licher zu zeigen, oder seinen Begierden, die ihm schon  
genug zu schaffen machen, noch mehr Bedürfnisse aufzu-  
bürden. Will er ein langes Leben, wer steht ihm da-  
    
 
46 [4:417-418]
        

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für, daß es nicht ein langes Elend seyn würde? Will  
er wenigstens Gesundheit? wie oft hat noch Ungemäch-  
lichkeit des Körpers von Ausschweifung abgehalten, dar-  
ein ungeschränkte Gesundheit würde haben fallen lassen,  
 [5]  u. s. w. Kurz er ist nicht vermögend, nach irgend einem  
Grundsatze, mit völliger Gewisheit zu bestimmen, was  
ihn wahrhaftig glücklich machen werde, darum, weil hie-  
zu Allwissenheit erfoderlich seyn würde. Man kann also  
nicht nach bestimmten Prinzipien handeln, um glücklich  
 [10]  zu seyn, sondern nur nach empirischen Rathschlägen, z.  
B. der Diät, der Sparsamkeit, der Höflichkeit, der Zu-  
rückhaltung u. s. w. von welchen die Erfahrung lehrt,  
daß sie das Wohlbefinden im Durchschnitte am meisten  
befördern. Hieraus folgt, daß die Imperativen der  
 [15]  Klugheit, genau zu reden, gar nicht gebieten, d. i. Hand-  
lungen obiectiv als practisch-nothwendig darstellen kön-  
nen, daß sie eher für Anrathungen (consilia), als Gebote  
(praecepta) der Vernunft zu halten sind, daß die Auf-  
gabe: sicher und allgemein zu bestimmen, welche Hand-  
 [20]  lung die Glückseligkeit eines vernünftigen Wesens beför-  
dern werde, völlig unauflößlich, mithin kein Imperativ  
in Ansehung derselben möglich sey, der im strengen Ver-  
stande geböte, das zu thun, was glücklich macht, weil  
Glückseligkeit nicht ein Ideal der Vernunft, sondern der  
 [25]  Einbildungskraft ist, was blos auf empirischen Gründen  
beruht, von denen man vergeblich erwartet, daß sie eine  
Handlung bestimmen sollten, dadurch die Totalität einer  
    
 
47 [4:418-419]
        

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in der That unendlichen Reihe von Folgen erreicht wür-  
de. Dieser Imperativ der Klugheit würde indessen,  
wenn man annimmt, die Mittel zur Glückseligkeit ließen  
sich sicher angeben, ein analytisch-practischer Satz seyn:  
 [5]  Denn er ist von dem Imperativ der Geschicklichkeit nur  
darin unterschieden, daß bey diesem der Zweck blos mög-  
lich, bey jenem aber gegeben ist; da beyde aber blos die  
Mittel zu demjenigen gebieten, von dem man voraussetzt,  
daß man es als Zweck wollte, so ist der Imperativ, der  
 [10]  das Wollen der Mittel für den, der den Zweck will, ge-  
bietet, in beyden Fällen analytisch. Es ist also in An-  
sehung der Möglichkeit eines solchen Imperativs auch kei-  
ne Schwierigkeit.  
     Dagegen, wie der Imperativ der Sittlichkeit mög-  
 [15]  lich sey, ist ohne Zweifel die einzige einer Auflösung be-  
dürftige Frage, da er gar nicht hypothetisch ist und also  
die obiectiv-vorgestellte Nothwendigkeit sich auf keine  
Voraussetzung stützen kann, wie bey den hypothetischen  
Imperativen. Nur ist immer hiebey nicht aus der Acht  
 [20]  zu lassen, daß es durch kein Beispiel, mithin empirisch  
auszumachen sey, ob es überall irgend einen dergleichen  
Imperativ gebe, sondern zu besorgen, daß alle, die ca-  
tegorisch scheinen, doch versteckter Weise hypothetisch seyn  
mögen, z. B. wenn es heißt: du sollt nichts betrüglich  
 [25]  versprechen, und man nimmt an, daß die Nothwendigkeit  
dieser Unterlassung nicht etwa bloße Rathgebung zu Ver-  
    
 
48 [4:419]
        

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meidung irgend eines andern Uebels sey, so daß es etwa  
hieße: du sollt nicht lügenhaft versprechen, damit du  
nicht, wenn es offenbar wird, dich um den Credit brin-  
gest, sondern wenn man behauptet, eine Handlung die-  
 [5]  ser Art müsse für sich selbst als böse betrachtet werden,  
der Imperativ des Verbots sey also categorisch; so kann  
man doch in keinem Beyspiel mit Gewißheit darthun, daß  
der Wille hier ohne andere Triebfeder, blos durchs Ge-  
setz, bestimmt werde, wenns gleich so scheint; denn es  
 [10]  ist immer möglich, daß ingeheim Furcht für Beschämung,  
vielleicht auch dunkle Besorgnis anderer Gefahren, Einflus  
auf den Willen haben möge. Denn wer kann das Nicht-  
seyn einer Ursache durch Erfahrung beweisen, da diese  
nichts weiter lehrt, als daß wir jene nicht wahrnehmen.  
 [15]  Auf solchen Fall aber würde der sogenannte moralische  
Imperativ, der als ein solcher categorisch und unbedingt  
erscheint, in der That nur eine pragmatische Vorschrift  
seyn, die uns auf unsern Vortheil aufmerksam macht und  
uns blos lehrt, diesen in Acht zu nehmen.  
 [20]       Wir werden also die Möglichkeit eines categori-  
schen Imperativs gänzlich a priori zu untersuchen haben,  
da uns hier der Vortheil nicht zu statten kommt, daß die  
Wirklichkeit desselben in der Erfahrung gegeben, und al-  
so die Möglichkeit nicht zur Festsetzung, sondern blos zur  
 [25]  Erklärung nöthig wäre. So viel ist aber vorläufig ein-  
zusehen: daß der categorische Imperativ allein als ein  
    
 
49 [4:419-420]
        

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practisches Gesetz laute, die übrigen insgesamt zwar  
Prinzipien des Willens, aber nicht Gesetze heissen kön-  
nen; weil, was blos zur Erreichung einer beliebigen Ab-  
sicht zu thun nothwendig ist, an sich als zufällig betrachtet  
 [5]  werden kann, und wir von der Vorschrift jederzeit los  
seyn können, wenn wir die Absicht aufgeben, dahingegen  
das unbedingte Gebot dem Willen kein Belieben in Anse-  
hung des Gegentheils frey läßt, mithin allein diejenige  
Nothwendigkeit bey sich führt, welche wir zum Gesetze  
 [10]  verlangen.  
     Zweytens ist bey diesem categorischen Imperativ  
oder Gesetze der Sittlichkeit der Grund der Schwierigkeit,  
(die Möglichkeit desselben einzusehen), auch sehr groß. Er  
ist ein synthetisch practischer Satz *) a priori, und da  
 [15]  die Möglichkeit der Sätze dieser Art einzusehen, so viel  
Schwierigkeit im theoretischen Erkenntnisse hat, so läßt  
sich leicht abnehmen, daß sie im practischen nicht weniger  
haben werde.  
    
    *) Ich verknüpfe mit dem Willen, ohne vorausgesetzte Bedingung  
 [20]         aus irgend einer Neigung, die That, a priori, mithin noth-  
        wendig, (obgleich nur obiectiv d. i. unter der Idee einer Vernunft,  
        die über alle subiective Bewegursachen völlige Gewalt hätte.)  
        Dieses ist also ein practischer Satz, der das Wollen einer Hand-  
        lung nicht aus einem anderen schon vorausgesetzten analytisch  
 [25]         ableitet, (denn wir haben keinen so vollkommenen Willen), son-  
        dern mit dem Begriffe des Willens eines vernünftigen Wesens  
        unmittelbar, als etwas, das in ihm nicht enthalten ist, ver-  
        knüpft.  
 
 
50 [4:420]
        

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     Bey dieser Aufgabe wollen wir zuerst versuchen, ob  
nicht vielleicht der bloße Begriff eines categorischen Im-  
perativs auch die Formel desselben an die Hand gebe, die  
den Satz enthält, der allein ein categorischer Imperativ  
 [5]  seyn kann; denn wie ein solches absolute Gebot möglich  
sey, wenn wir auch gleich wissen, wie es lautet, wird  
noch besondere und schwere Bemühung erfodern, die wir  
aber zum letzten Abschnitte aussetzen.  
     Wenn ich mir einen hypothetischen Imperativ über-  
 [10]  haupt denke, so weiß ich nicht zum voraus, was er ent-  
halten werde: bis mir die Bedingung gegeben ist. Den-  
ke ich mir aber einen categorischen Imperativ, so weiß  
ich sofort, was er enthalte. Denn da der Imperativ  
ausser dem Gesetze nur die Nothwendigkeit der Maxime *)  
 [15]  enthält, diesem Gesetze gemäß zu seyn, das Gesetz aber  
keine Bedingung enthält, auf die es eingeschränkt war,  
so bleibt nichts, als die Allgemeinheit eines Gesetzes über-  
haupt übrig, welchem die Maxime der Handlung gemäß  
    
    *) Maxime ist das subiective Prinzip zu handeln, und muß vom  
 [20]         obiectiven Prinzip, nämlich dem practischen Gesetze, unterschie-  
        den werden. Jene enthält die practische Regel, die die Vernunft  
        den Bedingungen des Subiects gemäß (öfters der Unwissenheit  
        oder auch den Neigungen desselben) bestimmt, und ist also der  
        Grundsatz, nach welchem das Subiect handelt; das Gesetz aber  
 [25]         ist das obiective Prinzip, gültig für jedes vernünftige Wesen,  
        und der Grundsatz, nach dem es handeln soll, d. i. ein Impe-  
        rativ.  
 
 
51 [4:420-421]
        

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seyn soll, und welche Gemäßheit allein den Imperativ ei-  
gentlich als nothwendig vorstellt.  
     Der categorische Imperativ ist also nur ein einziger  
und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxi-  
 [5]  me, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie  
ein allgemeines Gesetz werde.  
     Wenn nun aus diesem einigen Imperativ alle Im-  
perativen der Pflicht, als aus ihrem Prinzip, abgeleitet  
werden können, so werden wir, ob wir es gleich unaus-  
 [10]  gemacht lassen, ob nicht überhaupt das, was man Pflicht  
nennt, ein leerer Begriff sey, doch wenigstens anzeigen  
können, was wir dadurch denken und was dieser Begriff  
sagen wolle.  
     Weil die Allgemeinheit des Gesetzes, wornach Wir-  
 [15]  kungen geschehen, dasjenige ausmacht, was eigentlich  
Natur im allgemeinsten Verstande (der Form nach),  
d. i. das Daseyn der Dinge, heißt, so fern es nach all-  
gemeinen Gesetzen bestimmt ist, so könnte der allgemeine  
Imperativ der Pflicht auch so lauten: handle so, als  
 [20]  ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Wil-  
len zum allgemeinen Naturgesetze werden  
sollte.  
     Nun wollen wir einige Pflichten herzählen, nach  
der gewöhnlichen Eintheilung derselben, in Pflichten ge-  
    
 
52 [4:421]
        

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gen uns selbst und gegen andere Menschen, in vollkom-  
mene und unvollkommene Pflichten *).  
     1) Einer, der durch eine Reihe von Uebeln, die  
bis zur Hoffnungslosigkeit angewachsen ist, einen Ueber-  
 [5]  druß am Leben empfindet, ist noch so weit im Besitze sei-  
ner Vernunft, daß er sich selbst fragen kann, ob es auch  
nicht etwa der Pflicht gegen sich selbst zuwider sey, sich  
das Leben zu nehmen. Nun versucht er: ob die Maxi-  
me seiner Handlung wohl ein allgemeines Naturgesetz  
 [10]  werden könne. Seine Maxime aber ist: ich mache es  
mir aus Selbstliebe zum Prinzip, daß wenn das Leben  
bey seiner längern Frist mehr Uebel droht, als es An-  
nehmlichkeit verspricht, es mir abzukürzen. Es frägt  
sich nur noch, ob dieses Prinzip der Selbstliebe ein allge-  
 [15]  meines Naturgesetz werden könne. Da sieht man aber  
bald, daß eine Natur, deren Gesetz es wäre, durch die-  
selbe Empfindung, deren Bestimmung es ist, zur Beför-  
    
    *) Man muß hier wohl merken, daß ich die Eintheilung der Pflich-  
        ten für eine künftige Metaphysik der Sitten mir gänzlich  
 [20]         vorbehalte, diese hier also nur als beliebig (um meine Bey-  
        spiele zu ordnen) dastehe. Uebrigens verstehe ich hier unter  
        einer vollkommenen Pflicht diejenige, die keine Ausnahme zum  
        Vortheil der Neigung verstattet, und da habe ich nicht blos  
        äussere, sondern auch innere vollkommene Pflichten, welches  
 [25]         dem in Schulen angenommenen Wortgebrauch zuwider läuft,  
        ich aber hier nicht zu verantworten gemeynet bin, weil es zu  
        meiner Absicht einerley ist, ob man es mir einräumt, oder  
        nicht.  
 
 
53 [4:421-422]
        

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derung des Lebens anzutreiben, das Leben selbst zu zer-  
stöhren, ihr selbst widersprechen und also nicht als Na-  
tur bestehen würde, mithin jene Maxime unmöglich als  
allgemeines Naturgesetz statt finden könne, und folglich  
 [5]  dem obersten Prinzip aller Pflicht gänzlich widerstreite.  
     2) Ein anderer sieht sich durch Noth gedrungen,  
Geld zu borgen. Er weiß wohl, daß er nicht wird be-  
zahlen können, sieht aber auch, daß ihm nichts geliehen  
werden wird, wenn er nicht vestiglich verspricht, es zu  
 [10]  einer bestimmten Zeit zu bezahlen. Er hat Lust, ein sol-  
ches Versprechen zu thun; noch aber hat er so viel Ge-  
wissen, sich zu fragen: ist es nicht unerlaubt und pflicht-  
widrig, sich auf solche Art aus Noth zu helfen? Gesetzt,  
er beschlösse es doch, so würde seine Maxime der Hand-  
 [15]  lung so lauten: wenn ich mich in Geldnoth zu seyn glau-  
be, so will ich Geld borgen und versprechen, es zu bezah-  
len, ob ich gleich weiß, es werde niemals geschehen.  
Nun ist dieses Prinzip der Selbstliebe, oder der eigenen  
Zuträglichkeit, mit meinem ganzen künftigen Wohlbefin-  
 [20]  den vielleicht wohl zu vereinigen, allein jetzt ist die Fra-  
ge: ob es recht sey? Ich verwandle also die Zumuthung  
der Selbstliebe in ein allgemeines Gesetz und richte die Fra-  
ge so ein: wie es denn stehen würde, wenn meine  
Maxime ein allgemeines Gesetz würde. Da sehe ich nun  
 [25]  sogleich, daß sie niemals als allgemeines Naturgesetz gel-  
ten und mit sich selbst zusammenstimmen könne, sondern  
    
 
54 [4:422]
        

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sich nothwendig widersprechen müsse. Denn die Allge-  
meinheit eines Gesetzes, daß jeder, nachdem er in Noth  
zu seyn glaubt, versprechen könne, was ihm einfällt,  
mit dem Vorsatz, es nicht zu halten, würde das Verspre-  
 [5]  chen und den Zweck, den man damit haben mag, selbst  
unmöglich machen, indem niemand glauben würde, daß  
ihm was versprochen sey, sondern über alle solche Aeuße-  
rung, als eitles Vorgeben, lachen würde.  
     3) Ein dritter findet in sich ein Talent, welches  
 [10]  vermittelst einiger Cultur ihn zu einem in allerley Absicht  
brauchbaren Menschen machen könnte. Er sieht sich aber  
in bequemen Umständen, und zieht es vor, dem Vergnü-  
gen nachzuhängen, als sich mit Erweiterung und Ver-  
besserung seiner glücklichen Naturanlagen zu bemühen.  
 [15]  Noch frägt er aber: ob, ausser der Uebereinstimmung,  
die seine Maxime der Verwahrlosung seiner Naturgaben  
mit seinem Hange zur Ergötzlichkeit an sich hat, sie auch  
mit dem, was man Pflicht nennt, übereinstimme. Da  
sieht er nun, daß zwar eine Natur nach einem solchen  
 [20]  allgemeinen Gesetze immer noch bestehen könne, obgleich  
der Mensch (so wie die Südsee-Einwohner), sein Talent  
rosten liesse, und sein Leben blos auf Müssiggang, Er-  
götzlichkeit, Fortpflanzung, mit einem Wort, auf Genuß  
zu verwenden bedacht wäre; allein er kann unmöglich  
 [25]  wollen, daß dieses ein allgemeines Naturgesetz werde,  
oder als ein solches in uns durch Naturinstinkt gelegt  
    
 
55 [4:422-423]
        

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sey. Denn als ein vernünftiges Wesen will er nothwen-  
dig, daß alle Vermögen ihm entwickelt werden, weil sie  
ihm doch zu allerley möglichen Absichten dienlich sind.  
     Noch denkt ein vierter, dem es wohl geht, indessen  
 [5]  er sieht, daß andere mit grossen Mühseligkeiten zu käm-  
pfen haben, (denen er auch wohl helfen könnte): was  
gehts mich an? mag doch ein jeder so glücklich seyn, als  
es der Himmel will, oder er sich selbst machen kann, ich  
werde ihm nichts entziehen, ja nicht einmal beneiden,  
 [10]  nur zu seinem Wohlbefinden oder seinem Beystande in der  
Noth, habe ich nicht Lust, etwas beyzutragen! Nun könn-  
te allerdings, wenn eine solche Denkungsart ein allge-  
meines Naturgesetz würde, das menschliche Geschlecht gar  
wohl bestehen, und ohne Zweifel noch besser, als wenn  
 [15]  jedermann von Theilnehmung und Wohlwollen schwatzt,  
auch sich beeifert, gelegentlich dergleichen auszuüben, da-  
gegen aber auch, wo man nur kann, betrügt, das Recht  
der Menschen verkauft, oder ihm sonst Abbruch thut.  
Aber, obgleich es möglich ist, daß nach jener Maxime  
 [20]  ein allgemeines Naturgesetz wohl bestehen könnte; so ist  
es doch unmöglich, zu wollen, daß ein solches Prinzip  
als Naturgesetz allenthalben gelte. Denn ein Wille, der  
dieses beschlöße, würde sich selbst widerstreiten, indem  
der Fälle sich doch manche eräugnen können, wo er ande-  
 [25]  rer Liebe und Theilnehmung bedarf, und wo er, durch  
ein solches aus seinem eigenen Willen entsprungenen Na-  
    
 
56 [4:423]
        

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turgesetz, sich selbst alle Hoffnung des Beystandes, den  
er sich wünscht, rauben würde.  
     Dieses sind nun einige von den vielen wirklichen  
oder wenigstens von uns dafür gehaltenen Pflichten, deren  
 [5]  Abtheilung aus dem einigen angeführten Prinzip klar in  
die Augen fällt. Man muß wollen können, daß eine  
Maxime unserer Handlung ein allgemeines Gesetz werde:  
dies ist der Canon der moralischen Beurtheilung derselben  
überhaupt. Einige Handlungen sind so beschaffen, daß  
 [10]  ihre Maxime ohne Widerspruch nicht einmal als allge-  
meines Naturgesetz gedacht werden kann, weit gefehlt,  
daß man noch wollen könne, es sollte ein solches werden.  
Bey andern ist zwar jene innere Unmöglichkeit nicht an-  
zutreffen, aber es ist doch unmöglich, zu wollen, daß ih-  
 [15]  re Maxime zur Allgemeinheit eines Naturgesetzes erhoben  
werde, weil ein solcher Wille sich selbst widersprechen  
würde. Man sieht leicht: daß die erstere der strengen  
oder engeren (unnachlaßlichen) Pflicht, die zweyte nur  
der weiteren (verdienstlichen) Pflicht widerstreite, und  
 [20]  so alle Pflichten, was die Art der Verbindlichkeit, (nicht  
das Obiect ihrer Handlung), betrift, durch diese Beyspie-  
le in ihrer Abhängigkeit von dem einigen Prinzip vollstän-  
dig aufgestellt werden.  
     Wenn wir nun auf uns selbst bey jeder Uebertre-  
 [25]  tung einer Pflicht Acht haben, so finden wir, daß wir  
    
 
57 [4:423-424]
        

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Grundlegung · Zweyter Abschnitt · Erste Auflage 1785
 
wirklich nicht wollen, es solle unsere Maxime ein allge-  
meines Gesetz werden, denn das ist uns unmöglich, son-  
dern das Gegentheil derselben soll vielmehr allgemein ein  
Gesetz bleiben; nur nehmen wir uns die Freyheit, für  
 [5]  uns, oder (auch nur für diesesmal) zum Vortheil unse-  
rer Neigung, davon eine Ausnahme zu machen. Folg-  
lich, wenn wir alles aus einem und demselben Gesichts-  
puncte, nämlich der Vernunft, erwögen, so würden  
wir einen Widerspruch in unserem eigenen Willen antref-  
 [10]  fen, nämlich, daß ein gewisses Prinzip obiectiv als allge-  
meines Gesetz nothwendig sey und doch subiectiv nicht  
allgemein gelten, sondern Ausnahmen verstatten sollte.  
Da wir aber einmal unsere Handlung aus dem Gesichts-  
puncte eines ganz der Vernunft gemäßen, denn aber  
 [15]  auch eben dieselbe Handlung aus dem Gesichtspuncte ei-  
nes durch Neigung afficirten Willens betrachten, so ist  
wirklich hier kein Widerspruch, wohl aber ein Wider-  
stand der Neigung gegen die Vorschrift der Vernunft,  
(antagonismus), wodurch die Allgemeinheit des Prinzips  
 [20]  (vniuersalitas) in eine bloße Gemeingültigkeit (genera-  
litas) verwandelt wird, dadurch das practische Vernunft-  
prinzip mit der Maxime auf dem halben Wege zusam-  
menkommen soll. Ob nun dieses gleich in unserem eige-  
nen unpartheyisch angestellten Urtheile nicht gerechtferti-  
 [25]  get werden kann, so beweiset es doch, daß wir die Gül-  
tigkeit des categorischen Imperativs wirklich anerkennen  
und uns, (mit aller Achtung für denselben), nur einige,  
    
 
58 [4:424]
        

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wie es uns scheint, unerhebliche und uns abgedrungene  
Ausnahmen erlauben.  
     Wir haben so viel also wenigstens dargethan, daß,  
wenn Pflicht ein Begriff ist, der Bedeutung und wirkliche  
 [5]  Gesetzgebung für unsere Handlungen enthalten soll, diese  
nur in categorischen Imperativen, keinesweges aber in  
hypothetischen ausgedrückt werden könne; imgleichen ha-  
ben wir, welches schon viel ist, den Inhalt des catego-  
rischen Imperativs, der das Prinzip aller Pflicht (wenn  
 [10]  es überhaupt dergleichen gäbe), enthalten müßte, deut-  
lich und zu jedem Gebrauche bestimmt dargestellt. Noch  
sind wir aber nicht so weit, a priori zu beweisen, daß  
dergleichen Imperativ wirklich statt finde, daß es ein  
practisches Gesetz gebe, welches schlechterdings und ohne  
 [15]  alle Triebfedern für sich gebietet, und daß die Befolgung  
dieses Gesetzes Pflicht sey.  
     Bey der Absicht, dazu zu gelangen, ist es von der  
äußersten Wichtigkeit, sich dieses zur Warnung dienen zu  
lassen, daß man es sich ja nicht in den Sinn kommen  
 [20]  lasse, die Realität dieses Prinzips aus der besondern  
Eigenschaft der menschlichen Natur ableiten zu wol-  
len. Denn Pflicht soll practisch-unbedingte Nothwen-  
digkeit der Handlung seyn; sie muß also für alle ver-  
nünftige Wesen (auf die nur überall ein Imperativ tref-  
 [25]  fen kann), gelten und allein darum auch für allen mensch-  
lichen Willen ein Gesetz seyn. Was dagegen aus der  
    
 
59 [4:424-425]
        

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besondern Naturanlage der Menschheit, was aus ge-  
wissen Gefühlen und Hange, ja so gar, wo möglich, aus  
einer besonderen Richtung, die der menschlichen Vernunft  
eigen wäre, und nicht nothwendig für den Willen eines  
 [5]  jeden vernünftigen Wesens gelten müßte, abgeleitet wird,  
das kann zwar eine Maxime für uns, aber kein Gesetz  
abgeben, ein subiectiv Prinzip, nach welchem wir han-  
deln zu dürfen, Hang und Neigung haben, aber nicht ein  
obiectives, nach welchem wir angewiesen wären, zu han-  
 [10]  deln, wenn gleich aller unser Hang, Neigung und Natur-  
einrichtung dawider wäre, so gar, daß es um desto mehr  
die Erhabenheit und innere Würde des Gebots in einer  
Pflicht beweiset, je weniger die subiectiven Ursachen da-  
für, je mehr sie dagegen seyn, ohne doch deswegen die  
 [15]  Nöthigung durchs Gesetz nur im mindesten zu schwächen,  
und seiner Gültigkeit etwas zu benehmen.  
     Hier sehen wir nun die Philosophie in der That auf  
einen mißlichen Standpunkt gestellet, der fest seyn soll,  
unerachtet er weder im Himmel, noch auf der Erde, an  
 [20]  etwas gehängt, oder woran gestützt wird. Hier soll sie  
ihre Lauterkeit beweisen, als Selbsthalterin ihrer Gesetze,  
nicht als Herold derjenigen, welche ihr ein eingepflanzter  
Sinn, oder wer weiß welche, vormundschaftliche Natur  
einflüstert, die insgesammt, sie mögen immer besser seyn  
 [25]  als gar nichts, doch niemals Grundsätze abgeben können,  
die die Vernunft dictirt, und die durchaus völlig a prio-  
ri ihren Quell, und hiemit zugleich ihr gebietendes An-  
    
 
60 [4:425-426]
        

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sehen haben müssen: nichts von der Neigung des Men-  
schen, sondern alles von der Obergewalt des Gesetzes  
und der schuldigen Achtung für dasselbe zu erwarten, oder  
den Menschen widrigenfalls zur Selbstverachtung und  
 [5]  innern Abscheu zu verurtheilen.  
     Alles also, was empirisch ist, ist, als Zuthat zum  
Prinzip der Sittlichkeit, nicht allein dazu ganz untauglich,  
sondern der Lauterkeit der Sitten selbst höchst nachtheilig,  
an welchen der eigentliche und über allen Preis erhabene  
 [10]  Werth eines schlechterdings guten Willens, eben darinn  
besteht, daß das Prinzip der Handlung von allen Einflüs-  
sen zufälliger Gründe, die nur Erfahrung an die Hand  
geben kann, frey sey. Wider diese Nachlässigkeit oder  
gar niedrige Denkungsart, in Aufsuchung des Prinzips  
 [15]  unter empirischen Bewegursachen und Gesetzen, kann man  
auch nicht zu viel und zu oft Warnungen ergehen lassen,  
indem die menschliche Vernunft in ihrer Ermüdung gern  
auf diesem Polster ausruht, und in dem Traume süsser  
Vorspiegelungen (die sie doch statt der Juno eine Wolke  
 [20]  umarmen lassen), der Sittlichkeit einen aus Gliedern ganz  
verschiedener Abstammung zusammengeflickten Bastard un-  
terschiebt, der allem ähnlich sieht, was man daran sehen  
will, nur der Tugend nicht, für den, der sie einmal in  
ihrer wahren Gestalt erblickt hat. *)  
    
 [25]     *) Die Tugend in ihrer eigentlichen Gestalt erblicken, ist nichts  
        anders, als die Sittlichkeit, von aller Beymischung des Sinn-  
    
 
61 [4:426]
        

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     Die Frage ist also diese: ist es ein nothwendiges Ge-  
setz für alle vernünftige Wesen, ihre Handlungen je-  
derzeit nach solchen Maximen zu beurtheilen, von denen  
sie selbst wollen können, daß sie zu allgemeinen Gesetzen  
 [5]  dienen sollen? Wenn es ein solches ist, so muß es (völlig  
a priori) schon mit dem Begriffe des Willens eines ver-  
nünftigen Wesens überhaupt verbunden seyn. Um aber  
diese Verknüpfung zu entdecken, muß man, so sehr man  
sich auch sträubt, einen Schritt hinaus thun, nämlich zur  
 [10]  Metaphysik, obgleich in ein Gebiet derselben, welches  
von dem der speculativen Philosophie unterschieden ist,  
nämlich in die Metaphysik der Sitten. In einer prakti-  
schen Philosophie, wo es uns nicht darum zu thun ist,  
Gründe anzunehmen, von dem, was geschieht, sondern  
 [15]  Gesetze von dem, was geschehen soll, ob es gleich nie-  
mals geschieht d. i. obiectiv-practische Gesetze: da haben  
wir nicht nöthig, über die Gründe Untersuchung anzustel-  
len, warum etwas gefällt oder misfällt, wie das Vergnü-  
gen der blossen Empfindung vom Geschmacke, und ob  
 [20]  dieser von einem allgemeinen Wohlgefallen der Vernunft  
unterschieden sey; worauf Gefühl der Lust und Unlust be-  
ruhe, und wie hieraus Begierden und Neigungen, aus  
diesen aber, durch Mitwirkung der Vernunft, Maximen  
    
        lichen und allem unächten Schmuck des Lohns, oder der Selbst-  
 [25]         liebe entkleidet, darzustellen. Wie sehr sie alsdenn alles übrige,  
        was den Neigungen reizend erscheint, verdunkele, kann jeder ver-  
        mittelst des mindesten Versuchs seiner nicht ganz für alle Abstrac-  
        tion verdorbenen Vernunft leicht inne werden.  
 
 
62 [4:426-427]
        

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entspringen; denn das gehört alles zu einer empirischen  
Seelenlehre, welche den zweyten Theil der Naturlehre  
ausmachen würde, wenn man sie als Philosophie der  
Natur betrachtet, so fern sie auf empirischen Gesetzen  
 [5]  gegründet ist. Hier aber ist vom obiectiv-practischen  
Gesetze die Rede, mithin von dem Verhältnisse eines  
Willens zu sich selbst, so fern er sich blos durch Vernunft  
bestimmt, da denn also alles, was aufs Empirische Be-  
ziehung hat, von selbst wegfällt; weil, wenn die Ver-  
 [10]  nunft für sich allein das Verhalten bestimmt, (wovon  
wir die Möglichkeit jetzt eben untersuchen wollen), sie die-  
ses nothwendig a priori thun muß.  
     Der Wille wird als ein Vermögen gedacht, der  
Vorstellung gewisser Gesetze gemäß sich selbst zum  
 [15]  Handeln zu bestimmen. Und ein solches Vermögen kann  
nur in vernünftigen Wesen anzutreffen seyn. Nun ist das,  
was dem Willen zum obiectiven Grunde seiner Selbstbe-  
stimmung dient, der Zweck, und dieser, wenn er durch  
blosse Vernunft gegeben wird, muß für alle vernünftige  
 [20]  Wesen gleich gelten. Was dagegen blos den Grund der  
Möglichkeit der Handlung enthält, deren Wirkung Zweck  
ist, heißt das Mittel. Der subjective Grund des Begeh-  
rens ist die Triebfeder, der objective des Wollens der  
Bewegungsgrund; daher der Unterschied zwischen sub-  
 [25]  jectiven Zwecken, die auf Triebfedern beruhen, und obiecti-  
ven, die auf Bewegungsgründe ankommen, welche für  
    
 
63 [4:427]
        

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jedes vernünftige Wesen gelten. Practische Prinzipien  
sind formal, wenn sie von allen subiectiven Zwecken abstra-  
hiren, sie sind aber material, wenn sie diese, mithin ge-  
wisse Triebfedern zum Grunde legen. Die Zwecke, die  
 [5]  sich ein vernünftiges Wesen als Wirkungen seiner Hand-  
lung nach Belieben vorsetzt (materiale Zwecke), sind ins-  
gesamt nur relativ; denn nur blos ihr Verhältnis auf  
ein besonders geartetes Begehrungsvermögen des Sub-  
jects giebt ihnen den Werth, der daher keine allgemeine  
 [10]  für alle vernünftige Wesen, und auch nicht für jedes Wol-  
len gültige und nothwendige Prinzipien, d. i. practische  
Gesetze an die Hand geben kann. Daher sind alle die-  
se relative Zwecke nur der Grund von hypothetischen Im-  
perativen.  
 [15]       Gesetzt aber, es gäbe etwas, dessen Daseyn an  
sich selbst einen absoluten Werth hat, was, als Zweck  
an sich selbst, ein Grund bestimmter Gesetze seyn könnte,  
so würde in ihm, und nur in ihm allein, der Grund  
eines möglichen categorischen Imperativs d. i. practischen  
 [20]  Gesetzes liegen.  
     Nun sage ich: der Mensch, und überhaupt jedes ver-  
nünftige Wesen, existirt als Zweck an sich selbst, nicht  
blos als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder  
jenen Willen, sondern muß in allen seinen, so wohl auf  
 [25]  sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerich-  
    
 
64 [4:427-428]
        

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teten Handlungen, iederzeit zugleich als Zweck betrachtet  
werden. Alle Gegenstände der Neigungen haben nur einen  
bedingten Werth; denn, wenn die Neigungen und darauf  
gegründete Bedürfnisse nicht wären, so würde ihr Gegen-  
 [5]  stand ohne Werth seyn. Die Neigungen selber aber, als  
Quellen der Bedürfnis, haben so wenig einen absoluten  
Werth, um sie selbst zu wünschen, daß vielmehr gänz-  
lich davon frey zu seyn, der allgemeine Wunsch eines je-  
den vernünftigen Wesens seyn muß. Also ist der Werth  
 [10]  aller durch unsere Handlung zu erwerbenden Gegenstän-  
de jederzeit bedingt. Die Wesen, deren Daseyn zwar  
nicht auf unserm Willen, sondern der Natur beruht, ha-  
ben dennoch, wenn sie vernunftlose Wesen sind, nur  
einen relativen Werth, als Mittel, und heissen daher  
 [15]  Sachen, dagegen vernünftige Wesen Personen ge-  
nannt werden, weil ihre Natur sie schon als Zwecke an  
sich selbst, d. i. als etwas, das nicht blos als Mittel ge-  
braucht werden darf, auszeichnet, mithin so fern alle  
Willkühr einschränkt (und ein Gegenstand der Achtung  
 [20]  ist). Dies sind also nicht blos subiective Zwecke, deren  
Existenz, als Wirkung unserer Handlung, für uns ei-  
nen Werth hat; sondern obiective Zwecke, d. i. Dinge,  
deren Daseyn an sich selbst Zweck ist, und zwar einen  
solchen, an dessen Statt kein anderer Zweck gesetzt wer-  
 [25]  den kann, dem sie blos als Mittel zu Diensten stehen  
sollten, weil ohne dieses überall gar nichts von absolu-  
tem Werthe würde angetroffen werden; wenn aber al-  
    
 
65 [4:428]
        

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ler Werth bedingt, mithin zufällig wäre, so könnte für  
die Vernunft überall kein oberstes practisches Prinzip  
angetroffen werden.  
     Wenn es denn also ein oberstes practisches Prin-  
 [5]  zip und, in Ansehung des menschlichen Willens, einen  
categorischen Imperativ geben soll, so muß es ein solches  
seyn, das aus der Vorstellung dessen, was nothwendig  
für jedermann Zweck ist, weil es Zweck an sich selbst  
ist, ein objectives Prinzip des Willens ausmacht, mit-  
 [10]  hin zum allgemeinen practischen Gesetz dienen kann. Der  
Grund dieses Prinzips ist: die vernünftige Natur  
existirt als Zweck an sich selbst. So stellt sich noth-  
wendig der Mensch sein eigenes Daseyn vor; so fern ist es  
also ein subiectives Prinzip menschlicher Handlungen.  
 [15]  So stellt sich aber auch jedes andere vernünftige Wesen  
sein Daseyn zufolge eben desselben Vernunftgrundes, der  
auch für mich gilt, vor *), also ist es zugleich ein ob-  
iectives Prinzip, woraus, als einem obersten practi-  
schen Grunde, alle Gesetze des Willens müssen abgeleitet  
 [20]  werden können. Der practische Imperativ wird also  
folgender seyn: Handle so, daß du die Menschheit,  
so wohl in deiner Person, als in der Person eines  
jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals  
    
    *) Diesen Satz stelle ich hier als Postulat auf. Im letzten Ab-  
 [25]         schnitte wird man die Gründe dazu finden.  
 
 
66 [4:428-429]
        

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blos als Mittel brauchest. Wir wollen sehen, ob sich  
dieses bewerkstelligen lasse.  
     Um bey den vorigen Beyspielen zu bleiben so wird  
     Erstlich, nach dem Begriffe der nothwendigen  
 [5]  Pflicht gegen sich selbst, derjenige, der mit Selbstmorde  
umgeht, sich fragen, ob seine Handlung mit der Idee  
der Menschheit, als Zwecks an sich selbst, zusammen  
bestehen könne. Wenn er, um einem beschwerlichen Zu-  
stande zu entfliehen, sich selbst zerstört, so bedient er sich  
 [10]  einer Person, blos als eines Mittels, zu Erhaltung  
eines erträglichen Zustandes bis zu Ende des Lebens.  
Der Mensch aber ist keine Sache, mithin nicht etwas,  
das blos als Mittel gebraucht werden kann, sondern  
muß bey allen seinen Handlungen jederzeit als Zweck an  
 [15]  sich selbst betrachtet werden. Also kann ich über den  
Menschen in meiner Person nicht disponiren, ihn zu  
verstümmeln, zu verderben, oder zu tödten. (Die nä-  
here Bestimmung dieses Grundsatzes zur Vermeidung  
alles Mißverstandes, z.B. der Amputation der Glieder,  
 [20]  um mich zu erhalten, der Gefahr, der ich mein Leben  
aussetze, um mein Leben zu erhalten etc., muß ich hier  
vorbeygehen; sie gehört zur eigentlichen Moral).  
     Zweytens: was die nothwendige oder schuldige  
Pflicht gegen andere betrift, so wird der, so ein lügen-  
 [25]  haftes Versprechen gegen andere zu thun im Sinne hat,  
so fort einsehen, daß er sich eines andern Menschen  
    
 
67 [4:429]
        

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blos als Mittels bedienen will, ohne daß dieser zugleich  
den Zweck in sich enthalte. Denn der, den ich durch  
ein solches Versprechen zu meinen Absichten brauchen  
will, kann unmöglich in meiner Art, gegen ihn zu verfah-  
 [5]  ren, einstimmen und also selbst den Zweck dieser Handlung  
enthalten. Deutlicher fällt dieser Widerstreit gegen das  
Prinzip anderer Menschen in die Augen, wenn man Bey-  
spiele von Angriffen auf Freyheit und Eigenthum ande-  
rer herbeyzieht. Denn da leuchtet klar ein, daß der  
 [10]  Uebertreter der Rechte der Menschen, sich der Person an-  
derer blos als Mittel zu bedienen, gesonnen sey, ohne in  
Betracht zu ziehen, daß sie, als vernünftige Wesen, je-  
derzeit zugleich als Zwecke, d. i. nur als solche, die von  
eben derselben Handlung auch in sich den Zweck müssen  
 [15]  enthalten können, geschätzt werden sollen *).  
     Drittens in Ansehung der zufälligen (verdienstli-  
chen) Pflicht gegen sich selbst ists nicht genug, daß die  
    
    *) Man denke ja nicht, daß hier das triviale: quod tibi non vis  
        fieri &c zur Richtschnur oder Prinzip dienen könne. Denn es ist,  
 [20]         obzwar mit verschiedenen Einschränkungen, nur aus jenem ab-  
        geleitet; es kann kein allgemeines Gesetz seyn, denn es enthält  
        nicht den Grund der Pflichten gegen sich selbst, nicht der Lie-  
        bespflichten gegen andere, (denn mancher würde es gerne ein-  
        gehen, daß andere ihm nicht wohlthun sollen, wenn er es  
 [25]         nur überhoben seyn dürfte, ihnen Wohlthat zu erzeigen), end-  
        lich nicht der schuldigen Pflichten gegen einander; denn der  
        Verbrecher würde aus diesem Grunde gegen seine strafenden  
        Richter argumentiren, u. s. w.  
 
 
68 [4:429-430]
        

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Handlung nicht der Menschheit in unserer Person, als  
Zweck an sich selbst, widerstreite, sie muß auch dazu zu-  
sammenstimmen. Nun sind in der Menschheit Anlagen  
zu grösserer Vollkommenheit, die zum Zwecke der Natur  
 [5]  in Ansehung der Menschheit in unserem Subiect gehören;  
diese zu vernachlässigen, würde allenfalls wohl mit der  
Erhaltung der Menschheit, als Zwecks an sich selbst,  
aber nicht der Beförderung dieses Zwecks bestehen  
können.  
 [10]       Viertens, in Betreff der verdienstlichen Pflicht  
gegen andere, ist der Naturzweck, den alle Menschen  
haben, ihre eigene Glückseligkeit. Nun würde zwar  
die Menschheit bestehen können, wenn niemand zu des  
andern Glückseligkeit was beytrüge, doch aber ihr nichts  
 [15]  vorsetzlich entzöge; allein es ist dieses doch nur eine nega-  
tive und nicht positive Uebereinstimmung zur Menschheit,  
als Zweck an sich selbst, wenn jedermann auch nicht  
die Zwecke anderer, so viel an ihm ist, zu befördern  
trachtete. Denn das Subiect, welches Zweck an sich  
 [20]  selbst ist, dessen Zwecke müssen, wenn jene Vorstellung  
bey mir alle Wirkung thun soll, auch, so viel möglich,  
meine Zwecke seyn.  
     Dieses Prinzip der Menschheit und jeder vernünf-  
tigen Natur überhaupt, als Zwecks an sich selbst,  
 [25]  (welche die oberste einschränkende Bedingung der Frey-  
    
 
69 [4:430-431]
        

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heit der Handlungen eines jeden Menschen ist), ist nicht  
aus der Erfahrung entlehnt, erstlich, wegen seiner Allge-  
meinheit, da es auf alle vernünftige Wesen überhaupt  
geht, worüber etwas zu bestimmen keine Erfahrung zu-  
 [5]  reicht: zweytens, weil darinn die Menschheit nicht als  
Zweck des Menschen (subiectiv) d. i. als Gegenstand, den  
man sich von selbst wirklich zum Zwecke macht, sondern  
als obiectiver Zweck, der, wir mögen Zwecke haben,  
welche wir wollen, als Gesetz die oberste einschränkende  
 [10]  Bedingung aller subiectiven Zwecke ausmachen soll, vor-  
gestellt wird, mithin aus reiner Vernunft entspringen  
muß. Es liegt nämlich der Grund aller practischen Ge-  
setzgebung obiectiv in der Regel und der Form der All-  
gemeinheit, die sie ein Gesetz (allenfalls Naturgesetz) zu  
 [15]  seyn fähig macht, (nach dem ersten Prinzip), subiectiv  
aber im Zwecke, das Subiect aller Zwecke aber ist jedes  
vernünftige Wesen, als Zweck an sich selbst, (nach dem  
zweyten Prinzip): hieraus folgt nun das dritte practische  
Prinzip des Willens, als oberste Bedingung der Zusam-  
 [20]  menstimmung desselben mit der allgemeinen practischen  
Vernunft, die Idee des Willens jedes vernünftigen  
Wesens als eines allgemein gesetzgebenden Willens.  
     Alle Maximen werden nach diesem Prinzip ver-  
worfen, die mit der eigenen allgemeinen Gesetzgebung  
 [25]  des Willens nicht zusammen bestehen können. Der  
Wille wird also nicht als lediglich dem Gesetze unterwor-  
    
 
70 [4:431]
        

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fen, sondern so unterworfen, daß er auch als Selbst-  
gesetzgebend und eben um deswillen allererst dem Gesetze,  
(davon er selbst sich als Urheber betrachten kann), unter-  
worfen, angesehen werden muß.  
 [5]       Die Imperativen nach der vorigen Vorstellungsart,  
nämlich der allgemein einer Naturordnung ähnlichen  
Gesetzmäßigkeit der Handlungen, oder des allgemeinen  
Zwecksvorzuges vernünftiger Wesen an sich selbst, schlossen  
zwar von ihrem gebietenden Ansehen alle Beymischung  
 [10]  irgend eines Interesse, als Triebfeder, aus, eben dadurch,  
daß sie als categorisch vorgestellt wurden; sie wurden  
aber nur als categorisch angenommen, weil man der-  
gleichen annehmen mußte, wenn man den Begriff von  
Pflicht erklären wollte. Daß es aber practische Sätze  
 [15]  gäbe, die categorisch geböten, könnte für sich nicht be-  
wiesen werden, so wenig, wie es überhaupt in diesem  
Abschnitte auch hier noch geschehen kann; allein eines  
hätte doch geschehen können, nämlich: daß die Lossa-  
gung von allem Interesse beym Wollen aus Pflicht, als  
 [20]  das specifische Unterscheidungszeichen des categorischen  
vom hypothetischen Imperativ, in dem Imperativ selbst,  
durch irgend eine Bestimmung, die er enthielte, mit  
angedeutet würde, und dieses geschieht in gegenwärtiger  
dritten Formel des Prinzips, nämlich der Idee des  
 [25]  Willens eines jeden vernünftigen Wesens, als allgemein-  
gesetzgebenden Willens.  
    
 
71 [4:431-432]
        

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     Denn wenn wir einen solchen denken, so kann, ob-  
gleich ein Wille, der unter Gesetzen steht, noch ver-  
mittelst eines Interesse an dieses Gesetz gebunden seyn  
mag, dennoch ein Wille, der selbst zu oberst gesetzge-  
 [5]  bend ist, unmöglich so fern von irgend einem Interesse  
abhängen; denn ein solcher abhängender Wille würde  
selbst noch eines andern Gesetzes bedürfen, welches das  
Interesse seiner Selbstliebe auf die Bedingung einer Gül-  
tigkeit zum allgemeinen Gesetz einschränkte.  
 [10]       Also würde das Prinzip eines jeden menschlichen  
Willens, als eines durch alle seine Maximen allge-  
mein gesetzgebenden Willens *), wenn es sonst mit ihm  
nur seine Richtigkeit hätte, sich zum categorischen Im-  
perativ darinn gar wohl schicken, daß es, eben um  
 [15]  der Idee der allgemeinen Gesetzgebung willen, sich auf  
kein Interesse gründet und also unter möglichen Impe-  
rativen allein unbedingt seyn kann, oder noch besser,  
indem wir den Satz umkehren; wenn es einen categori-  
schen Imperativ giebt, (d. i. ein Gesetz für jeden Willen  
 [20]  eines vernünftigen Wesens), so kann er nur gebieten:  
alles aus der Maxime seines Willens, als eines solchen, zu  
thun, der zugleich sich selbst als allgemein gesetzgebend  
    
    *) Ich kann hier, Beyspiele zur Erläuterung dieses Prinzips an-  
        zuführen, überhoben seyn, denn die, so zuerst den categorischen  
 [25]         Imperativ und seine Formel erläuterten, können hier alle zu  
        eben dem Zwecke dienen.  
 
 
72 [4:432]
        

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zum Gegenstande haben könnte; denn alsdenn nur ist  
das practische Prinzip und der Imperativ, dem er ge-  
horcht, unbedingt, weil er gar kein Interesse zum Grun-  
de haben kann.  
 [5]       Es ist nun kein Wunder, wenn wir auf alle bishe-  
rige Bemühungen, die jemals unternommen worden,  
um das Prinzip der Sittlichkeit ausfündig zu machen, zu-  
rücksehen, warum sie insgesamt haben fehlschlagen müssen.  
Man sahe den Menschen durch seine Pflicht an Gesetze  
 [10]  gebunden, man ließ es sich aber nicht einfallen, daß er  
nur seiner eigenen und dennoch allgemeinen Gesetzge-  
bung unterworfen sey, und daß er nur verbunden sey,  
nach seinem eigenen, dem Naturzwecke nach aber, allge-  
mein gesetzgebenden Willen gemäß zu handeln. Denn,  
 [15]  wenn man sich ihn nur als einem Gesetz (welches es auch  
sey), unterworfen dachte: so mußte dieses irgend ein In-  
teresse als Reitz oder Zwang bey sich führen, weil es nicht  
als Gesetz aus seinem Willen entsprang, sondern dieser  
gesetzmässig von etwas andern genöthiget wurde, auf  
 [20]  gewisse Weise zu handeln. Durch diese ganz nothwendi-  
ge Folgerung aber war alle Arbeit, einen obersten Grund  
der Pflicht zu finden, unwiederbringlich verlohren. Denn  
man bekam niemals Pflicht, sondern Nothwendigkeit der  
Handlung aus einem gewissen Interesse heraus. Dieses  
 [25]  mochte nun ein eigenes oder fremdes Interesse seyn.  
Aber alsdann mußte der Imperativ jederzeit bedingt  
    
 
73 [4:432-433]
        

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ausfallen, und konnte zum moralischen Gebote gar nicht  
taugen. Ich will also dieses Prinzip der Autono-  
mie des Willens, im Gegensatz mit jedem andern, das  
ich deshalb zur Heteronomie zähle, nennen.  
 [5]       Der Begriff eines jeden vernünftigen Wesens, das  
sich durch alle Maximen seines Willens als allgemein  
gesetzgebend betrachten muß, um aus diesem Gesichtspunc-  
te sich selbst und seine Handlungen zu beurtheilen, führt  
auf einen ihm anhängenden sehr fruchtbaren Begriff, näm-  
 [10]  lich den eines Reichs der Zwecke.  
     Ich verstehe aber unter einem Reiche, die systema-  
tische Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch  
gemeinschaftliche Gesetze. Weil nun Gesetze die Zwecke  
ihrer allgemeinen Gültigkeit nach bestimmen, so wird,  
 [15]  wenn man von dem persönlichen Unterschiede vernünftiger  
Wesen, imgleichen allem Inhalte ihrer Privatzwecke ab-  
strahirt, ein Ganzes aller Zwecke, (so wohl der vernünf-  
tigen Wesen als Zwecke an sich, als auch der eigenen  
Zwecke, die ein jedes sich selbst setzen mag), in systemati-  
 [20]  scher Verknüpfung, d. i. ein Reich der Zwecke gedacht  
werden können, welches nach obigen Prinzipien mög-  
lich ist.  
     Denn vernünftige Wesen stehen alle unter dem Ge-  
setz, daß jedes derselben sich selbst und alle andere nie-  
    
 
74 [4:433]
        

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mals blos als Mittel, sondern jederzeit zugleich als  
Zweck an sich selbst behandeln dürfe. Hiedurch aber  
entspringt eine systematische Verbindung vernünftiger  
Wesen durch gemeinschaftliche obiective Gesetze, d. i. ein  
 [5]  Reich, welches, weil diese Gesetze eben die Beziehung  
derselben auf einander, als Zwecke und Mittel, zur Ab-  
sicht haben, ein Reich der Zwecke (freylich nur ein Ideal),  
heissen kann.  
     Es gehört aber ein vernünftiges Wesen als Glied  
 [10]  zum Reiche der Zwecke, wenn es darinn zwar allgemein  
gesetzgebend, aber auch diesen Gesetzen selbst unterworfen  
ist. Es gehört dazu als Oberhaupt, wenn es als ge-  
setzgebend keinem Willen eines andern unterworfen ist.  
     Das vernünftige Wesen muß sich jederzeit als gesetz-  
 [15]  gebend in einem durch Freyheit des Willens möglichen  
Reiche der Zwecke betrachten, es mag nun seyn als Glied  
oder als Oberhaupt. Den Platz des letztern kann es aber  
nicht blos durch die Maxime seines Willens, sondern nur  
alsdann, wenn es ein völlig unabhängiges Wesen, ohne  
 [20]  Bedürfnis und Einschränkung seines, dem Willen adä-  
quaten Vermögens ist, behaupten.  
     Moralität besteht also in der Beziehung aller Hand-  
lung auf die Gesetzgebung, dadurch allein ein Reich der  
Zwecke möglich ist. Diese Gesetzgebung muß aber in je-  
    
 
75 [4:433-434]
        

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dem vernünftigen Wesen selbst angetroffen werden, und  
aus seinem Willen entspringen können, dessen Prinzip  
also ist: keine Handlung nach einer andern Maxime zu  
thun, als so, daß es auch mit ihr bestehen könne, daß  
 [5]  sie ein allgemeines Gesetz sey, und also nur so, daß  
der Wille durch seine Maxime sich selbst zugleich als  
allgemein gesetzgebend betrachten könne. Sind nun  
die Maximen mit diesem obiectiven Prinzip der vernünf-  
tigen Wesen, als allgemein gesetzgebend, nicht durch ih-  
 [10]  re Natur schon nothwendig einstimmig, so heißt die Noth-  
wendigkeit der Handlung nach jenem Prinzip practische  
Nöthigung, d. i. Pflicht. Pflicht kommt nicht dem  
Oberhaupte im Reiche der Zwecke, wohl aber jedem  
Gliede, und zwar allen in gleichem Maaße, zu.  
 [15]       Die practische Nothwendigkeit nach diesem Prin-  
zip zu handeln, d. i. die Pflicht, beruht gar nicht auf Ge-  
fühlen, Antrieben und Neigungen, sondern blos auf dem  
Verhältnisse vernünftiger Wesen zu einander, in welchem  
der Wille eines vernünftigen Wesens jederzeit zugleich als  
 [20]  gesetzgebend betrachtet werden muß, weil es sie sonst  
nicht als Zweck an sich selbst denken könnte. Die Ver-  
nunft bezieht also jede Maxime des Willens als allgemein  
gesetzgebend auf jeden anderen Willen, und auch auf je-  
de Handlung gegen sich selbst, und dies zwar nicht um  
 [25]  irgend eines andern practischen Bewegungsgrundes oder  
künftigen Vortheils willen, sondern aus der Idee der  
    
 
76 [4:434]
        

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Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetze  
gehorcht, als dem, das es zugleich selbst giebt.  
     Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen  
Preiß, oder eine Würde. Was einen Preiß hat,  
 [5]  an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Aequiva-  
lent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preiß erha-  
ben ist, mithin kein Aequivalent verstattet, das hat eine  
Würde.  
     Was sich auf die allgemeine menschliche Neigungen  
 [10]  und Bedürfnisse bezieht, hat einen Marktpreiß, das  
was auch ohne ein Bedürfnis voraus zu setzen, einem ge-  
wissen Geschmacke, d. i. einem Wohlgefallen am blossen  
zwecklosen Spiel unserer Gemüthskräfte gemäß ist, einen  
Affectionspreiß, das aber, was die Bedingung aus-  
 [15]  macht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst seyn  
kann, hat nicht blos einen relativen Werth, d. i. einen  
Preiß, sondern einen innern Werth, d. i. Würde.  
     Nun ist Moralität die Bedingung, unter der al-  
lein ein vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst seyn  
 [20]  kann; weil nur durch sie es möglich ist, ein gesetzgebend  
Glied im Reiche der Zwecke zu seyn. Also ist Sittlich-  
keit und die Menschheit, so fern sie derselben fähig ist,  
dasjenige, was allein Würde hat. Geschicklichkeit und  
Fleiß im Arbeiten haben einen Marktpreiß: Witz, leb-  
    
 
77 [4:434-435]
        

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hafte Einbildungskraft und Launen einen Affectionspreiß:  
dagegen Treue im Versprechen, Wohlwollen aus Grund-  
sätzen, (nicht aus Instinkt), haben einen innern Werth.  
Die Natur sowohl als Kunst enthalten nichts, was sie,  
 [5]  in Ermanglung derselben, an ihre Stelle setzen könnten;  
denn ihr Werth besteht nicht in den Wirkungen, die dar-  
aus entspringen, im Vortheil und Nutzen, den sie schaf-  
fen, sondern in den Gesinnungen, d. i. den Maximen  
des Willens, die sich auf diese Art in Handlungen zu  
 [10]  offenbaren bereit sind, obgleich auch der Erfolg sie nicht  
begünstigte. Diese Handlungen bedürfen auch keiner  
Empfehlung, von irgend einer subiectiven Disposition  
oder Geschmack sie mit unmittelbarer Gunst und Wohl-  
gefallen anzusehen, keines unmittelbaren Hanges oder  
 [15]  Gefühles für dieselbe: sie stellen den Willen, der sie aus-  
übt, als Gegenstand einer unmittelbaren Achtung dar,  
dazu nichts als Vernunft gefodert wird, um sie dem Willen  
zu auferlegen, nicht von ihm zu erschmeicheln, welches  
letztere bey Pflichten ohnedem ein Widerspruch wäre.  
 [20]  Diese Schätzung giebt also den Werth einer solchen Den-  
kungsart als Würde zu erkennen und setzt sie über allen  
Preiß unendlich weg, mit dem sie gar nicht in Anschlag  
und Vergleichung gebracht werden kann, ohne sich gleich-  
sam an der Heiligkeit derselben zu vergreiffen.  
 [25]       Und was ist es denn nun, was die sittlich gute  
Gesinnung oder die Tugend berechtigt, so hohe Ansprü-  
    
 
78 [4:435]
        

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che zu machen. Es ist nichts geringeres als der Antheil,  
den sie dem vernünftigen Wesen an der allgemeinen  
Gesetzgebung verschaft und es hiedurch zum Gliede in  
einem möglichen Reiche der Zwecke tauglich macht, wozu  
 [5]  es durch seine eigene Natur schon bestimmt war, als  
Zweck an sich selbst und eben darum als gesetzgebend im  
Reiche der Zwecke, in Ansehung aller Naturgesetze als  
frey, nur denjenigen allein gehorchend, die es selbst  
giebt und nach welchen seine Maximen zu einer allgemei-  
 [10]  nen Gesetzgebung (der er sich zugleich selbst unterwirft,)  
gehören können. Denn es hat nichts einen Werth, als  
der ihm das Gesetz bestimmt. Die Gesetzgebung selbst  
aber, die allen Werth bestimmt, muß eben darum eine  
Würde, d. i. unbedingten, unvergleichbaren Werth ha-  
 [15]  ben, für welchen das Wort Achtung allein den gezie-  
menden Ausdruck der Schätzung abgiebt, die ein vernünf-  
tiges Wesen über sie anzustellen hat. Autonomie ist  
also der Grund der Würde der menschlichen und jeder  
vernünftigen Natur.  
 [20]       Die angeführte drey Arten, das Prinzip der Sitt-  
lichkeit vorzustellen, sind aber im Grunde nur so viele  
Formeln eben desselben Gesetzes, deren die eine die an-  
deren zwey von selbst in sich vereinigt. Indessen ist doch  
eine Verschiedenheit in ihnen, die zwar eher subiectiv  
 [25]  als obiectiv-practisch ist, nämlich, um eine Idee der  
Vernunft der Anschauung, (nach einer gewissen Analogie)  
    
 
79 [4:435-436]
        

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und dadurch dem Gefühle näher zu bringen. Alle Maxi-  
men haben nämlich 1) eine Form, welche in der Allge-  
meinheit besteht und, da ist die Formel des sittlichen Im-  
perativs so ausgedrückt: daß die Maximen so müssen ge-  
 [5]  wählt werden, als ob sie wie allgemeine Naturgesetze  
gelten sollten.  
     2) Eine Maxime, nämlich einen Zweck, und da sagt  
die Formel: daß das vernünftige Wesen, als Zweck sei-  
ner Natur nach, mithin als Zweck an sich selbst, jeder  
 [10]  Maxime zur einschränkenden Bedingung aller blos rela-  
tiven und willkührlichen Zwecke dienen müsse.  
     3) Eine vollständige Bestimmung aller Maxi-  
men durch jene Formel, nämlich: daß alle Maximen  
als eigener Gesetzgebung zu einem möglichen Reiche der  
 [15]  Zwecke, als einem Reiche der Natur *), zusammenstim-  
men sollen. Der Fortgang geschieht hier, wie durch  
die Categorien, der Einheit der Form des Willens, (der  
Allgemeinheit desselben), der Vielheit der Materie, (der  
Obiecte, d. i. der Zwecke), und der Allheit oder Tota-  
 [20]  lität des Systems derselben. Man thut aber besser,  
wenn man in der sittlichen Beurtheilung immer nach  
    
    *) Die Teleologie erwägt die Natur, als ein Reich der Zwecke,  
        die Moral ein mögliches Reich der Zwecke, als ein Reich  
        der Natur. Dort ist das Reich der Zwecke eine theoretische  
 [25]         Idee, zu Erklärung dessen, was da ist. Hier ist es eine  
        practische Idee, um das, was nicht da ist, aber durch unser  
        Thun und Lassen wirklich werden kann, und zwar eben dieser  
        Idee gemäß, zu Stande zu bringen.  
 
 
80 [4:436]
        

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der strengen Methode verfährt, und die allgemeine For-  
mel des categorischen Imperativs zum Grunde legt:  
handle nach der Maxime, die sich selbst zugleich zum  
allgemeinen Gesetze machen kann. Will man aber  
 [5]  dem sittlichen Gesetze zugleich Eingang verschaffen: so ist  
sehr nützlich, ein und eben dieselbe Handlung durch be-  
nannte drey Begriffe zu führen, und sie dadurch, so viel  
sich thun läßt, der Anschauung zu nähern.  
     Wir können nunmehr da endigen, von wo wir im  
 [10]  Anfange ausgiengen, nämlich dem Begriffe eines unbe-  
dingt guten Willens. Der Wille ist schlechterdings  
gut, der nicht böse seyn, mithin dessen Maxime, wenn  
sie zu einem allgemeinen Gesetze gemacht wird, sich selbst  
niemals widerstreiten kann. Dieses Prinzip ist also auch  
 [15]  sein oberstes Gesetz: handle jederzeit nach derjenigen Ma-  
xime, deren Allgemeinheit als Gesetzes du zugleich wol-  
len kanst; dieses ist die einzige Bedingung, unter der ein  
Wille niemals mit sich selbst im Widerstreite seyn kann,  
und ein solcher Imperativ ist categorisch. Weil die Gül-  
 [20]  tigkeit des Willens, als eines allgemeinen Gesetzes für  
mögliche Handlungen, mit der allgemeinen Verknüpfung  
des Daseyns der Dinge nach allgemeinen Gesetzen, die  
das Formale der Natur überhaupt ist, Analogie hat, so  
kann der categorische Imperativ auch so ausgedrückt wer-  
 [25]  den: Handle nach Maximen, die sich selbst zugleich  
als allgemeine Naturgesetze zum Gegenstande haben  
    
 
81 [4:436-437]
        

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können. So ist also die Formel eines schlechterdings  
guten Willens beschaffen.  
     Die vernünftige Natur nimmt sich dadurch vor den  
übrigen aus, daß sie ihr selbst einen Zweck setzt. Dieser  
 [5]  würde die Materie eines jeden guten Willens seyn. Da  
aber in der Idee eines, ohne einschränkende Bedingung  
(der Erreichung dieses oder jenes Zwecks) schlechterdings  
guten Willens, durchaus von allem zu bewirkenden  
Zwecke abstrahirt werden muß, (als der jeden Willen nur  
 [10]  relativ gut machen würde), so wird der Zweck hier nicht  
als ein zu bewirkender, sondern selbstständiger Zweck,  
mithin nur negativ, gedacht werden müssen, d. i. dem  
niemals zuwider gehandelt, der also niemals blos als  
Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck in jedem Wol-  
 [15]  len geschätzt werden muß. Dieser kann nun nichts anders  
als das Subiect aller möglichen Zwecke selbst seyn, weil  
dieses zugleich das Subiect eines möglichen, schlechter-  
dings guten Willens ist; denn dieser kann, ohne Wi-  
derspruch, keinem andern Gegenstande nachgesetzt wer-  
 [20]  den. Das Prinzip aber: handle in Beziehung auf ein  
jedes vernünftige Wesen (auf dich selbst und andere) so,  
daß es in deiner Maxime zugleich als Zweck an sich selbst  
gelte, ist demnach mit dem Grundsatze: handle nach ei-  
ner Maxime, die ihre eigene allgemeine Gültigkeit für  
 [25]  jedes vernünftige Wesen zugleich in sich enthält, im Grun-  
de einerley. Denn, daß ich meine Maxime im Gebrau-  
    
 
82 [4:437-438]
        

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che der Mittel zu jedem Zwecke auf die Bedingung ihrer  
Allgemeingültigkeit, als eines Gesetzes für jedes Subiect  
einschränken soll, sagt eben so viel, als das Subiect der  
Zwecke, d. i. das vernünftige Wesen selbst, muß niemals  
 [5]  blos als Mittel, sondern als oberste einschränkende Be-  
dingung im Gebrauche aller Mittel, d. i. jederzeit zugleich  
als Zweck, allen Maximen der Handlungen zum Grunde  
gelegt werden.  
     Nun folgt hieraus unstreitig: daß jedes vernünf-  
 [10]  tige Wesen, als Zweck an sich selbst, sich in Ansehung al-  
ler Gesetze, denen es nur immer unterworfen seyn mag,  
zugleich als allgemein gesetzgebend müsse ansehen können,  
weil eben diese Schicklichkeit seiner Maximen zur allge-  
meinen Gesetzgebung es als Zweck an sich selbst auszeich-  
 [15]  net, imgleichen, daß dieses seine Würde (Prärogativ) vor  
allen blossen Naturwesen es mit sich bringe, seine Maximen  
jederzeit aus dem Gesichtspuncte seiner selbst, zugleich  
aber auch jedes andern vernünftigen als gesetzgebenden  
Wesens, (die darum auch Personen heissen), nehmen zu  
 [20]  müssen. Nun ist auf solche Weise eine Welt vernünftiger  
Wesen (mundus intelligibilis) als ein Reich der Zwecke  
möglich, und zwar durch die eigene Gesetzgebung aller  
Personen als Glieder. Dennoch muß ein jedes vernünf-  
tige Wesen so handeln, als ob es durch seine Maximen  
 [25]  jederzeit ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reiche der  
Zwecke wäre. Das formale Prinzip dieser Maximen ist:  
    
 
83 [4:438]
        

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handle so, als ob deine Maxime zugleich zum allgemei-  
nen Gesetze (aller vernünftigen Wesen) dienen sollte.  
Ein Reich der Zwecke ist also nur möglich nach der Ana-  
logie mit einem Reiche der Natur, jenes aber nur nach  
 [5]  Maximen d. i. sich selbst auferlegten Regeln, diese nur  
nach Gesetzen auch äusserlich genöthigter wirkenden Ur-  
sachen. Dem unerachtet giebt man doch auch dem Na-  
turganzen, ob es schon als Maschine angesehen wird,  
dennoch, so fern es auf vernünftige Wesen, als seine  
 [10]  Zwecke, Beziehung hat, aus diesem Grunde den Nah-  
men eines Reichs der Natur. Ein solches Reich der  
Zwecke würde nun durch Maximen, deren Regel der ca-  
tegorische Imperativ aller vernünftigen Wesen vorschreibt,  
wirklich zu stande kommen, wenn sie allgemein befolgt  
 [15]  würden. Allein, obgleich das vernünftige Wesen darauf  
nicht rechnen kann, daß, wenn es auch gleich diese Maxi-  
me selbst pünctlich befolgte, darum jedes andere eben  
derselben treu seyn würde, imgleichen, daß das Reich der  
Natur und die zweckmässige Anordnung desselben, mit  
 [20]  ihm, als einem schicklichen Gliede, zu einem durch ihn selbst  
möglichen Reiche der Zwecke zusammenstimmen, d. i. sei-  
ne Erwartung der Glückseligkeit begünstigen werde: so  
bleibt doch jenes Gesetz: handle nach Maximen eines all-  
gemein gesetzgebenden Gliedes zu einem blos möglichen  
 [25]  Reiche der Zwecke, in seiner vollen Kraft, weil es ca-  
tegorisch gebietend ist. Und hierin liegt eben das Para-  
doxon: daß blos die Würde der Menschheit, als vernünf-  
    
 
84 [4:438-439]
        

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tiger Natur, ohne irgend einen andern dadurch zu erreichen-  
den Zweck, oder Vortheil, mithin die Achtung für eine blos-  
se Idee, dennoch zur unnachlaßlichen Vorschrift des Wil-  
lens dienen sollte, und daß gerade in dieser Unabhängig-  
 [5]  keit der Maxime von allen solchen Triebfedern, die Er-  
habenheit derselben bestehe, und die Würdigkeit eines  
jeden vernünftigen Subiects, ein gesetzgebendes Glied im  
Reiche der Zwecke zu seyn; denn sonst würde es nur als  
dem Naturgesetze seiner Bedürfnis unterworfen vorgestellt  
 [10]  werden müssen. Obgleich auch das Naturreich sowohl,  
als das Reich der Zwecke, als unter einem Oberhaupte  
vereinigt gedacht würde, und dadurch das letztere nicht  
mehr bloße Idee bliebe, sondern wahre Realität erhielte,  
so würde hiedurch zwar jener der Zuwachs einer starken  
 [15]  Triebfeder, niemals aber Vermehrung ihres innern  
Werths zu statten kommen; denn, diesem ungeachtet,  
müßte doch selbst dieser alleinige unumschränkte Gesetzge-  
ber immer so vorgestellt werden, wie er den Werth der  
vernünftigen Wesen, nur nach ihrem uneigennützigen,  
 [20]  blos aus jener Idee ihnen selbst vorgeschriebenen Verhal-  
ten, beurtheilte. Das Wesen der Dinge ändert sich durch  
ihre äußere Verhältnisse nicht, und was, ohne an das  
letztere zu denken, den absoluten Werth des Menschen  
allein ausmacht, darnach muß er auch, von wem es auch  
 [25]  sey, selbst vom höchsten Wesen, beurtheilt werden. Mo-  
ralität ist also das Verhältnis der Handlungen zur Auto-  
nomie des Willens, das ist, zur möglichen allgemeinen  
    
 
85 [4:439]
        

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Gesetzgebung durch die Maximen desselben. Die Hand-  
lung, die mit der Autonomie des Willens zusammen beste-  
hen kann, ist erlaubt, die nicht damit stimmt, ist uner-  
laubt. Der Wille, dessen Maximen nothwendig mit den  
 [5]  Gesetzen der Autonomie zusammenstimmen, ist ein heili-  
ger, schlechterdings guter Wille. Die Abhängigkeit ei-  
nes nicht schlechterdings guten Willens vom Prinzip der  
Autonomie (die moralische Nöthigung), ist Verbind-  
lichkeit. Diese kann also auf ein heiliges Wesen nicht  
 [10]  gezogen werden. Die obiective Nothwendigkeit einer  
Handlung aus Verbindlichkeit heißt Pflicht.  
     Man kann aus dem kurz vorhergehenden sich es  
jetzt leicht erklären, wie es zugehe: daß, ob wir gleich  
unter dem Begriffe von Pflicht uns eine Unterwürfigkeit  
 [15]  unter dem Gesetze denken, wir uns dadurch doch zugleich  
eine gewisse Erhabenheit und Würde an derjenigen Per-  
son vorstellen, die alle ihre Pflichten erfüllt. Denn so  
fern ist zwar keine Erhabenheit an ihr, als sie dem mo-  
ralischen Gesetze unterworfen ist, wohl aber, so fern  
 [20]  sie in Ansehung eben desselben zugleich gesetzgebend und  
nur darum ihm untergeordnet ist. Auch haben wir oben  
gezeigt, wie weder Furcht, noch Neigung, sondern le-  
diglich Achtung fürs Gesetz, diejenige Triebfeder sey, die  
der Handlung einen moralischen Werth geben kann. Un-  
 [25]  ser eigener Wille, so fern er, nur unter der Bedingung  
einer durch seine Maximen möglichen allgemeinen Gesetz-  
    
 
86 [4:439-440]
        

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gebung handeln würde, dieser uns mögliche Wille in der  
Idee, ist der eigentliche Gegenstand der Achtung, und  
die Würde der Menschheit bestehet eben in dieser Fähig-  
keit, allgemein gesetzgebend, obgleich mit dem Beding,  
 [5]  eben dieser Gesetzgebung zugleich selbst unterworfen zu  
seyn.  

Die Autonomie des Willens
  
als  
oberstes Prinzip der Sittlichkeit.

  
 [10]       Autonomie des Willens ist die Beschaffenheit des  
Willens, dadurch derselbe ihm selbst (unabhängig von  
aller Beschaffenheit der Gegenstände des Wollens) ein  
Gesetz ist. Das Prinzip der Autonomie ist also: nicht  
anders zu wählen als so, daß die Maximen seiner Wahl  
 [15]  in demselben Wollen zugleich als allgemeines Gesetz mit  
begriffen seyn. Daß diese praktische Regel ein Imperativ  
sey, d. i. der Wille jedes vernünftigen Wesens an ihr  
als Bedingung nothwendig gebunden sey, kann durch  
bloße Zergliederung der in ihm vorkommenden Begriffe,  
 [20]  nicht bewiesen werden, weil es ein synthetischer Satz ist;  
man müßte über die Erkenntniß der Objecte und zu einer  
Critik des Subjekts, d. i. der reinen practischen Ver-  
nunft hinausgehen, denn völlig a priori muß dieser syn-  
thetische Satz, der apodictisch gebietet, erkannt werden  
 [25]  können, dieses Geschäft aber gehört nicht in gegenwärti-  
    
 
87 [4:440]
        

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gen Abschnitt. Allein, daß gedachtes Prinzip der Au-  
tonomie das alleinige Prinzip der Moral sey, läßt sich  
durch bloße Zergliederung der Begriffe der Sittlichkeit  
gar wohl darthun. Denn dadurch findet sich, daß ihr  
 [5]  Prinzip ein categorischer Imperativ seyn müsse, dieser  
aber nichts mehr oder weniger, als gerade diese Autono-  
mie gebiete.  

Die Heteronomie des Willens,
  
als der Quell aller unächten Prinzipien  
 [10]  der Sittlichkeit.

  
     Wenn der Wille irgend worin anders, als in  
der Tauglichkeit seiner Maximen zu seiner eigenen allge-  
meinen Gesetzgebung, mithin, wenn er über sich selbst  
hinausgeht, und in der Beschaffenheit irgend eines seiner  
 [15]  Objecte das Gesetz sucht, das ihn bestimmen soll, so kommt  
jederzeit Heteronomie heraus. Der Wille giebt alsdenn  
sich nicht selbst, sondern das Object durch sein Verhält-  
nis zum Willen giebt diesem das Gesetz. Dies Verhält-  
nis, es beruhe nun auf der Neigung, oder auf Vorstel-  
 [20]  lungen der Vernunft, läßt nur hypothetische Imperati-  
ven möglich werden: ich soll etwas thun darum, weil ich  
etwas anders will. Dagegen sagt der moralische, mit-  
hin categorische Imperativ: ich soll so, oder so handeln,  
ob ich gleich nichts anders wollte. Z. E. jener sagt: ich  
 [25]  soll nicht lügen, wenn ich bei Ehren bleiben will, dieser  
    
 
88 [4:440-441]
        

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aber: ich soll nicht lügen, ob es mir gleich nicht die min-  
deste Schande zuzöge. Der letztere muß also von allem  
Gegenstande so fern abstrahiren, daß dieser gar keinen  
Einfluß auf den Willen habe, damit practische Vernunft  
 [5]  (Wille) nicht fremdes Interesse blos administrire, sondern  
blos ihr eigenes gebietendes Ansehen, als oberste Gesetz-  
gebung, beweise. So soll ich z.B. fremde Glückseligkeit  
zu befördern suchen, nicht, als wenn mir an deren Exi-  
stenz was gelegen wäre, (es sei durch unmittelbare Nei-  
 [10]  gung, oder irgend ein Wohlgefallen indirect durch Ver-  
nunft), sondern blos deswegen, weil die Maxime, die sie  
ausschließt, nicht in einem und demselben Wollen, als all-  
gemeinen Gesetz, begriffen werden kann.  

Eintheilung
  
 [15]  aller möglichen Prinzipien der Sittlichkeit  
aus dem  
angenommenen Grundbegriffe  
der Heteronomie.

  
     Die menschliche Vernunft hat hier, wie aller-  
 [20]  werts in ihrem reinen Gebrauche, so lange es ihr an  
Critik fehlt, vorher alle mögliche unrechte Wege ver-  
sucht, ehe es ihr gelingt, den einzigen wahren zu  
treffen.  
     Alle Prinzipien, die man aus diesem Gesichts-  
 [25]  puncte nehmen mag, sind entweder Empirisch oder Ra-  
    
 
89 [4:441]
        

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tional. Die ersteren, aus dem Prinzip der Glück-  
seligkeit, sind aufs physische oder moralische Gefühl, die  
zweyten, aus dem Prinzip der Vollkommenheit,  
entweder auf den Vernunftbegriff derselben, als möglicher  
 [5]  Wirkung, oder auf den Begriff einer selbstständigen Voll-  
kommenheit (dem Willen Gottes), als bestimmende Ursa-  
che unseres Willens, gebauet.  
     Empirische Prinzipien taugen überall nicht dazu,  
um moralische Gesetze darauf zu gründen. Denn die  
 [10]  Allgemeinheit, mit der sie für alle vernünftige Wesen  
ohne Unterschied gelten sollen, die unbedingte practische  
Nothwendigkeit, die ihnen dadurch auferlegt wird, fällt  
weg, wenn der Grund derselben von der besonderen  
Einrichtung der menschlichen Natur, oder den zu-  
 [15]  fälligen Umständen hergenommen wird, darinn sie gesetzt  
ist. Doch ist das Prinzip der eigenen Glückseligkeit  
am meisten verwerflich, nicht blos deswegen, weil es  
falsch ist und die Erfahrung dem Vorgeben, als ob das  
Wohlbefinden sich jederzeit nach dem Wohlverhalten rich-  
 [20]  te, widerspricht, auch nicht blos, weil es gar nichts zur  
Gründung der Sittlichkeit beyträgt, indem es ganz was  
anderes ist, einen glücklichen, als einen guten Menschen  
und diesen klug und auf seinen Vortheil abgewitzt, als  
ihn tugendhaft zu machen: sondern, weil es der Sitt-  
 [25]  lichkeit Triebfedern unterlegt, die sie eher untergraben und  
ihre ganze Erhabenheit zernichten, indem sie die Beweg-  
    
 
90 [4:441-442]
        

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ursachen zur Tugend mit denen zum Laster in eine Classe  
stellen und nur den Calcul besser ziehen lehren, den spe-  
cifischen Unterschied beyder aber ganz und gar auslöschen;  
dagegen das moralische Gefühl, dieser vermeyntliche be-  
 [5]  sondere Sinn *), (so seicht auch die Berufung auf sel-  
bigen ist, indem diejenigen, die nicht denken können,  
selbst in dem, was blos auf allgemeine Gesetze ankommt,  
sich durchs fühlen auszuhelfen glauben, so wenig auch  
Gefühle, die dem Grade nach von Natur unendlich von  
 [10]  einander unterschieden seyn, einen gleichen Maasstab  
des Guten und Bösen abgeben, auch einer durch sein  
Gefühl für andere gar nicht gültig urtheilen kann,) den-  
noch der Sittlichkeit und ihrer Würde dadurch näher  
treibt, daß er der Tugend die Ehre beweist, das Wohl-  
 [15]  gefallen und die Hochschätzung für sie, ihr unmittelbar  
zuzuschreiben und ihr nicht gleichsam ins Gesicht sagt,  
daß es nicht ihre Schönheit, sondern nur der Vortheil  
sey, der uns an sie knüpfe.  
     Unter den rationalen, oder Vernunftgründen der  
 [20]  Sittlichkeit, ist doch der ontologische Begriff der Voll-  
    
    *) Ich rechne das Prinzip des moralischen Gefühls zu dem der  
        Glückseligkeit, weil ein jedes empirische Interesse durch die  
        Annehmlichkeit, die etwas nur gewährt, es mag nun unmit-  
        telbar und ohne Absicht auf Vortheile, oder in Rücksicht auf  
 [25]         dieselbe geschehen, einen Beytrag zum Wohlbefinden verspricht.  
        Imgleichen muß man das Prinzip der Theilnehmung an an-  
        derer Glückseligkeit, mit Hutcheson, zu demselben von ihm  
        angenommenen moralischen Sinne rechnen.  
 
 
91 [4:442-443]
        

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kommenheit, (so leer, so unbestimmt, mithin unbrauch-  
bar er auch ist, um in dem unermeßlichen Felde mög-  
licher Realität die für uns schickliche größte Summe  
auszufinden, so sehr er auch, um die Realität, von der  
 [5]  hier die Rede ist, specifisch von jeder anderen zu unter-  
scheiden, einen unvermeidlichen Hang hat, sich im Cirkel  
zu drehen, und die Sittlichkeit, die er erklären soll, inge-  
heim voraus zu setzen, nicht vermeiden kann,) dennoch  
besser als der theologische Begriff, sie von einem göttli-  
 [10]  chen allervollkommensten Willen abzuleiten, nicht blos  
deswegen, weil wir seine Vollkommenheit doch nicht an-  
schauen, sondern sie von unseren Begriffen, unter denen  
der der Sittlichkeit der vornehmste ist, allein ableiten kön-  
nen, sondern weil, wenn wir dieses nicht thun, (wie es  
 [15]  denn, wenn es geschähe, ein grober Cirkel im Erklären  
seyn würde), der uns noch übrige Begriff seines Willens  
aus den Eigenschaften der Ehr- und Herrschbegierde, mit  
den furchtbaren Vorstellungen der Macht und des Rach-  
eifers verbunden, zu einem System der Sitten, welches  
 [20]  der Moralität gerade entgegen gesetzt wäre, die Grund-  
lage machen müßte.  
     Wenn ich aber zwischen dem Begriff des moralischen  
Sinnes und dem der Vollkommenheit überhaupt, (die bey-  
de der Sittlichkeit wenigstens nicht Abbruch thun, ob sie  
 [25]  gleich dazu gar nichts taugen, sie als Grundlagen zu un-  
terstützen), wählen müßte: so würde ich mich für den letz-  
    
 
92 [4:443]
        

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Grundlegung · Zweyter Abschnitt · Erste Auflage 1785
 
teren bestimmen, weil, da er wenigstens die Entschei-  
dung der Frage von der Sinnlichkeit ab und an den Ge-  
richtshof der reinen Vernunft zieht, ob er gleich auch  
hier nichts entscheidet, dennoch die unbestimmte Idee (ei-  
 [5]  nes an sich guten Willens) zur nähern Bestimmung un-  
verfälscht aufbehält.  
     Uebrigens glaube ich einer weitläuftigen Widerle-  
gung aller dieser Lehrbegriffe überhoben seyn zu können.  
Sie ist so leicht, sie ist von denen selbst, deren Amt es  
 [10]  erfodert, sich doch für eine dieser Theorien zu erklären,  
(weil Zuhörer den Aufschub des Urtheils nicht wohl leiden  
mögen), selbst vermuthlich so wohl eingesehen, daß dadurch  
nur überflüssige Arbeit geschehen würde. Was uns aber  
hier mehr interessirt, ist, zu wissen: daß diese Prinzipien  
 [15]  überall nichts als Heteronomie des Willens zum ersten  
Grunde der Sittlichkeit aufstellen, und eben darum noth-  
wendig ihres Zwecks verfehlen müssen.  
     Allenthalben, wo ein Obiect des Willens zum Grun-  
de gelegt werden muß, um diesem die Regel vorzuschrei-  
 [20]  ben, die ihn bestimme, da ist die Regel nichts als He-  
teronomie; der Imperativ ist bedingt, nämlich: wenn  
oder weil man dieses Obiect will, soll man so oder so  
handeln, mithin kann er niemals moralisch, d. i. cate-  
gorisch gebieten. Es mag nun das Obiect vermittelst  
 [25]  der Neigung, wie beym Prinzip der eigenen Glückselig-  
    
 
93 [4:443-444]
        

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keit, oder vermittelst der auf Gegenstände unseres mög-  
lichen Wollens überhaupt gerichteten Vernunft, im Prin-  
zip der Vollkommenheit, den Willen bestimmen, so be-  
stimmt sich der Wille niemals unmittelbar selbst durch  
 [5]  die Vorstellung der Handlung, sondern nur durch die  
Triebfeder, welche die vorausgesehene Wirkung der  
Handlung auf den Willen hat; ich soll etwas thun,  
darum, weil ich etwas Anderes will, und hier muß noch  
ein anderes Gesetz in meinem Subiect zum Grunde ge-  
 [10]  legt werden, nach welchem ich dieses Andere nothwendig  
will, welches Gesetz wiederum eines Imperativs bedarf,  
der diese Maxime einschränke. Denn weil der Antrieb,  
der die Vorstellung eines durch unsere Kräfte möglichen  
Obiects nach der Naturbeschaffenheit des Subiects auf sei-  
 [15]  nen Willen ausüben soll, zur Natur des Subiects gehöret,  
es sey der Sinnlichkeit, (der Neigung und des Geschmacks),  
oder des Verstandes und der Vernunft an Vollkommen-  
heit überhaupt nimmt, (deren Existenz entweder  
von ihr selbst, oder nur von der höchsten selbststän-  
 [20]  digen Vollkommenheit abhängt,) so gäbe eigentlich die  
Natur das Gesetz, welches, als ein solches, nicht allein  
durch Erfahrung erkannt und bewiesen werden muß, mit-  
hin an sich zufällig ist und zur apodictischen practischen  
Regel, dergleichen die moralische seyn muß, dadurch un-  
 [25]  tauglich wird, sondern es ist immer nur Heteronomie  
des Willens, der Wille giebt sich nicht selbst, sondern  
ein fremder Antrieb giebt ihm, vermittelst einer auf die  
    
 
94 [4:444]
        

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Empfänglichkeit desselben gestimmten Natur des Sub-  
iects, das Gesetz.  
     Der schlechterdings gute Wille, dessen Prinzip ein  
categorischer Imperativ seyn muß, wird also in Anse-  
 [5]  hung aller Obiecte unbestimmt, blos die Form des  
Wollens überhaupt enthalten und zwar als Autonomie,  
d. i. die Tauglichkeit der Maxime eines jeden guten Wil-  
lens, sich selbst zum allgemeinen Gesetze zu machen, ist  
selbst das alleinige Gesetz, das sich der Wille eines jeden  
 [10]  vernünftigen Wesens selbst auferlegt, ohne irgend eine  
Triebfeder und Interesse derselben als Grund unter-  
zulegen.  
     Wie ein solcher synthetischer practischer Satz  
a priori möglich und warum er nothwendig sey, ist eine  
 [15]  Aufgabe, deren Auflösung nicht mehr binnen den Gren-  
zen der Metaphysik der Sitten liegt, auch haben wir  
seine Wahrheit hier nicht behauptet, vielweniger vorge-  
geben, einen Beweis derselben in unserer Gewalt zu ha-  
ben. Wir zeigten nur durch Entwickelung des einmal  
 [20]  allgemein im Schwange gehenden Begriffs der Sittlich-  
keit: daß eine Autonomie des Willens demselben, unver-  
meidlicher Weise, anhänge, oder vielmehr zum Grunde  
liege. Wer also Sittlichkeit für Etwas und nicht für  
eine chimärische Idee ohne Wahrheit hält, muß das an-  
 [25]  geführte Prinzip derselben zugleich einräumen. Dieser  
    
 
95 [4:444-445]
        

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Abschnitt war also, eben so, wie der erste, blos analy-  
tisch. Daß nun Sittlichkeit kein Hirngespinst sey, wel-  
ches alsdenn folgt, wenn der categorische Imperativ und  
mit ihm die Autonomie des Willens wahr, und als ein  
 [5]  Prinzip a priori schlechterdings nothwendig ist, erfodert  
einen möglichen synthetischen Gebrauch der reinen  
practischen Vernunft, den wir aber nicht wagen dür-  
fen, ohne eine Critic dieses Vernunftvermögens selbst  
voran zu schicken, von welcher wir in dem letzten Ab-  
 [10]  schnitte, die zu unserer Absicht hinlängliche Hauptzüge  
darzustellen haben.  
 
 

  
    
 
96 [4:445]
        

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Grundlegung · Dritter Abschnitt · Erste Auflage 1785
 

Dritter Abschnitt.

  
Uebergang  
von der  
Metaphysik der Sitten zur Critik  
 [5]  der reinen practischen Vernunft.  
 ___________________  
 
Der Begriff der Freyheit  
ist der  
Schlüssel zur Erklärung der Autonomie  
des Willens.

  
 [10]  Der Wille ist eine Art von Caussalität lebender We-  
sen, so fern sie vernünftig sind, und Freyheit wür-  
de diejenige Eigenschaft dieser Caussalität seyn, da sie  
unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen  
wirkend seyn kann; so wie Naturnothwendigkeit die  
 [15]  Eigenschaft der Caussalität aller vernunftlosen Wesen,  
durch den Einflus fremder Ursachen zur Thätigkeit be-  
stimmt zu werden.  
     Die angeführte Erklärung der Freyheit ist negativ  
und daher, um ihr Wesen einzusehen, unfruchtbar; al-  
 [20]  lein es fließt aus ihr ein positiver Begriff derselben, der  
desto reichhaltiger und fruchtbarer ist. Da der Begriff  
einer Caussalität den von Gesetzen bey sich führt, nach  
welchen durch Etwas, was wir Ursache nennen, Etwas  
    
 
97 [4:446]
        

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anderes, nämlich die Folge, gesetzt werden muß: so ist  
die Freyheit, ob sie zwar nicht eine Eigenschaft des Wil-  
lens nach Naturgesetzen ist, darum doch nicht gar gesetz-  
los, sondern muß vielmehr eine Caussalität nach unwan-  
 [5]  delbaren Gesetzen, aber von besonderer Art, seyn; denn  
sonst wäre ein freyer Wille ein Unding. Die Natur-  
nothwendigkeit war eine Heteronomie der wirkenden Ur-  
sachen; denn jede Wirkung war nur nach dem Gesetze  
möglich, daß etwas anderes die wirkende Ursache zur  
 [10]  Caussalität bestimmte; was kann denn wohl die Freyheit  
des Willens sonst seyn, als Autonomie, d. i. die Ei-  
genschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu seyn? Der  
Satz aber: der Wille ist in allen Handlungen sich selbst  
ein Gesetz, bezeichnet nur das Prinzip, nach keiner an-  
 [15]  deren Maxime zu handeln, als die sich selbst auch als  
ein allgemeines Gesetz zum Gegenstande haben kann.  
Dies ist aber gerade die Formel des categorischen Impe-  
rativs und das Prinzip der Sittlichkeit: also ist ein  
freyer Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen  
 [20]  einerley.  
     Wenn also Freyheit des Willens vorausgesetzt wird,  
so folgt die Sittlichkeit sammt ihrem Prinzip daraus,  
durch bloße Zergliederung ihres Begriffs. Indessen ist  
das letztere doch immer ein synthetischer Satz: ein schlech-  
 [25]  terdings guter Wille ist derjenige, dessen Maxime jeder-  
zeit sich selbst, als allgemeines Gesetz betrachtet, in sich  
    
 
98 [4:446-447]
        

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enthalten kann, denn durch Zergliederung des Begriffs  
von einem schlechthin guten Willen, kann jene Eigen-  
schaft der Maxime nicht gefunden werden. Solche syn-  
thetische Sätze sind aber nur möglich, dadurch, daß bey-  
 [5]  de Erkenntnisse durch die Verknüpfung mit einem dritten,  
darinn sie beyderseits anzutreffen sind, unter einander  
verbunden werden. Der positive Begriff der Freyheit  
schaft dieses dritte, welches nicht, wie bey den physi-  
schen Ursachen, die Natur der Sinnenwelt seyn kann,  
 [10]  (in deren Begriff die Begriffe von Etwas, als Ursach, in  
Verhältnis auf etwas Anderes, als Wirkung, zusammen  
kommen). Was dieses dritte sey, worauf uns die Frey-  
heit weiset und von dem wir a priori eine Idee haben,  
läßt sich hier so fort noch nicht anzeigen, und die Dedu-  
 [15]  ction des Begriffs der Freyheit aus der reinen practischen  
Vernunft, mit ihr auch die Möglichkeit eines categori-  
schen Imperativs, begreiflich machen, sondern bedarf noch  
einiger Vorbereitung.  

Freyheit
  
 [20]  muß als Eigenschaft des Willens  
aller vernünftigen Wesen  
vorausgesetzt werden.

  
     Es ist nicht genug, daß wir unserem Willen, es  
sey aus welchem Grunde, Freyheit zuschreiben, wenn  
 [25]  wir nicht ebendieselbe auch allen vernünftigen Wesen bey-  
    
 
99 [4:447]
        

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zulegen hinreichenden Grund haben. Denn da Sittlich-  
keit für uns blos als vernünftige Wesen zum Gesetze  
dient, so muß sie auch für alle vernünftige Wesen gelten, und  
da sie lediglich aus der Eigenschaft der Freyheit abgelei-  
 [5]  tet werden muß, so muß auch Freyheit, als Eigenschaft  
des Willens aller vernünftigen Wesen, bewiesen werden,  
und es ist nicht genug, sie aus gewissen vermeintlichen  
Erfahrungen von der menschlichen Natur darzuthun,  
(wiewohl dieses auch schlechterdings unmöglich ist und le-  
 [10]  diglich a priori dargethan werden kann), sondern man  
muß sie als zur Thätigkeit vernünftiger und mit einem  
Willen begabter Wesen überhaupt beweisen. Ich sage  
nun: Ein jedes Wesen, das nicht anders als unter  
der Idee der Freyheit handeln kann, ist eben darum,  
 [15]  in practischer Rücksicht, wirklich frey, d. i. es gelten für  
ihn alle Gesetze, die mit der Freyheit unzertrennlich ver-  
bunden sind, eben so, als ob sein Wille auch an sich  
selbst und in der theoretischen Philosophie gültig, für frey  
erklärt würde *). Nun behaupte ich: daß wir jedem  
    
 [20]     *) Diesen Weg, die Freyheit nur, als von vernünftigen Wesen  
        bey ihren Handlungen blos in der Idee zum Grunde gelegt,  
        zu unserer Absicht hinreichend anzunehmen, schlage ich deswe-  
        gen ein, damit ich mich nicht verbindlich machen dürfte, die  
        Freyheit auch in ihrer theoretischen Absicht zu beweisen. Denn  
 [25]         wenn dieses letztere auch unausgemacht gelassen wird, so gelten  
        doch dieselbe Gesetze für ein Wesen, das nicht anders, als un-  
        ter der Idee seiner eigenen Freyheit handeln kann, die ein  
        Wesen, das wirklich frey wäre, verbinden würden. Wir kön-  
        nen uns hier a von der Last befreyen, die die Theorie drückt.  
 
 
100 [4:447-448]
        

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vernünftigen Wesen, das einen Willen hat, nothwendig  
auch die Idee der Freyheit leihen müssen, unter der es  
allein handle. Denn in einem solchen Wesen denken wir  
uns eine Vernunft, die practisch ist, d. i. Caussalität in  
 [5]  Ansehung ihrer Obiecte hat. Nun kann man sich un-  
möglich eine Vernunft denken, die mit ihrem eigenen  
Bewustseyn in Ansehung ihrer Urtheile anderwerts her  
eine Lenkung empfinge, denn alsdenn würde das Sub-  
iect nicht seiner Vernunft, sondern einem Antriebe, die  
 [10]  Bestimmung der Urtheilskraft zuschreiben. Sie muß  
sich selbst als Urheberin ihrer Prinzipien ansehen, unab-  
hängig von fremden Einflüssen, folglich muß sie als prac-  
tische Vernunft, oder als Wille eines vernünftigen We-  
sens, von ihr selbst als frey angesehen werden, d. i. der  
 [15]  Wille desselben kann nur unter der Idee der Freyheit ein  
eigener Wille seyn, und muß also in practischer Absicht  
allen vernünftigen Wesen beygelegt werden.  

Von dem Interesse,
  
welches den Ideen der Sittlichkeit  
 [20]  anhängt.

  
     Wir haben den bestimmten Begriff der Sittlich-  
keit auf die Idee der Freyheit zuletzt zurückgeführt; diese  
aber konnten wir, als etwas Wirkliches, nicht einmal  
in uns selbst und in der menschlichen Natur beweisen, wir  
 [25]  sahen nur, daß wir sie voraussetzen müssen, wenn wir  
    
 
101 [4:448-449]
        

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uns ein Wesen als vernünftig und mit Bewustseyn seiner  
Caussalität in Ansehung der Handlungen, d. i. mit einem  
Willen begabt, uns denken wollen, und so finden wir,  
daß wir aus eben demselben Grunde jedem mit Vernunft  
 [5]  und Willen begabten Wesen, diese Eigenschaft, sich unter  
der Idee seiner Freyheit zum Handeln zu bestimmen, bey-  
legen müssen.  
     Es floß aber aus der Voraussetzung dieser Ideen  
auch das Bewustseyn eines Gesetzes zu handeln: daß die  
 [10]  subiective Grundsätze der Handlungen, d. i. Maximen,  
jederzeit so genommen werden müssen, daß sie auch ob-  
jectiv, d. i. allgemein als Grundsätze, gelten, mithin  
zu unserer eigenen allgemeinen Gesetzgebung dienen kön-  
nen. Warum aber soll ich mich denn diesem Prinzip  
 [15]  unterwerfen und zwar als vernünftiges Wesen überhaupt,  
mithin auch dadurch alle andere mit Vernunft begabte  
Wesen? Ich will einräumen, daß mich hiezu kein In-  
teresse treibt; denn das würde keinen categorischen Im-  
perativ geben, aber ich muß doch hieran nothwendig ein  
 [20]  Interesse nehmen und einsehen, wie das zugeht; denn  
dieses Sollen ist eigentlich ein Wollen, das unter der  
Bedingung für jedes vernünftige Wesen gilt, wenn die  
Vernunft bey ihm ohne Hindernisse practisch wäre; für  
Wesen, die, wie wir, noch durch Sinnlichkeit, als Trieb-  
 [25]  federn anderer Art, afficirt werden, bey denen es nicht  
immer geschieht, was die Vernunft für sich allein thun  
    
 
102 [4:449]
        

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würde, heißt jene Nothwendigkeit der Handlung nur im  
Sollen und die subiective Nothwendigkeit wird von der  
obiectiven unterschieden.  
     Es scheint also, als setzten wir in der Idee der  
 [5]  Freyheit eigentlich das moralische Gesetz, nämlich das  
Prinzip der Autonomie des Willens selbst, nur voraus,  
und könnten seine Realität und obiective Nothwendigkeit  
nicht für sich beweisen, und da hätten wir zwar noch im-  
mer etwas ganz beträchtliches dadurch gewonnen, daß  
 [10]  wir wenigstens das ächte Prinzip genauer, als wohl sonst  
geschehen, bestimmt hätten, in Ansehung seiner Gültig-  
keit aber und der practischen Nothwendigkeit, sich ihm  
zu unterwerfen, wären wir um nichts weiter gekommen;  
denn wir könnten dem, der uns fragte, warum denn die  
 [15]  Allgemeingültigkeit unserer Maxime, als eines Gesetzes,  
die einschränkende Bedingung unserer Handlungen seyn  
müsse, und worauf wir den Werth gründen, den wir  
dieser Art zu handeln beylegen, der so groß seyn soll, daß  
es überall kein höheres Interesse geben kann und wie es  
 [20]  zugehe, daß der Mensch dadurch allein seinen persönli-  
chen Werth zu fühlen glaubt, gegen den der, eines an-  
genehmen oder unangenehmen Zustandes, für nichts  
zu halten sey, keine genugthuende Antwort geben.  
     Zwar finden wir wohl, daß wir an einer persönli-  
 [25]  chen Beschaffenheit ein Interesse nehmen können, die gar  
    
 
103 [4:449-450]
        

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kein Interesse des Zustandes bey sich führt, wenn jene  
uns nur fähig macht, des letzteren theilhaftig zu werden,  
im Falle die Vernunft die Austheilung desselben bewirken  
sollte, d. i. daß die bloße Würdigkeit, glücklich zu seyn,  
 [5]  auch ohne den Bewegungsgrund, dieser Glückseligkeit  
theilhaftig zu werden, für sich interessiren könne: aber  
dieses Urtheil ist in der That nur die Wirkung von der  
schon vorausgesetzten Wichtigkeit moralischer Gesetze,  
(wenn wir uns durch die Idee der Freyheit von allem  
 [10]  empirischen Interesse trennen), aber, daß wir uns von  
diesem trennen, d. i. uns als frey im Handeln betrach-  
ten, und so uns dennoch für gewissen Gesetzen unterwor-  
fen halten sollen, um einen Werth blos in unserer Per-  
son zu finden, der uns allen Verlust dessen, was unse-  
 [15]  rem Zustande einen Werth verschafft, vergüten könne  
und wie dieses möglich sey, mithin, woher das morali-  
sche Gesetz verbinde, können wir auf solche Art noch  
nicht einsehen.  
     Es zeigt sich hier, man muß frey gestehen, eine  
 [20]  Art von Cirkel, aus dem, wie es scheint, nicht heraus  
zu kommen ist. Wir nehmen uns in der Ordnung der  
wirkenden Ursachen als frey an, um uns in der Ord-  
nung der Zwecke unter sittlichen Gesetzen zu denken, und  
wir denken uns nachher als diesen Gesetzen unterworfen,  
 [25]  weil wir uns die Freyheit des Willens beygelegt haben, denn  
Freyheit und eigene Gesetzgebung des Willens sind bey-  
    
 
104 [4:450]
        

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des Autonomie, mithin Wechselbegriffe, davon aber  
einer eben um deswillen nicht dazu gebraucht werden  
kann, um den anderen zu erklären und von ihm Grund  
anzugeben, sondern höchstens nur um, in logischer Ab-  
 [5]  sicht, verschieden scheinende Vorstellungen von eben dem-  
selben Gegenstande auf einen einzigen Begriff, (wie ver-  
schiedene Brüche gleiches Inhalts auf die kleinsten Aus-  
drücke), zu bringen.  
     Eine Auskunft bleibt uns aber noch übrig, näm-  
 [10]  lich zu suchen: ob wir, wenn wir uns durch Freyheit,  
als a priori wirkende Ursachen, denken, nicht einen  
anderen Standpunct einnehmen, als wenn wir uns nach  
unseren Handlungen als Wirkungen, die wir vor unse-  
ren Augen sehen, vorstellen.  
 [15]       Es ist eine Bemerkung, welche anzustellen eben  
kein subtiles Nachdenken erfodert wird, sondern von der  
man annehmen kann, daß sie wohl der gemeinste Ver-  
stand, obzwar, nach seiner Art, durch eine dunkele  
Unterscheidung der Urtheilskraft, die er Gefühl nennt,  
 [20]  machen mag: daß alle Vorstellungen, die uns ohne un-  
sere Willkühr kommen, (wie die der Sinne), uns die Ge-  
genstände nicht anders zu erkennen geben, als sie uns  
afficiren, wobey, was sie an sich seyn mögen, uns un-  
bekannt bleibt, mithin daß, was diese Art Vorstellungen  
 [25]  betrift, wir dadurch, auch bey der angestrengtesten Auf-  
    
 
105 [4:450-451]
        

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Grundlegung · Dritter Abschnitt · Erste Auflage 1785
 
merksamkeit und Deutlichkeit, die der Verstand nur im-  
mer hinzufügen mag, doch blos zur Erkenntnis der Er-  
scheinungen, niemals der Dinge an sich selbst ge-  
langen können. Sobald dieser Unterschied, (allenfalls  
 [5]  blos durch die bemerkte Verschiedenheit zwischen den Vor-  
stellungen, die uns anders woher gegeben werden und  
dabey wir leidend sind, von denen, die wir lediglich aus  
uns selbst hervorbringen und dabey wir unsere Thätigkeit  
beweisen), einmal gemacht ist, so folgt von selbst, daß  
 [10]  man hinter den Erscheinungen doch noch etwas Anderes,  
was nicht Erscheinung ist, nämlich die Dinge an sich, ein-  
räumen und annehmen müsse, ob wir gleich uns von  
selbst bescheiden, daß, da sie uns niemals bekannt wer-  
den können, sondern immer nur, wie sie uns afficiren,  
 [15]  wir ihnen nicht näher treten und was sie an sich sind, nie-  
mals wissen können. Diese muß eine, obzwar rohe Un-  
terscheidung einer Sinnenwelt von der Verstandes-  
welt abgeben, davon die erstere nach Verschiedenheit der  
Sinnlichkeit in mancherley Weltbeschauern, auch sehr  
 [20]  verschieden seyn kann, indessen die zweyte, die ihr zum  
Grunde liegt, immer dieselbe bleibt. So gar sich selbst  
und zwar nach der Kenntnis, die der Mensch durch in-  
nere Empfindung von sich hat, darf er sich nicht an-  
maßen zu erkennen, wie er an sich selbst sey. Denn da  
 [25]  er doch sich selbst nicht gleichsam schaft und seinen Begriff  
nicht a priori, sondern empirisch bekömmt, so ist natür-  
lich, daß er auch von sich durch den innern Sinn und  
    
 
106 [4:451]
        

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Grundlegung · Dritter Abschnitt · Erste Auflage 1785
 
folglich nur durch die Erscheinung seiner Natur und die  
Art, wie sein Bewustseyn afficirt wird, Kundschaft ein-  
ziehen könne, indessen er doch nothwendiger Weise über  
diese aus lauter Erscheinungen zusammengesetzte Beschaf-  
 [5]  fenheit seines eigenen Subiects noch etwas anderes zum  
Grunde liegendes, nämlich sein Ich, so wie es an sich  
selbst beschaffen seyn mag, annehmen und sich also in  
Absicht auf die bloße Wahrnehmung und Empfänglichkeit  
der Empfindungen zur Sinnenwelt, in Ansehung dessen  
 [10]  aber, was in ihm reine Thätigkeit seyn mag, (dessen, was  
gar nicht durch Afficirung der Sinne, sondern unmit-  
telbar zum Bewustseyn gelangt), sich zur intellectuellen  
Welt zählen muß, die er doch nicht weiter kennt.  
     Dergleichen Schluß muß der nachdenkende Mensch  
 [15]  von allen Dingen, die ihm vorkommen mögen, fällen;  
vermuthlich ist er auch im gemeinsten Verstande anzutref-  
fen, der, wie bekannt, sehr geneigt ist, hinter den Ge-  
genständen der Sinne noch immer etwas Unsichtbares,  
für sich selbst Thätiges, zu erwarten, es aber wiederum  
 [20]  dadurch verdirbt, daß er dieses Unsichtbare sich bald  
wiederum versinnlicht, d. i. zum Gegenstande der An-  
schauung machen will, und dadurch also nicht um einen  
Grad klüger wird.  
     Nun findet der Mensch in sich wirklich ein Vermö-  
 [25]  gen, dadurch er sich von allen andern Dingen, ja von  
    
 
107 [4:451-452]
        

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Grundlegung · Dritter Abschnitt · Erste Auflage 1785
 
sich selbst, so fern er durch Gegenstände afficirt wird,  
unterscheidet, und das ist die Vernunft. Diese, als  
reine Selbstthätigkeit, ist sogar darin noch über den Ver-  
stand erhoben: daß, obgleich dieser auch Selbstthätig-  
 [5]  keit ist und nicht, wie der Sinn, blos Vorstellungen  
enthält, die nur entspringen, wenn man von Dingen  
afficirt (mithin leidend) ist, er dennoch aus seiner Thä-  
tigkeit keine andere Begriffe hervorbringen kann, als die,  
so blos dazu dienen, um die sinnlichen Vorstellungen  
 [10]  unter Regeln zu bringen und sie dadurch in einem  
Bewustseyn zu vereinigen, ohne welchen Gebrauch der  
Sinnlichkeit er gar nichts denken würde, dahingegen die  
Vernunft unter dem Nahmen der Ideen eine so reine  
Spontaneität zeigt, daß er dadurch weit über alles,  
 [15]  was ihm Sinnlichkeit nur liefern kann, hinausgeht und  
ihr vornehmstes Geschäfte darinn beweiset, Sinnenwelt  
und Verstandeswelt von einander zu unterscheiden, da-  
durch aber dem Verstande selbst seine Schranken vorzu-  
zeichnen.  
 [20]       Um deswillen muß ein vernünftiges Wesen sich  
selbst, als Intelligenz, (also nicht von Seiten seiner  
untern Kräfte,) nicht als zur Sinnen- sondern zur Ver-  
standeswelt gehörig, ansehen; mithin hat es zwey Stand-  
puncte, daraus es sich selbst betrachten und Gesetze des  
 [25]  Gebrauchs seiner Kräfte, folglich aller seiner Handlun-  
gen erkennen kann, einmal, so fern es zur Sinnenwelt  
    
 
108 [4:452]
        

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gehört, unter Naturgesetzen (Heteronomie), zweytens,  
als zur intelligibelen Welt gehörig, unter Gesetzen, die,  
von der Natur unabhängig, nicht empirisch, sondern  
blos in der Vernunft gegründet seyn.  
 [5]       Als ein vernünftiges, mithin zur intelligibelen  
Welt gehöriges Wesen, kann der Mensch die Caussalität  
seines eigenen Willens niemals anders als unter der Idee  
der Freyheit denken; denn Unabhängigkeit von den be-  
stimmten Ursachen der Sinnenwelt, (dergleichen die Ver-  
 [10]  nunft jederzeit sich selbst beylegen muß,) ist Freyheit.  
Mit der Idee der Freyheit ist nun der Begriff der Au-  
tonomie unzertrennlich verbunden, mit diesem aber das  
allgemeine Prinzip der Sittlichkeit, welches in der Idee  
allen Handlungen vernünftiger Wesen eben so zum  
 [15]  Grunde liegt, als Naturgesetz allen Erscheinungen.  
     Nun ist der Verdacht, den wir oben rege machten,  
gehoben, als wäre ein geheimer Cirkel in unserem  
Schlusse aus der Freyheit auf die Autonomie und aus  
dieser aufs sittliche Gesetz enthalten, daß wir nämlich  
 [20]  vielleicht die Idee der Freyheit nur um des sittlichen Ge-  
setzes willen zum Grunde legten, um dieses nachher aus  
der Freyheit wiederum zu schliessen, mithin von jenem  
gar keinen Grund angeben könnten, sondern es nur als  
Erbittung eines Prinzips, das uns gut gesinnte Seelen  
 [25]  wohl gerne einräumen werden, welches wir aber nie-  
    
 
109 [4:452-453]
        

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mals als einen erweislichen Satz aufstellen könnten. Denn  
jetzt sehen wir, daß, wenn wir uns als frey denken, so  
versetzen wir uns als Glieder in die Verstandeswelt, und  
erkennen die Autonomie des Willens, sammt seiner Fol-  
 [5]  ge, der Moralität; denken wir uns aber als verpflichtet,  
so betrachten wir uns als gehörig zur Sinnenwelt und  
doch zugleich der Verstandeswelt.  

Wie ist ein categorischer Imperativ
  
möglich?

  
 [10]       Das vernünftige Wesen zählt sich als Intelligenz  
zur Verstandeswelt und, blos als eine zu dieser gehörige  
wirkende Ursache, nennt es seine Caussalität einen Wil-  
len. Von der anderen Seite ist es sich seiner doch auch  
als eines Stücks der Sinnenwelt bewust, in welcher seine  
 [15]  Handlungen, als bloße Erscheinungen jener Caussalität,  
angetroffen werden, deren Möglichkeit aber aus dieser,  
die wir nicht kennen, nicht eingesehen werden kann, son-  
dern an deren Statt jene Handlungen als bestimmt durch  
andere Erscheinungen, nämlich Begierden und Neigun-  
 [20]  gen, als zur Sinnenwelt gehörig, eingesehen werden müssen.  
Als bloßen Gliedes der Verstandeswelt würden also alle  
meine Handlungen dem Prinzip der Autonomie des rei-  
nen Willens vollkommen gemäß seyn; als bloßen Stücks  
der Sinnenwelt würden sie gänzlich dem Naturgesetz der  
 [25]  Begierden und Neigungen, mithin der Heteronomie der  
    
 
110 [4:453]
        

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Natur gemäß genommen werden müssen. (Die ersteren  
würden auf dem obersten Prinzip der Sittlichkeit, die  
zweyten der Glückseligkeit beruhen). Weil aber die  
Verstandeswelt den Grund der Sinnenwelt, mit-  
 [5]  hin auch der Gesetze derselben enthält, also in Anse-  
hung meines Willens, (der ganz zur Verstandeswelt ge-  
hört), unmittelbar gesetzgebend ist und also auch als solche  
gedacht werden muß, so werde ich mich als Intelligenz,  
obgleich andererseits wie ein zur Sinnenwelt gehöriges  
 [10]  Wesen, dennoch dem Gesetze der ersteren, d. i. der Ver-  
nunft, die in der Idee der Freyheit das Gesetz derselben  
enthält, und also der Autonomie des Willens unterwor-  
fen, erkennen, folglich die Gesetze der Verstandeswelt für  
mich als Imperativen und die diesem Prinzip gemäße  
 [15]  Handlungen als Pflichten ansehen müssen.  
     Und so sind categorische Imperativen möglich, da-  
durch, daß die Idee der Freyheit mich zu einem Gliede  
einer intelligibelen Welt macht, wodurch, wenn ich sol-  
ches allein wäre, alle meine Handlungen der Autonomie  
 [20]  des Willens jederzeit gemäß seyn würden, da ich mich  
aber zugleich als Glied der Sinnenwelt anschaue, gemäß  
seyn sollen, welches categorische Sollen einen syntheti-  
schen Satz a priori vorstellt, dadurch, daß über meinen  
durch sinnliche Begierden afficirten Willen noch die Idee  
 [25]  ebendesselben, aber zur Verstandeswelt gehörigen, rei-  
nen, für sich selbst practischen Willens hinzukommt, wel-  
    
 
111 [4:453-454]
        

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cher die oberste Bedingung des ersteren nach der Ver-  
nunft enthält; ungefähr so, wie zu den Anschauungen  
der Sinnenwelt Begriffe des Verstandes, die für sich  
selbst nichts als gesetzliche Form überhaupt bedeuten,  
 [5]  hinzu kommen und dadurch synthetische Sätze a priori,  
auf welchen alle Erkenntnis einer Natur beruht, mög-  
lich machen.  
     Der practische Gebrauch der gemeinen Menschen-  
vernunft bestätigt die Richtigkeit dieser Deduction. Es  
 [10]  ist niemand, selbst der ärgste Bösewicht, wenn er nur  
sonst Vernunft zu brauchen gewohnt ist, der nicht, wenn  
man ihm Beyspiele der Redlichkeit in Absichten, der  
Standhaftigkeit in Befolgung guter Maximen, der Theil-  
nehmung und des allgemeinen Wohlwollens, (und noch  
 [15]  dazu mit großen Aufopferungen von Vortheilen und Ge-  
mächlichkeit verbunden,) vorlegt, nicht wünsche, daß er  
auch so gesinnt seyn möchte. Er kann es aber nur we-  
gen seiner Neigungen und Antriebe nicht wohl in sich zu  
Stande bringen; wobey er dennoch zugleich wünscht, von  
 [20]  solchen ihm selbst lästigen Neigungen frey zu seyn. Er  
beweiset hiedurch also, daß er mit einem Willen, der  
von Antrieben der Sinnlichkeit frey ist, sich in Gedanken  
in eine ganz andere Ordnung der Dinge versetze, als die  
seiner Begierden im Felde der Sinnlichkeit, weil er von  
 [25]  jenem Wunsche keine Vergnügung der Begierden, mit-  
hin keinen für irgend eine seiner wirklichen oder sonst  
    
 
112 [4:454]
        

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erdenklichen Neigungen befriedigenden Zustand, (denn  
dadurch würde selbst die Idee, welche ihm den Wunsch  
ablockt, ihre Vorzüglichkeit einbüßen,) sondern nur einen  
größeren inneren Werth seiner Person erwarten kann.  
 [5]  Diese bessere Person glaubt er aber zu seyn, wenn er  
sich in den Standpunct eines Gliedes der Verstandeswelt  
versetzt, dazu die Idee der Freiheit von bestimmenden  
Ursachen der Sinnenwelt ihn unwillkührlich nöthigt und  
in welchem er sich eines guten Willens bewust ist, der  
 [10]  für seinen bösen Willen, als Gliedes der Sinnenwelt,  
nach seinem eigenen Geständnisse das Gesetz ausmacht,  
dessen Ansehen er kennt, indem er es übertritt. Das  
moralische Sollen ist also eigenes nothwendiges Wollen  
als Gliedes einer intelligibelen Welt, und wird nur so fern  
 [15]  von ihm als Sollen gedacht, als er sich zugleich wie ein  
Glied der Sinnenwelt betrachtet.  

Von
  
der äussersten Grenze  
aller practischen Philosophie.

  
 [20]       Alle Menschen denken sich dem Willen nach als  
frey. Daher kommen alle Urtheile über Handlungen  
als solche, die hätten geschehen sollen, ob sie gleich  
nicht geschehen sind. Gleichwohl ist diese Freyheit kein  
Erfahrungsbegriff und kann es auch nicht seyn, weil er  
 [25]  immer bleibt, obgleich die Erfahrung das Gegentheil  
    
 
113 [4:454-455]
        

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von denjenigen Foderungen zeigt, die unter Vorausse-  
tzung derselben als nothwendig vorgestellt werden. Auf  
der anderen Seite ist es eben so nothwendig, daß alles,  
was geschieht, nach Naturgesetzen unausbleiblich bestimmt  
 [5]  sey und diese Naturnothwendigkeit ist auch kein Erfah-  
rungsbegriff, eben darum, weil er den Begriff der Noth-  
wendigkeit, mithin einer Erkenntnis a priori, bey sich  
führet. Aber dieser Begriff von einer Natur wird durch  
Erfahrung bestätigt und muß selbst unvermeidlich voraus-  
 [10]  gesetzt werden, wenn Erfahrung, d. i. nach allgemeinen  
Gesetzen zusammenhängende Erkenntnis der Gegenstände  
der Sinne, möglich seyn soll. Daher ist Freyheit nur  
eine Idee der Vernunft, deren obiective Realität an  
sich zweifelhaft ist, Natur aber ein Verstandesbegriff,  
 [15]  der seine Realität an Beyspielen der Erfahrung beweiset  
und nothwendig beweisen muß.  
     Ob nun gleich hieraus eine Dialectik der Vernunft  
entspringt, da in Ansehung des Willens die ihm beyge-  
legte Freyheit mit der Naturnothwendigkeit im Wider-  
 [20]  spruch zu stehen scheint und, bei dieser Wegescheidung,  
die Vernunft in speculativer Absicht den Weg der Na-  
turnothwendigkeit viel gebähnter und brauchbarer findet,  
als den der Freyheit: so ist doch in practischer Absicht  
der Fußsteig der Freyheit der einzige, auf welchem es  
 [25]  möglich ist, von seiner Vernunft bey unserem Thun und  
Lassen Gebrauch zu machen; daher wird es der subtilsten  
    
 
114 [4:455-456]
        

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Philosophie eben so unmöglich, wie der gemeinsten Men-  
schenvernunft, die Freyheit wegzuvernünfteln. Diese  
muß also wohl voraussetzen: daß kein wahrer Wider-  
spruch zwischen Freyheit und Naturnothwendigkeit eben-  
 [5]  derselben menschlichen Handlungen angetroffen werde,  
denn sie kann eben so wenig den Begriff der Natur, als  
den der Freyheit aufgeben.  
     Indessen muß dieser Scheinwiderspruch wenigstens  
auf überzeugende Art vertilgt werden, wenn man gleich,  
 [10]  wie Freyheit möglich sey, niemals begreifen könnte.  
Denn, wenn sogar der Gedanke von der Freyheit sich  
selbst, oder der Natur, die eben so nothwendig ist, wi-  
derspricht, so mußte sie gegen die Naturnothwendigkeit  
durchaus aufgegeben werden.  
 [15]       Es ist aber unmöglich, diesem Widerspruch zu entge-  
hen, wenn das Subiect, was sich frey dünkt, sich selbst  
in demselben Sinne, oder in eben demselben Ver-  
hältnisse dächte, wenn es sich frey nennt, als wenn es  
sich in Absicht auf die nämliche Handlung dem Naturge-  
 [20]  setze unterworfen, annimmt. Daher ist es eine unnach-  
laßliche Aufgabe der speculativen Philosophie, wenigstens  
zu zeigen: daß ihre Täuschung wegen des Widerspruchs  
darinn beruhe, daß wir den Menschen in einem anderen  
Sinne und Verhältnisse denken, wenn wir ihn frey nen-  
 [25]  nen, als wenn wir ihn, als Stück der Natur, dieser  
    
 
115 [4:456]
        

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ihren Gesetzen für unterworfen halten, und daß beyde  
nicht allein gar wohl beysammen stehen können, sondern  
auch als nothwendig vereinigt, in demselben Subiect  
gedacht werden müssen, weil sonst nicht Grund angege-  
 [5]  ben werden könnte, warum wir die Vernunft mit einer  
Idee belästigen sollten, die, ob sie sich gleich ohne Wi-  
derspruch mit einer anderen gnugsam bewährten, verei-  
nigen läßt, dennoch uns in ein Geschäfte verwickelt, wo-  
durch die Vernunft in ihrem theoretischen Gebrauche sehr  
 [10]  in die Enge gebracht wird. Diese Pflicht liegt aber blos  
der speculativen Philosophie ab, damit sie der practi-  
schen freye Bahn schaffe. Also ist es nicht in das Belie-  
ben des Philosophen gesetzt, ob er den scheinbaren Wider-  
streit heben, oder ihn unangerührt lassen will; denn im  
 [15]  letzteren Falle ist die Theorie hierüber bonum vacans, in  
dessen Besitz sich der Fatalist mit Grunde setzen und alle  
Moral aus ihrem ohne Titel besessenem vermeinten Ei-  
genthum verjagen kann.  
     Doch kann man hier noch nicht sagen: daß die  
 [20]  Grenze der practischen Philosophie anfange. Denn jene  
Beylegung der Streitigkeit gehört gar nicht zu ihr, son-  
dern sie fodert nur von der speculativen Vernunft, daß  
diese die Uneinigkeit, darinn sie sich in theoretischen Fra-  
gen selbst verwickelt, zu Ende bringe, damit practische  
 [25]  Vernunft Ruhe und Sicherheit für äußere Angriffe habe,  
die ihr den Boden, worauf sie sich anbauen will, strei-  
tig machen könnten.  
    
 
116 [4:456-457]
        

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     Der Rechtsanspruch aber, selbst der gemeinen Men-  
schenvernunft auf Freyheit des Willens gründet sich auf  
das Bewustseyn und die zugestandene Voraussetzung  
der Unabhängigkeit der Vernunft, von blos subiectiv-  
 [5]  bestimmten Ursachen, die insgesammt das ausmachen,  
was blos zur Empfindung, mithin unter die allgemeine  
Benennung der Sinnlichkeit, gehört. Der Mensch, der  
sich auf solche Weise als Intelligenz betrachtet, setzt sich  
dadurch in eine andere Ordnung der Dinge und in ein  
 [10]  Verhältnis zu bestimmenden Gründen von ganz ande-  
rer Art, wenn er sich als Intelligenz mit einem Willen,  
folglich mit Caussalität begabt, denkt, als wenn er sich,  
wie Phänomen in der Sinnenwelt, (welches er wirklich  
auch ist), wahrnimmt und seine Caussalität, äußerer Be-  
 [15]  stimmung nach, Naturgesetzen unterwirft. Nun wird  
er bald inne: daß beydes zugleich statt finden könne, ja  
so gar müsse. Denn, daß ein Ding in der Erscheinung,  
(das zur Sinnenwelt gehörig), gewissen Gesetzen unter-  
worfen ist, von welchen eben dasselbe, als Ding oder  
 [20]  Wesen an sich selbst, unabhängig ist, enthält nicht den  
mindesten Widerspruch; daß er sich selbst aber auf diese  
zwiefache Art vorstellen und denken müsse, beruht, was  
das erste betrift, auf dem Bewustseyn seiner selbst, als  
durch Sinne afficirten Gegenstandes, was das zweyte  
 [25]  anlangt, auf dem Bewustseyn seiner selbst, als Intelli-  
genz, d. i. als unabhängig im Vernunftgebrauch von sinnli-  
chen Eindrücken, (mithin als zur Verstandeswelt gehörig).  
    
 
117 [4:457]
        

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     Daher kommt es, daß der Mensch sich eines Wil-  
lens anmaßt, der nichts auf seine Rechnung kommen  
läßt, was blos zu seinen Begierden und Neigungen ge-  
hört und dagegen Handlungen durch sich als möglich, ja  
 [5]  gar als nothwendig denkt, die nur mit Hintansetzung  
aller Begierden und sinnlichen Anreizen geschehen können.  
Die Caussalität derselben liegt in ihm als Intelligenz und  
in den Gesetzen der Wirkungen und Handlungen nach  
Prinzipien einer intelligibelen Welt, von der er wohl  
 [10]  nichts weiter weiß, als daß darinn lediglich die Vernunft  
und zwar reine, von Sinnlichkeit unabhängige Vernunft,  
das Gesetz gebe, imgleichen da er daselbst nur als In-  
telligenz das eigentliche Selbst, (als Mensch hingegen nur  
Erscheinung seiner selbst) ist, jene Gesetze ihn unmittel-  
 [15]  bar und categorisch angehen, so daß, wozu Neigungen  
und Antriebe (mithin die ganze Natur der Sinnenwelt)  
anreitzen, den Gesetzen seines Wollens, als Intelligenz,  
keinen Abbruch thun können, so gar, daß er die erstere  
nicht verantwortet und seinem eigentlichen Selbst, d. i.  
 [20]  seinem Willen nicht zuschreibt, wohl aber die Nachsicht,  
die er gegen sie tragen möchte, wenn er ihnen zum Nach-  
theil der Vernunftgesetze des Willens Einflus auf seine  
Maximen einräumete  
     Dadurch, daß die practische Vernunft sich in eine  
 [25]  Verstandeswelt hinein denkt; überschreitet sie gar nicht  
ihre Grenzen, wohl aber, wenn sie sich hineinschauen,  
hinein empfinden wollte. Jenes ist nur ein negativer  
    
 
118 [4:457-458]
        

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Gedanke, in Ansehung der Sinnenwelt, die der Ver-  
nunft in Bestimmung des Willens keine Gesetze giebt und  
nur in diesem einzigen Puncte positiv, daß jene Freyheit,  
als negative Bestimmung, zugleich mit einem (positiven)  
 [5]  Vermögen und so gar mit einer Caussalität der Vernunft  
verbunden sey, welche wir einen Willen nennen, so zu  
handeln, daß das Prinzip der Handlungen der wesent-  
lichen Beschaffenheit einer Vernunftursache, d. i. der  
Bedingung der Allgemeingültigkeit der Maxime, als  
 [10]  eines Gesetzes, gemäß sey. Würde sie aber noch ein Ob-  
iect des Willens, d. i. eine Bewegursache aus der  
Verstandeswelt herholen, so überschritte sie ihre Grenzen  
und maßte sich an, etwas zu kennen, wovon sie nichts  
weiß. Der Begriff einer Verstandeswelt ist also nur  
 [15]  ein Standpunct, den die Vernunft sich genöthigt sieht,  
außer den Erscheinungen zu nehmen, um sich selbst als  
practisch zu denken, welches, wenn die Einflüsse der  
Sinnlichkeit für den Menschen bestimmend wären, nicht  
möglich seyn würde, welches aber doch nothwendig ist,  
 [20]  wofern ihm nicht das Bewustseyn seiner selbst, als In-  
telligenz, mithin als vernünftige und durch Vernunft  
thätige, d. i. frey wirkende Ursache, abgesprochen wer-  
den soll. Dieser Gedanke führt freylich die Idee einer  
anderen Ordnung und Gesetzgebung, als die des Na-  
 [25]  turmechanismus, der die Sinnenwelt trift, herbey, und  
macht den Begriff einer intelligibelen Welt, (d. i. das  
Ganze vernünftiger Wesen, als Dinge an sich selbst), noth-  
    
 
119 [4:458]
        

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wendig, aber ohne die mindeste Anmaßung, hier weiter,  
als blos ihrer formalen Bedingung nach, d. i. der All-  
gemeinheit der Maxime des Willens, als Gesetze, mithin  
der Autonomie des letzteren, die allein mit der Freyheit  
 [5]  desselben bestehen kann, gemäß zu denken. Da hinge-  
gen alle Gesetze, die auf ein Obiect bestimmt sind, He-  
teronomie geben, die nur an Naturgesetzen angetroffen  
werden und auch nur die Sinnenwelt treffen kann.  
     Aber alsdenn würde die Vernunft alle ihre Grenze  
 [10]  überschreiten, wenn sie es sich zu erklären unterfinge,  
wie reine Vernunft practisch seyn könne, welches völlig  
einerley mit der Aufgabe seyn würde, zu erklären, wie  
Freyheit möglich sey.  
     Denn wir können nichts erklären, als was wir auf  
 [15]  Gesetze zurückführen können, deren Gegenstand in irgend  
einer möglichen Erfahrung gegeben werden kann. Frey-  
heit aber ist eine bloße Idee, deren obiective Realität  
auf keine Weise nach Naturgesetzen, mithin auch nicht  
in irgend einer möglichen Erfahrung, dargethan werden  
 [20]  kann, die also darum, weil ihr selbst niemals nach ir-  
gend einer Analogie ein Beyspiel untergelegt werden mag,  
niemals begriffen, oder auch nur eingesehen werden kann.  
Sie gilt nur als nothwendige Voraussetzung der Ver-  
nunft in einem Wesen, das sich eines Willens, d. i. ei-  
 [25]  nes vom bloßen Begehrungsvermögen noch verschiedenen  
Vermögens, (nämlich sich zum handeln als Intelligenz,  
mithin nach Gesetzen der Vernunft, unabhängig von  
    
 
120 [4:458-459]
        

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Naturinstinkten, zu bestimmen), bewust zu seyn glaubt.  
Wo aber Bestimmung nach Naturgesetzen aufhört, da  
hört auch alle Erklärung auf und es bleibt nichts übrig,  
als Vertheidigung, d. i. Abtreibung der Einwürfe de-  
 [5]  rer, die tiefer in das Wesen der Dinge geschaut zu ha-  
ben vorgeben, und darum die Freyheit dreust vor unmög-  
lich erklären. Man kann ihnen nur zeigen, daß der  
vermeintlich von ihnen darinn entdeckte Widerspruch nir-  
gend anders liege, als darinn, daß, da sie, um das  
 [10]  Naturgesetze in Ansehung menschlicher Handlungen gel-  
tend zu machen, den Menschen nothwendig als Erschei-  
nung betrachten mußten, und nun, da man von ihnen  
fodert, daß sie ihn als Intelligenz, doch auch als Ding  
an sich selbst, denken sollten, sie ihn immer auch da noch  
 [15]  als Erscheinung betrachten, wo denn freylich die Abson-  
derung seiner Caussalität, (d. i. seines Willens) von allen  
Naturgesetzen der Sinnenwelt in einem und demselben  
Subiecte im Widerspruche stehen würde, welcher aber  
wegfällt, wenn sie sich besinnen und, wie billig, einge-  
 [20]  stehen wollten, daß hinter den Erscheinungen doch die  
Sachen an sich selbst, (obzwar verborgen), zum Grunde  
liegen müssen, von deren Wirkungsgesetzen man nicht ver-  
langen kann, daß sie mit denen einerley seyn sollten, un-  
ter denen ihre Erscheinungen stehen.  
 [25]       Die subiective Unmöglichkeit, die Freyheit des  
Willens zu erklären, ist mit der Unmöglichkeit, ein In-  
    
 
121 [4:459]
        

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teresse *) ausfindig und begreiflich zu machen, welches  
der Mensch an moralischen Gesetzen nehmen könne, einer-  
ley; und gleichwohl nimmt er wirklich daran ein Inter-  
esse, wozu wir die Grundlage in uns das moralische Ge-  
 [5]  fühl nennen, welches fälschlich für das Richtmaas un-  
serer sittlichen Beurtheilung von einigen ausgegeben wor-  
den, da es vielmehr als die subiective Wirkung, die  
das Gesetz auf den Willen ausübt, angesehen werden muß,  
wozu Vernunft allein die obiectiven Gründe hergiebt.  
 [10]       Um das zu wollen, wozu die Vernunft allein dem  
sinnlich-afficirten vernünftigen Wesen das Sollen vor-  
schreibt, dazu gehört freylich ein Vermögen der Vernunft,  
ein Gefühl der Lust, oder des Wohlgefallens an der  
Erfüllung der Pflicht einzuflößen, mithin eine Caussali-  
    
 [15]     *) Interesse ist das, wodurch Vernunft practisch, d. i. eine den  
        Willen bestimmende Ursache wird. Daher sagt man nur von  
        einem vernünftigen Wesen, daß es woran ein Interesse nehme,  
        vernunftlose Geschöpfe fühlen nur sinnliche Antriebe. Ein un-  
        mittelbares Interesse nimmt die Vernunft nur alsdenn an der  
 [20]         Handlung, wenn die Allgemeingültigkeit der Maxime derselben  
        ein gnugsamer Bestimmungsgrund des Willens ist. Ein solches  
        Interesse ist allein rein. Wenn sie aber den Willen nur ver-  
        mittelst eines anderen Obiects des Begehrens, oder unter Vor-  
        aussetzung eines besonderen Gefühls des Subiects bestimmen  
 [25]         kann, so nimmt die Vernunft nur ein mittelbares Interesse an  
        der Handlung und, da Vernunft für sich allein weder Obiecte  
        des Willens, noch ein besonderes ihm zu Grunde liegendes  
        Gefühl ohne Erfahrung ausfindig machen kann, so würde das  
        letztere Interesse nur empirisch und kein reines Vernunftinter-  
 [30]         esse seyn. Das logische Interesse der Vernunft (ihre Einsichten  
        zu befördern), ist niemals unmittelbar, sondern setzt Absichten  
        ihres Gebrauchs voraus.  
 
 
122 [4:459-460]
        

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tät derselben, die Sinnlichkeit ihren Prinzipien gemäß  
zu bestimmen. Es ist aber gänzlich unmöglich, einzusehen,  
d. i. a priori begreiflich zu machen, wie ein bloßer Ge-  
danke, der selbst nichts Sinnliches in sich enthält, eine  
 [5]  Empfindung der Lust oder Unlust hervorbringe; denn  
das ist eine besondere Art von Caussalität, von der, wie  
von aller Caussalität, wir gar nichts a priori bestimmen  
können, sondern darum allein die Erfahrung befragen  
müssen. Da diese aber kein Verhältnis der Ursache zur  
 [10]  Wirkung, als zwischen zwey Gegenständen der Erfahrung,  
an die Hand geben kann, hier aber reine Vernunft durch  
bloße Ideen, (die gar keinen Gegenstand für Erfahrung  
abgeben), die Ursache von einer Wirkung, die freylich in  
der Erfahrung liegt, seyn soll, so ist die Erklä-  
 [15]  rung, wie und warum uns die Allgemeinheit der Maxi-  
me als Gesetzes, mithin die Sittlichkeit, intereßire, uns  
Menschen gänzlich unmöglich. So viel ist nur gewiß:  
daß es nicht darum für uns Gültigkeit hat, weil es in-  
tereßirt, (denn das ist Heteronomie und Abhängigkeit  
 [20]  der practischen Vernunft von Sinnlichkeit, nämlich einem  
zum Grunde liegenden Gefühl, wobey sie niemals sittlich  
gesetzgebend seyn könnte), sondern daß es intereßirt, weil  
es für uns als Menschen gilt, da es aus unserem Willen  
als Intelligenz, mithin aus unserem eigentlichen Selbst,  
 [25]  entsprungen ist; was aber zur bloßen Erscheinung  
gehört, wird von der Vernunft nothwendig der Be-  
schaffenheit der Sache an sich selbst untergeordnet.  
    
 
123 [4:460-461]
        

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     Die Frage also: wie ein categorischer Imperativ  
möglich sey, kann zwar so weit beantwortet werden, als  
man die einzige Voraussetzung angeben kann, unter der  
er allein möglich ist, nämlich, die Idee der Freyheit, im-  
 [5]  gleichen als man die Nothwendigkeit dieser Voraussetzung  
einsehen kann, welches zum practischen Gebrauche der  
Vernunft, d. i. zur Ueberzeugung von der Gültigkeit  
dieses Imperativs, mithin auch des sittlichen Gesetzes,  
hinreichend ist, aber wie diese Voraussetzung selbst mög-  
 [10]  lich sey, läßt sich durch keine menschliche Vernunft jemals  
einsehen. Unter Voraussetzung der Freyheit des Willens  
einer Intelligenz aber ist die Autonomie desselben, als  
die formale Bedingung, unter der er allein bestimmt wer-  
den kann, eine nothwendige Folge. Diese Freyheit des  
 [15]  Willens vorauszusetzen, ist auch, nicht allein (ohne in  
Widerspruch mit dem Prinzip der Naturnothwendigkeit  
in der Verknüpfung der Erscheinungen der Sinnenwelt zu  
gerathen), ganz wohl möglich, (wie die speculative  
Philosophie zeigen kann), sondern auch sie practisch, d. i.  
 [20]  in der Idee allen seinen willkührlichen Handlungen, als  
Bedingung, unterzulegen, ist einem vernünftigen Wesen,  
das sich seiner Caussalität durch Vernunft, mithin eines  
Willens, (der von Begierden unterschieden ist), bewust ist,  
ohne weitere Bedingung nothwendig. Wie nun aber  
 [25]  reine Vernunft, ohne andere Triebfedern, die irgend  
woher sonsten genommen seyn mögen, für sich selbst prac-  
tisch seyn, d. i. wie das bloße Prinzip der Allgemein-  
    
 
124 [4:461]
        

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gültigkeit aller ihrer Maximen als Gesetze, (welches  
freylich die Form einer reinen practischen Vernunft seyn  
würde), ohne alle Materie (Gegenstand) des Willens,  
woran man zum voraus irgend ein Interesse nehmen dür-  
 [5]  fe, für sich selbst eine Triebfeder abgeben und ein Inter-  
esse, welches rein moralisch heissen würde, bewirken,  
oder mit anderen Worten: wie reine Vernunft prac-  
tisch seyn könne, das zu erklären, dazu ist alle mensch-  
liche Vernunft gänzlich unvermögend und alle Mühe und  
 [10]  Arbeit, hievon Erklärung zu suchen, ist verlohren.  
     Es ist eben dasselbe, als ob ich zu ergründen suchte,  
wie Freyheit selbst als Caussalität eines Willens möglich  
sey. Denn da verlasse ich den philosophischen Erklärungs-  
grund und habe keinen anderen. Zwar könnte ich nun  
 [15]  in der intelligibelen Welt, die mir noch übrig bleibt, in  
der Welt der Intelligenzen herumschwärmen; aber, ob ich  
gleich davon eine Idee habe, die ihren guten Grund hat,  
so habe ich doch von ihr nicht die mindeste Kenntnis  
und kann auch zu dieser durch alle Bestrebung meines  
 [20]  natürlichen Vernunftvermögens niemals gelangen. Sie  
bedeutet nur ein Etwas, das da übrig bleibt, wenn ich  
alles, was zur Sinnenwelt gehöret, von den Bestim-  
mungsgründen meines Willens ausgeschlossen habe, blos  
um das Prinzip der Bewegursachen aus dem Felde der  
 [25]  Sinnlichkeit einzuschränken, dadurch, daß ich es begrenze  
und zeige, daß es nicht Alles in Allem in sich fasse, son-  
dern daß außer ihm noch mehr sey; dieses Mehrere aber  
    
 
125 [4:461-462]
        

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kenne ich nicht weiter. Von der reinen Vernunft, die  
dieses Ideal denkt, bleibt nach Absonderung aller Mate-  
rie, d. i. Erkenntnis der Obiecte, mir nichts, als die Form  
übrig, nämlich das practische Gesetz der Allgemeingültig-  
 [5]  keit der Maximen, und, diesem gemäß, die Vernunft  
in Beziehung auf eine reine Verstandeswelt als mögliche  
wirkende, d. i. als den Willen bestimmende Ursache, zu  
denken; die Triebfeder muß hier gänzlich fehlen; es müßte  
denn diese Idee einer intelligibelen Welt selbst die Triebfeder,  
 [10]  oder dasjenige seyn, woran die Vernunft ursprünglich  
ein Interesse nähme, welches aber begreiflich zu machen  
gerade die Aufgabe ist, die wir nicht auflösen können.  
     Hier ist nun die oberste Grenze aller moralischen  
Nachforschung, welche aber zu bestimmen, auch schon dar-  
 [15]  um von großer Wichtigkeit ist, damit die Vernunft nicht  
einerseits in der Sinnenwelt, auf eine den Sitten schäd-  
liche Art, nach der obersten Bewegursache und einem be-  
greiflichen aber empirischen Interesse herum suche, anderer  
Seits aber, damit sie auch nicht in dem für sie leeren  
 [20]  Raum transscendenter Begriffe, unter dem Nahmen der  
intelligibelen Welt, kraftlos ihre Flügel schwinge, ohne  
von der Stelle zu kommen und sich unter Hirngespinsten  
verliere. Uebrigens bleibt die Idee einer reinen Verstan-  
deswelt, als eines Ganzen aller Intelligenzen, wozu wir  
 [25]  selbst, als vernünftige Wesen, (obgleich anderer Seits  
zugleich Glieder der Sinnenwelt), gehören, immer eine  
brauchbare und erlaubte Idee zum Behufe eines vernünf-  
    
 
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Grundlegung · Dritter Abschnitt · Erste Auflage 1785
 
tigen Glaubens, wenn gleich alles Wissen an der Grenze  
derselben ein Ende hat, um durch das herrliche Ideal  
eines allgemeinen Reichs der Zwecke an sich selbst, (ver-  
nünftiger Wesen), zu welchen wir nur alsdann als Glie-  
 [5]  der gehören können, wenn wir uns nach Maximen der  
Freyheit, als ob sie Gesetze der Natur wären, sorgfältig  
verhalten, ein lebhaftes Interesse an dem moralischen  
Gesetze in uns zu bewirken.  

Schlußanmerkung.     

  
 [10]       Der speculative Gebrauch der Vernunft, in Anse-  
hung der Natur, führt auf absolute Nothwendigkeit  
irgend einer obersten Ursache der Welt; der practische  
Gebrauch der Vernunft, in Absicht auf die Freyheit,  
führt auch auf absolute Nothwendigkeit, aber nur der  
 [15]  Gesetze der Handlungen eines vernünftigen Wesens,  
als eines solchen. Nun ist es ein wesentliches Prinzip  
alles Gebrauchs unserer Vernunft, ihr Erkenntnis bis zum  
Bewustseyn ihrer Nothwendigkeit zu treiben, (denn  
ohne diese wäre sie nicht Erkenntnis der Vernunft). Es  
 [20]  ist aber auch eine eben so wesentliche Einschränkung  
eben desselben Vernunft, daß sie weder die Nothwen-  
digkeit dessen, was da ist, oder was geschieht, noch des-  
sen, was geschehen soll, einsehen kann, wenn nicht eine  
Bedingung, unter der es da ist, oder geschieht, oder  
 [25]  geschehen soll, zum Grunde gelegt wird. Auf diese Weise  
aber wird durch die beständige Nachfrage nach der Be-  
    
 
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Grundlegung · Dritter Abschnitt · Erste Auflage 1785
 
dingung, die Befriedigung der Vernunft nur immer wei-  
ter aufgeschoben. Daher sucht sie rastlos das Unbedingt-  
nothwendige und sieht sich genöthigt, es anzunehmen, ohne  
irgend ein Mittel, es sich begreiflich zu machen; glücklich  
 [5]  gnug, wenn sie nur den Begriff ausfindig machen kann,  
der sich mit dieser Voraussetzung verträgt. Es ist also  
kein Tadel für unsere Deduction des obersten Prinzips  
der Moralität, sondern ein Vorwurf, den man der  
menschlichen Vernunft überhaupt machen müßte, daß sie  
 [10]  ein unbedingtes practisches Gesetz, (dergleichen der cate-  
gorische Imperativ seyn muß,) seiner absoluten Nothwen-  
digkeit nach nicht begreiflich machen kann; denn, daß sie  
dieses nicht durch eine Bedingung, nämlich vermittelst  
irgend eines zum Grunde gelegten Interesse, thun will,  
 [15]  kann ihr nicht verdacht werden, weil es alsdenn kein mo-  
ralisches, d. i. oberstes Gesetz der Freyheit, seyn würde.  
Und so begreifen wir zwar nicht die practische unbedingte  
Nothwendigkeit des moralischen Imperativs, wir begrei-  
fen aber doch seine Unbegreiflichkeit, welches alles ist,  
 [20]  was billigermaßen von einer Philosophie, die bis zur  
Grenze der menschlichen Vernunft in Prinzipien strebt,  
gefodert werden kann.  
 
 

  
 
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